Friederike Mayröcker: "fleurs"

"ich will nicht sterben"

Eine Hyazinthe
"... Hyazinthen, Gauklerblumen, Lupinen, Carolinenrosen …….. ach wie lieblicher Film vor meinem Auge", schreibt Mayröcker in "fleurs". © picture alliance / dpa / Hinrich Bäsemann
Von André Hatting · 15.04.2016
Sie schreibe, um nicht verrückt zu werden, hat die österreichische Autorin Friederike Mayröcker einmal gesagt. Ihr Notizband "fleurs" vermittelt das Gefühl, die 91-Jährige schreibe mittlerweile um ihr Leben. Es ist vor allem ein Buch für treue Mayröckerfans.
1814 schreibt Ludwig van Beethoven in sein Tagebuch: "Schuhbürsten zum Abputzen, wenn Jemand kommt", in Brechts Notizbuch aus dem Jahr 1930 stehen die Worte "7 minuten sitzbad ganz heiß", und 2015 notiert Friederike Mayröcker in "fleurs": "Tatiana wollte mir die Nackenhaare rasieren". Der Blick ins Intimste von Künstlern hat immer etwas Janusköpfiges. Zum einen bedient er den Voyeurismus, wir wähnen uns ganz nah dran am Leben der Genies. Zum anderen liefert er oft nur Alltagsbanalität.

Tagesnotizen - zur Veröffentlichung bestimmt

Mayröckers Tagesnotizen unterscheiden sich in einem wichtigen Punkt von denen Beethovens und Brechts. Sie sind zur Veröffentlichung bestimmt, sie wollen das Publikum. Nach "études" und "cahier" lädt die Wiener Schriftstellerin uns zum dritten Mal ein, an ihrem ganz unmittelbaren Denk- und Schreibprozess teilzuhaben. Der ist bei der Österreicherin gleichursprünglich. Sie schreibe, um nicht verrückt zu werden, hat Mayröcker einmal gesagt. "fleurs" vermittelt das Gefühl, die 91-Jährige schreibe mittlerweile um ihr Leben:
"ich will nicht sterben"
"ich will nicht ich kann nicht Abschied nehmen von mir, usw."
"am Ende wird man sich fragen: soll das alles gewesen sein?".
Die österreichische Schrifstellerin Friederike Mayröcker im Oktober 2014
Die österreichische Schrifstellerin Friederike Mayröcker im Oktober 2014© imago/SKATA
Ihre Notizen beginnen im März 2014 und enden im Mai des darauffolgenden Jahres. Radikaler als in allen ihren Werken zuvor gibt sich Friederike Mayröcker hier ihren Assoziationen hin, den "Verbalträumen". Menