Friedliche Revolution und 30 Jahre Aufarbeitung

Es ist Zeit, etwas Neues zu wagen

28:34 Minuten
Viele Menschen klatschen und jubel während Trabbis über die Brücke fahren.
Wie soll DDR-Geschichte zukünftig vermittelt werden? Darüber entsteht mehr und mehr eine Debatte. Hier Grenzübergang Glienicker Brücke in Potsdam am 10. November 1989. © akg images
Von Henry Bernhard · 23.06.2021
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1989 brachte die Dynamik der Bürgerbewegung die Mauer und 1990 die DDR zu Fall. Drei Jahrzehnte später ist die Bilanz von Engagement und Aufarbeitung ernüchternd. Die Strukturen sind verbürokratisiert, ein Generationswechsel ist überfällig.
Die zweite Etage war früher die Haftetage. Eine tiefe Decke, die Geräusche schluckt, rechts und links die Zellentüren, je sechs Betten auf engstem Raum, Ölsockel. Die "Andreasstraße" in Erfurt, wo seit Jahren Schülergruppen durchgeführt werden, war bis Ende 1989 eine gefürchtete Adresse: die Untersuchungshaftanstalt der Stasi gleich neben der Stasi-Bezirksverwaltung. Über 6000 politische Häftlinge, Männer wie Frauen, waren hier zwischen 1952 und 1989 inhaftiert.
Nach der Jahrtausendwende sollte das leer stehende Gebäude abgerissen werden. Bürgerrechtler, Zeitzeugen, ehemalige Inhaftierte wehrten sich dagegen, sie wollten den Ort erhalten. Mit Erfolg. Was sie sich wünschten, wie der Ort gestaltet werden sollte: Das sprachen sie in eine Videokamera.
"Ah, ich wünsche mir von der Gedenk- und Bildungsstätte, dass authentische Darstellungen hier rüberkommen, um nicht unglaubhaft zu werden gegenüber der nachfolgenden Generation", sagt Wolf-Dieter Meyer.
"Ich möchte, dass die Geschichte bewahrt wird, und zwar möglichst authentisch mit Zeitzeugen. Und ich möchte, dass in dieser Bildungs- und Gedenkstätte vor allen Dingen Bildungsarbeit gemacht hat", so Barbara Sengewald.

"Mein erster spontaner Wunsch war, als ich das hier gesehen habe, dieses fast stylische Gebäude, das es nun geworden ist, dass man es in seiner schäbigen Originalität hätte erhalten sollen, bis hin zu den Zellen, diese Düsternis, der Geruch nach Bohnerwachs, die abgeblätterte Farbe, diese ganze Hässlichkeit. So wie ich den ersten Eindruck gewonnen habe, ist das ja nur in Teilen erhalten geblieben", meint Harald Lieske.
"Für mich daraus das Wichtige ist, dass Zivilcourage und sozusagen die Angst überwinden in so einem System, auch die Angst vor der vor den Sanktionen, wenn ich mich nicht anpasse, dass das eine Grundlage ist, damit überhaupt ein demokratisches Gemeinwesen funktionieren kann", sagt Matthias Sengewald.
"Ich wünsche mir, dass es nicht einfach zur Selbst-Legitimierung unserer Gesellschaft dient: Wir führen vor, wie entsetzlich dieser Kommunismus war und wie gut wir doch sind. Also diesen Effekt, den bitte ich als Gefahr im Auge zu behalten, sondern eher zu fragen selbstkritisch: Wo ist heute ein persönliches politisches Engagement nötig? Das müsste eigentlich die Frage sein, mit der Leute aus dieser Gedenkstätte rausgehen", ergänzt Heino Falcke.

Grelle Grafiken in ehemaligen Gefängniszellen

Seit 2012 ist die "Andreasstraße" in Erfurt ein Gedenk- und Erinnerungsort, der nicht nur an die Staatssicherheit erinnern soll, sondern auch an den Alltag in der DDR und den Aufbruch 1989. Erzählt von Zeitzeugen, die an Audio- und Videostationen zu Wort kommen, aber auch mit popkulturellen Mitteln wie Comics. Berührende Bildreihen, die von Konflikten erzählen, von Anpassung ans System und Selbstbehauptung. Und über die Folgen, die eine Entscheidung in die eine oder andere Richtung haben konnte. Ein Markenzeichen von Jochen Voit, Leiter des Hauses.
"Wir sind, glaube ich, gerade an dem Punkt, wo die Erinnerungslandschaft sich völlig neu aufstellt. Und das ist rundum positiv."
Jochen Voit ist Leiter des Hauses und steht in der fast schalltoten Straf- und Isolationszelle.
"Ich weiß noch, als wir vor zehn Jahren angefangen haben, hier in Erfurt die Gedenkstätte Andreasstraße zu entwickeln. Da waren wir im Grunde noch Exoten. Da hat man noch geguckt: Was machen denn die da? Die benutzen Comics, grelle Grafik in ehemaligen Gefängniszellen. Darf man das überhaupt? Da gab es viel Skepsis. Ich musste da immer so einem sehr kompetenten Gremium altehrwürdiger Herren die Zwischenergebnisse vortragen.
Das ist heute völlig anders; nicht nur die Gremien der Stiftung Ettersberg sind jünger und weiblicher geworden. Die ganze Erinnerungslandschaft hat sich gewandelt, wo mit den modernen Mitteln des Museums die Geschichte vermittelt wird. Und es geht einfach nicht mehr darum, für die, die dabei gewesen sind, die DDR zu erzählen, sondern für die nächste Generation. Und das ist eigentlich eine wunderbare Entwicklung."
Jochen Voit hat den Gedenk- und Erinnerungsort "Andreasstraße" aufgebaut und geprägt. Er stammt aus Nürnberg und hat sich tief die DDR-Geschichte eingearbeitet.

"Ihr seid Figuren des Übergangs"

"Der Vorteil ist, dass ich in unbeschriebenes Blatt war, als ich hier angefangen habe, dass ich unbefangen rangegangen bin, dass ich auch blöde Fragen stellen konnte, weil ich wusste es ja nicht besser. Meine DDR-Erfahrungen waren ja kümmerlich. Ich war weiter weg als von Frankreich. Und diese Unbedarftheit, die kam mir eigentlich zugute, muss ich sagen. Nachteil ist, dass man mir vielleicht das dann gar nicht zutraut, dass ich der Richtige bin.
Wobei, es hat in all den Jahren eigentlich mir keiner gesagt, dass ich da irgendwie der Falsche bin. Womöglich ist es aber so, wie Ines Geipel mal zu mir sagte: ´Ihr seid Figuren des Übergangs.` Und Ines Geipel meinte mit ´ihr` Leute, die in Ostdeutschland arbeiten, aber eigentlich aus dem Westen kommen, dass die irgendwann den Platz freimachen sollten. Und wenn das so ist, ja, dann, dann würde ich das auch machen. Aber es hat sich noch keiner irgendwie drum gerissen. Ich glaube, dass das an der Ausbildung an den Universitäten auch liegt, das jüngere Leute eben so zahlreich im Bereich DDR-Forschung nicht nachkommen."
Mit dem Nachwuchs von den Universitäten ist es nicht so leicht, denn es gibt in ganz Deutschland schlicht keinen Historiker-Lehrstuhl, der der Geschichte der DDR gewidmet ist.
"Das ist wirklich bitter. Wir haben an den Universitäten oft nur so Feigenblatt-Seminare, wo die DDR halt so nebenbei abgehandelt wird. Das ist wirklich schade. Deswegen eben diese Initiative, die wir jetzt gestartet haben, in die Lehrkräfteausbildung hinein, die Gedenkstätten-Kompetenz zu bringen und auch das Thema deutsch-deutsche Geschichte einfach stark zu machen. Ich glaube, dass an den Universitäten da wirklich Nachholbedarf besteht beim Thema DDR. Aber gut, wir haben auch das Ungleichgewicht in den Medien.
Ich weiß noch, ich bin mal zugeschaltet worden zum WDR, da haben die diskutiert über die Frage: Brauchen Schüler eigentlich Gedenkstättenbesuche? Und da wurde also reflexartig über die Kollegstufen-Fahrt nach Auschwitz erzählt von den Kölner Kolleginnen und ab und zu wurde der Knastologe aus dem Osten, also ich, zugeschaltet, um dann mal eine andere Facette reinzubringen. Aber das war auch nicht in deren Fokus, dass Gedenkstätte eben auch heißen kann, über DDR zu informieren. Das ist auch eine Erkenntnis, die sich nur langsam in Deutschland durchsetzt, dass wir nicht nur in der postfaschistischen, sondern auch in der postkommunistischen Gesellschaft leben."

Leipzig war 1989/90 der beste Ort der Welt

Jochen Voit ist in Bayern in einem linken Elternhaus aufgewachsen, in dem Ernst Busch durch die Zimmer dröhnte. Johannes Beleites dagegen in der Nähe von Halle in einem evangelischen Pfarrhaus. Er engagierte sich in der kirchlichen Umwelt- und Friedensbewegung, wurde von der Stasi überwacht und in einem "Operativen Vorgang" bearbeitet. Das Abitur wurde ihm zunächst verwehrt, dann konnte er es an der Volkshochschule nachholen.
"Danach wollte ich eigentlich Jura studieren, aber das ging dann schon mit Stasi-Zutun erst recht nicht. Und dann kam zum Glück die friedliche Revolution, die ich in Leipzig erlebt hatte. Das war 1989/90 der beste Ort dieser Welt, wo man leben konnte. Und ab Januar 1990 habe ich in Leipzig aktiv die Stasi mit aufgelöst, war dann in dem dortigen Bürgerkomitee zur Stasi-Auflösung Sprecher des Bürgerkomitees, und von diesem Bürgerkomitee aus in Berlin in dem zuständigen Ausschuss der letzten DDR-Volkskammer, den damals Joachim Gauck geleitet hat. Und wir haben das erste Stasi-Unterlagengesetz, was damals die Volkskammer noch verabschiedet hat, zusammengeschrieben."
Das Ergebnis war die Stasi-Unterlagenbehörde, für die er zeitweise auch gearbeitet hat. Aber auch für die Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen.

Eintauchen in den tiefen Sumpf des Westens

"Ja, danach habe ich Jura studiert, in Göttingen und Berlin, und Göttingen war ansonsten für mich eine ganz schwierige Zeit, weil ich kam sozusagen aus der aktiven Revolution. Ich hatte ein Gesetz geschrieben, was mit 98 Prozent der Volkskammer-Stimmen verabschiedet wurde. Und dann kam ich zum Jurastudium und musste irgendwelche für mich damals belanglos scheinende Fälle lösen und Definitionen auswendig lernen. Und das war hart. Und dazu kam dann, dass ich in Göttingen so viele Leute getroffen habe aus dem Westen, die mir die DDR erklären wollten und nie gefragt haben, was ich da erlebt habe. Und insofern war es ein Eintauchen in den tiefen Sumpf des Westens.
Also es war sehr unangenehm, und das Auftauchen begannen mit einem Englischkurs in Edinburgh, wo wir Leute aus der ganzen Welt waren, die mäßig gut oder reichlich schlecht Englisch sprechen konnten. Und wir haben uns gegenseitig gefragt, wo wir herkommen, was wir erlebt haben, und das war wunderschön. Das war irre interessant, also auch, um zum Beispiel die DDR selber zu verarbeiten und ein bisschen einordnen zu können. Wenn ich da mit Leuten aus Indonesien gesprochen habe, hatte ich natürlich teilweise den Eindruck: Ja, okay, wir haben schon eine relativ komfortable Diktatur erlebt. Da ging es in anderen Teilen der Welt anders zur Sache."
Beleites blieb seinem Thema treu, hat zu Stasi-Gefängnissen und DDR-Strafrecht geforscht, die Politik in Sachen Aufarbeitung beraten. Gesetze aber schreibt er nicht mehr mit.
"Ich bin selbstständig, lebe hier auf dem Dorf, bin also einerseits Imker, andererseits mache ich die Geschäftsführung für eine kleine Stiftung, mache ab und an verschiedene kleine Projekte und habe vier Kinder und einen Bauernhof. Und bin glücklich! Weiß nicht, wie man das für den Wessi besser beschreibt. Ich könnte jetzt sagen: Ich bin Projektentwickler …"
Mehrere Säcke mit Zahlen- und Buchstabencodes stehen an eine Wand gelehnt.
16.000 Säcke verborgene Information über die DDR bewahrte die Stasiunterlagenbehörde in Berlin und Magdeburg auf. In großen Papiertüten ist das gesammelt, was Stasi-Mitarbeiter 1989 schnell vernichten wollten. © imago / epd
Dass die Stasi-Unterlagenbehörde nun, nach 30 Jahren, vollständig ins Bundesarchiv überführt wird, findet er folgerichtig. Die dort gültige Sperrfrist für Akten sei nun abgelaufen. Und sein Vertrauen in die Fähigkeit des Bundesarchivs, mit Sonderbeständen umzugehen, ist gewachsen.
"Ich glaube, wenn man es so die Jahrzehnte aufteilt, könnte man sagen: Das erste Jahrzehnt stand die Frage: Was ist passiert? Was hat die Stasi gemacht? Das zweite ein bisschen: Wie hat sie es gemacht, also Methoden und so; das dritte vielleicht – aber das ist schon nicht mehr so intensiv bearbeitet worden – die Farbe: Warum? Und jetzt könnte eigentlich diese Frage kommen: Was hat das mit uns zu tun? Und was hat es mit künftigen Generationen zu tun?
Und wie funktioniert eine Diktatur? Und welche spezielle Rolle hat die Stasi? Und welche hat die Partei? Welche Funktionen haben wirkliche Meinungsfreiheit, wirklicher Diskurs? Warum ist man im Osten zum Beispiel so allergisch auf solche Begriffe wie Political Correctness? Da hat man nämlich keine guten Erfahrungen mit gesammelt. Und da könnten Zeitgeschichtsforschung und Gegenwart sich wirklich gut begegnen und ergänzen."
Damals, 1990, als sie die Stasi-Bezirksverwaltung in Leipzig aufgelöst haben, haben sie innerhalb von vier Wochen eine Ausstellung aufgebaut, mit dem, was sie gefunden hatten und was sie wussten, improvisiert und auf Wellpappe geklebt. Sie bildet die Grundlage der bis heute nahezu unveränderten Ausstellung in der Leipziger "Runden Ecke", am Ort der Stasi-Bezirksverwaltung.
Sie hätte schon vor 25 Jahren erneuert werden müssen, findet Beleites. Mit neuen Erkenntnissen, neuen Formaten, neuen Medien, vor allem aber mit dem Wissen, dass heutigen jungen Besuchern der Kontext fehlt, den die Menschen vor 30 Jahren noch hatten. Dieser enorme Erneuerungsrückstau in Leipzig wird seit Langem beklagt. Johannes Beleites, der selbst im Trägerverein der Ausstellung sitzt, erkennt im Fall der Runden Ecke ein Muster.

Strukturen haben sich verfestigt

"Es gibt über Jahrzehnte jetzt diese Fortsetzung der Aktivisten der ersten Stunde, die wirklich viel geleistet haben und sich große Verdienste erworben haben. Ohne die gäbe es diese ganzen Ausstellungen nicht – oder Gedenkstätten oder Ähnliches. Aber es sind eben oft Leute, die in dieser Richtung nicht ausgebildet sind. Das hat manchmal politische Gründe aus der DDR her noch, dass sie das damals nicht durften, dass ihn dann die richtigen Abschlüsse fehlten. Es hat manchmal damit zu tun, dass sie eben dann in dieser Arbeit so drin waren und dann vielleicht auch gerade mal eine Stelle gefunden haben, wo sie bezahlt wurden.
Dass sie dann auch gesagt haben: ´Naja, wenn ich jetzt zu einem Studium gehe, bin ich da wieder raus. Und ob ich jemals wieder reinkomme, weiß ich auch nicht.` So haben sich da Dinge verfestigt. Und dann eben oft einhergehend mit Strukturen, wo die Leute, die quasi angestellt sind bei ihren Vereinen, gleichzeitig in deren Vorständen sitzen, sodass sie also unkontrolliert eine Machtposition ausgebaut haben, die demokratischen Gepflogenheiten nicht zuträglich ist, und sie dann eben auch ihre Machtposition natürlich bewahren wollen. Und auch da wieder in den Vereinen dafür sorgen, dass ihnen da niemand gefährlich wird. Und das ist eine ungute Sache. Und das kann man in verschiedenen dieser Aufarbeitungsprojekte beobachten oder muss man leider beobachten."
So würden neue Ansätze, neue Diskussionen, neue Herangehensweisen verhindert – und damit auch der Schritt in eine andere Welt, als sie noch in den 90er-Jahren existierte. Die Gründe dafür seien vielfältig und lägen auch in innerdeutschen Machtstrukturen, die nach 1990 entstanden sind und sich verfestigt hätten.
"Die innere Schere, die innere Ausrichtung oft an den westdeutschen Kollegen: Kann ich mich mit denen wirklich messen? Sind die Dinge, die die für Schrott halten, kann ich über die überhaupt noch schreiben, ohne dass die mich auch für Schrott halten? Also so dieses vielleicht so ein bisschen Unterwürfige, was natürlich auch geprägt ist dadurch, dass die eben oft an den entscheidenden Stellen sind. Die können die Verträge unterschreiben oder nicht unterschreiben.
Und so ähnlich haben wir das im Wissenschaftsbereich mit Fördermitteln oder auch im Aufarbeitungsbereich in der Politik mit Fördermitteln, die kommen eben oft von Leuten, wo man sich an eine bestimmte Sichtweise halten sollte. Sonst fließt dann eben nichts. Und letztlich, das hat der Ossi natürlich gelernt, geht es darum, dass das Geld auch fließen muss. Aber mir wäre dann eine Vielfalt immer lieb und vor allen Dingen auch eine Offenheit füreinander und auch für den Meinungsstreit. Und dass man sich wirklich über Meinungen und Ansichten offen streiten kann, ohne gleich persönlich vernichtend zu werden."
Der frühere Bundesbeauftragte der Stasi-Unterlagen-Behörde, Roland Jahn, unterhält sich am 22.09.2014 in Berlin, während einer Buchvorstellung "Fasse Dich Kurz! Wie die Stasi Oppositionelle abhörte", mit dem Autor Ilko-Sascha Kowalczuk. 
Der frühere Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen Roland Jahn zusammen mit dem Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk in Berlin. © picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm
"Westler sind die Profiteure des Umbruchs in der Wissenschaftslandschaft im Osten gewesen, von 1990 bis zum heutigen Tag. Das war in den 90er-Jahren auch so gewollt, auch von mir."
Ilko-Sascha Kowalczuk, Ostberliner, in der DDR erst Baufacharbeiter, dann Pförtner. Abitur an der Abendschule. Ab 1990 Geschichtsstudium an der Humboldt-Universität.
"Ich gehörte zu einer Gruppe von jungen, reformfreudigen Leuten. Wir galten als die Radikalen, und wir wollten auch: Das Alte muss weg, das ist der Sinn von Revolution. Und da Neues noch nicht da war, gab es nur die Alternative, die Position mit Westlern zu besetzen. Was wir nicht ahnten, wir hatten ja auch keine Ahnung: Dass dann nicht nur die Fischer kam, die Kapitäne auf den Booten, sondern die brachten ihre Trawler mit, mit Riesennetzen, den sogenannten Netzwerken. Und in diesen Netzwerken gab es kein Platz für Ostler. Das bestimmte natürlich auch die Diskurs-Grenzen und die Diskurs-Horizonte."

Wissenschaft ist Unterwerfung und Anpassung

Wer in Ilko-Sascha Kowalczuks Arbeitszimmer sitzt, kann schon mal Angst bekommen, von Büchern und Dokumenten erschlagen zu werden. Er ist in einem Forschungsurlaub, zuvor war er Leiter der Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagenbehörde. Kowalczuk gehörte fast allen Gremien an, die sich in den letzten 30 Jahren mit der Geschichte der DDR, der Stasi, der Wiedervereinigung beschäftigt haben. Seine Bücher sind Standardwerke, er war Fachberater für unzählige Filme. Eine wichtige Frage für ihn ist:
"Mit welcher Erfahrung spricht wer warum worüber? In der Wissenschaft ist der Fall ziemlich klar, auch wenn das niemand laut sagt und auch, wenn es niemand hören will: In der Wissenschaft hat nur derjenige etwas zu sagen, der institutionelle Macht hat. Institutionelle Macht hat man, wenn man irgendwo Direktor ist, wenn man ein Lehrstuhlinhaber ist. Das würde so niemand sagen, weil es einer Preisgabe von Wissenschaft gleichkommt.
Das hängt einfach damit zusammen, dass Wissenschaft in Deutschland im hohen Maße ein finanziell prekäres Projekt ist; man ist unglaublich abhängig von Gutachten, von Befürwortung, um die berühmten Drittmittel zu erlangen, weil kaum jemand feste Stellen hat. Und da man nicht weiß, an wen man morgen gerät, ist das ganze Wissenschaftssystem – ich rede jetzt hier nur über die Geschichtswissenschaft und hier nur über die Zeitgeschichte – ein System von Unterwerfung und Anpassung."
Kowalczuk berichtet von einem Buch eines kanadischen Historikers, Ned-Richardson-Little, der an der Universität Erfurt lehrt, unterstützt von der Volkswagen Stiftung. Richardson-Little erklärt in seinem Buch, dass in der DDR nicht etwa die Bürgerrechtler, sondern der SED-Staat die Menschenrechte hochgehalten habe.
"Immerhin bei Cambridge University Press erschienen, also einen der renommiertesten Wissenschaftsverlage Europas. Und dieser Mann, der in Thüringen lehrt und forscht, der nimmt ernst, was nicht mal die Erfinder ernst genommen haben. Also, der stellt ins Zentrum seiner Untersuchung das Komitee für Menschenrechte der DDR – eine reine Propaganda-Einrichtung, die wirklich in der DDR niemand ernst genommen hat, die gewissermaßen eine Erfindung für die westliche Öffentlichkeit waren, für den KSZE-Prozess und so weiter und so fort. Und der konstruiert dort Menschenrechtsdiskurse.
Dazu fällt mir nichts mehr ein! Und dann gibt es eine große Rezension in der Süddeutschen Zeitung darüber, wo dann auch der eine westliche Kollegin aus Jena dem Autor bescheinigt, einen ganz großen Wurf gelandet zu haben. Ja, und wenn man sich dann überlegt: Okay, Universität Jena, Cambridge University Press, Süddeutsche Zeitung – da kann ich als Lieschen Müller nur noch die Waffen strecken und sagen: So what? Wir haben verloren."
Kowalczuk ist verärgert darüber, dass die Kommunismus-Geschichte zu wenig genutzt werde, um aus ihr zu lernen.
"Der Nationalsozialismus, der zählt genuin überall in Deutschland vollkommen richtig zum Kernelement von Geschichtsunterricht, zum Kernelement vom Geschichtsbewusstsein sozusagen. Daran soll auch gar nicht gerüttelt werden. Aber im Falle des Kommunismus glauben ja viele, man hätte hier eine Alternative zur Verfügung gehabt.
Und um das zu beleuchten und das auch sozusagen aufzuklären, braucht man diese historische Betrachtung und diesen Glücksmoment – das ist einer von vielen Unterschieden zum Nationalsozialismus: Der Kommunismus wurde von innen heraus überwunden, und das ist etwas, was einer positiven Identifikationsgeschichte, die jedes Land und vor allen Dingen Europa braucht, guttun würde, wenn das da einen zentralen Stellenwert gibt."

Mit viel Geld an der Gesellschaft vorbeigeredet

Das ist ein erstaunlicher Befund, wenn man bedenkt, wie viel Geld nach 1990 in die Aufarbeitung der SED-Diktatur gesteckt worden ist. Für Kowalczuk ist das Problem, dass auf diese Weise hauptsächlich das Narrativ der Bürgerrechtler verbreitet worden sei.
"Die Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen oder die Stiftung Aufarbeitung SED-Diktatur, die Enquete-Kommission, also da, wo nicht nur Geld dahinter war, sondern auch eine strukturelle Macht, aber wenn man jetzt noch mal so mit ein bisschen Abstand schaut, dann wird man, glaube ich, feststellen müssen, dass die öffentlichen Debatten zwar von diesen Gruppen extrem geprägt waren, auch in der Lautstärke.
Wenn man aber mit dem Modewort nach der Nachhaltigkeit fragt, dann wird man, glaube ich, zu anderen Ergebnissen kommen. Und das hängt, glaube ich, im hohen Maße damit zusammen, dass diejenigen, die diesen Diskurs über die DDR, über den Kommunismus in den letzten drei Jahrzehnten dominiert haben, über diese großen Institutionen, mit dem vielen Geld im hohen Maße – ohne dass ihnen das natürlich bewusst war und ohne dass sie etwas dafür konnten – an der Gesellschaft vorbeigeredet haben."
Erfolgreicher seien jene gewesen, die angenehmere und bequemere Erinnerungs- und Identifikationsangebote machten.
"Opfergeschichten zu hören ist anstrengend und traumatisiert. Dann ist allen klar, dass so eine Identifikation mit den Opfern, mit Leuten, die im Widerstand waren, eigentlich einem nicht wirklich guttut. Die eigene Wurstigkeit führt es einen vor Augen. Man kann sich nicht als Mensch, der damit nichts zu tun hatte, gewissermaßen unmittelbar nach dem Fall eines Systems mit denjenigen identifizieren, die praktisch das ganze Gegenteil von dem erlebt haben, was ich selber getan habe.
Das funktioniert heute mit Hans und Sophie Scholl. Das hat aber 1955 und 1965 nicht funktioniert, solange es praktisch noch die ganzen Zeitzeugen gab. Das funktioniert dann erst in den Generationen, die nicht mehr zu den Erlebnisgenerationen zählten."
Ganz anders sei die Situation in den Gedenkstätten, Gedenkorten, Museen, die sich mit der DDR-Geschichte befassen. Ähnlich wie Johannes Beleites kritisiert Kowalczuk, dass dort heute andere Ansprüche gelten müssten als noch vor 25 Jahren. Artefakte sprächen nicht mehr für sich.
"Diejenigen, die das betrachteten, die also in den 90er-Jahren in diesen Museumsraum kamen, die brachten den Diskurs mit. Die kannten die Sprache. Man konnte gemeinsam lachen über den Beginn eines Witzes, weil man wusste, wie er ausgeht. Aber genau diesen gemeinsamen Erlebnisraum, den gibt es nicht mehr. Und das erfordert dann natürlich eine andere Erklär-Kunst. Ich muss die Leute dort abholen, wo sie stehen. Und das heißt: ein extrem geringes Vorwissen."
Um das zu leisten, müsste eine neue Generation ran, die in der Lage sei, die verkrusteten Strukturen und verstaubten Ausstellungen zu erneuern.
"Letztendlich ist die Aufarbeitungslandschaft auch eine verbürokratisierte Institution oder Struktur. Und da ist es eigentlich nicht förderlich, wenn die Leute alle miteinander irgendwie befreundet sind, oder waren oder sich irgendwie kannten, oder womöglich mittlerweile alle verfeindet sind miteinander. Und mit ´neuer Generation` meine ich also auch wirklich Leute, die jetzt nicht 15 Jahre vor der Rente stehen, sondern die irgendwie, was von Mitte 30 bis Anfang 40 oder so sind."

Auch die Diktatur konnte Heimat sein

"Naja …"
Uta Bretschneider gehört dieser neuen Generation an. Sie ist seit einem Jahr Direktorin des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig, einer Außenstelle des Bonner Hauses der Geschichte. Hier wird die Geschichte der DDR erzählt – vom Anfang bis über ihr Ende hinaus.
"Ich bin halt in der DDR in den Kindergarten gegangen, erinnere mich noch an Puddingsuppe mit Zwieback zum Beispiel, an zusammen aufs Klo gehen und an Mittagsruhe auf so ganz schlimmen bunten Liegen, die so Spann-Federn an der Seite hatten. Ich erinnere mich aber sehr bewusst an die frühen 90er-Jahre, da ist meine Mutter mit mir nach Berlin gezogen, und das war noch die Zeit, als die Reste der Mauer abgebaut wurden.
Und als dann die Souvenirhändler da irgendwelche Mauerstücke verkauften und die Zeit, als das Tacheles noch ganz wild war und die Zeit der besetzten Häuser. Und das habe ich natürlich bewusster erlebt als die DDR. Ich glaube, meine Familie war froh und dankbar, dass es die neuen Möglichkeiten gab. Meine Mutter hat dann in Paris studiert unter anderem. Mein Vater lebt heute in der Toskana, also alles Sachen, die ohne das Ende der DDR undenkbar gewesen wären."
Uta Bretschneider ist 36, sie stammt aus Sachsen, sie ist Kulturwissenschaftlerin und nicht Historikerin – und hat damit einen anderen Blick auf die Geschichte. Sie will die DDR in vielen bunten Grautönen zwischen Schwarz und Weiß erzählen.
"Ich denke, dass es wichtig ist, die DDR sicher als Diktatur darzustellen, aber eben auch die Diktatur als Heimat wahrzunehmen und als ein Raum, in dem lebenswertes Leben stattfinden konnte durchaus und das nicht komplett zu diskreditieren. Mich interessiert vor allem das Erzählen über, also so eine Erinnerungsgeschichte der DDR, nicht so sehr harte Politikgeschichte, sondern das, was die Akteurinnen und Akteure in ganz unterschiedlichen Lebenslagen erlebt haben, was sie erinnern, was heute weitergegeben wird, das finde ich total spannend."
Die Ausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig ist erst drei Jahre alt – und bietet deshalb für eine neue Direktorin wenig Möglichkeiten, grundlegend Neues zu gestalten.
"Na ja, ich habe als erste Veränderungen in der Dauerausstellung in der Ecke, wo es um ´Das Leben der Anderen` und die ´Bornholmer Straße` geht, es waren ausschließlich Filme und Bücher von männlichen Regisseuren und Autoren präsentiert. Und da habe ich Manja Präkels und Regina Scheer eingebracht. Und wir haben ja in den letzten Jahren auch hier viele Formate gehabt, wenn ich da so in die Dokumentation gucke, wo einfach fünf Männer auf dem Podium saßen; das wird es unter mir nicht mehr geben.
Ich denke auch, dass das neue Konzept des Ausstellungsgeländes hoffentlich auch so realisiert werden kann, dass wir auch Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die wir in der Ausstellung schon kennengelernt haben, am Ende noch mal wiedersehen und die dann noch mal fragen: Wie ist es dir denn seit ´89 ergangen? Was ist denn danach passiert? Aber wirklich auch nicht nur dezidiert Frauen, sondern tatsächlich auch die Familien von vietnamesischen Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeitern oder ähnliche Menschen mit einbeziehen. Da habe ich große Lust, dass wir da ganz viel vielstimmiger werden noch."
Der Blick auf die DDR verändert und weitet sich. Der Streit der 90er-Jahre um die Frage, ob die Beschäftigung mit DDR-Alltag ein Verrat an der einzig legitimen Diktaturforschung sei, ist vorbei. Zur DDR-Geschichte gehört selbstverständlich, was die Menschen erlebt und wie sie es erlebt haben – und, was danach geschah: die Zeit der Treuhand, der Transformation, der Arbeitslosigkeit, der westlichen Dominanz.

"Die Leute haben sich angebrüllt"

"Und wir müssen einfach aushalten, dass es eben ganz vielstimmig ist, das Erinnern an die DDR. Und man muss einfach gucken, wer spricht und wer ist laut und wer ist leise? Und ich glaube auch mit den Projekten, diese Zeitzeuginnen- und Zeitzeugenprojekte, da kommen auch die zu Wort, die eher leise sind und die ja nicht diese dominierende Rolle in den Diskursen spielen. Und das ist wichtig.
Und ich finde, dafür sind Museen natürlich auch gute Orte, um diese Alltagskomponente ins Gespräch zu bringen, die beim Politischen oft unberücksichtigt bleibt und auch Dinge wertzuschätzen, die eben in den 90er-Jahren eine starke Entwertung erfahren haben. Und ich denke aber, da gibt es eben über die letzten Jahrzehnte viele Missverständnisse, viele Verletzungen und viele Grenzen des Sagbaren, die eben jetzt mit neuen Generationen, überwunden werden können. Und wo man noch mal anders ins Gespräch kommen kann."
Zeitgeschichte ist für Uta Bretschneider in Leipzig ebenso wie für Jochen Voit in Erfurt eine Geschichte, die noch raucht. Sie sollten nicht in den Devotionalienkammern der Revolution verstauben.
"Eine meiner letzten Präsenzveranstaltungen in der Andreasstraße bei Jochen Voigt, da habe ich moderiert, da ging es um die Umstrukturierung der ostdeutschen Landwirtschaft. Wer hätte gedacht, dass da über 100 Leute in Erfurt – in Erfurt! – in einer Stadt zusammenkommen?! Wer hätte gedacht, dass sie sich da fast geprügelt haben? ´Nein, das sagen Sie ganz falsch!` Und: ´Nein, das war doch ganz anders und viel schlimmer!` Und die haben sich echt angebrüllt, die Leute. Und eigentlich das ist ja genau das, wo es auch Spaß macht und herausfordert. Aber diesen Haufen dann wieder zu zähmen, war gar nicht so ohne!"

Autor und Sprecher: Henry Bernhard
Ton: Hermann Leppich
Regie: Stefanie Lazai
Redaktion: Winfried Sträter

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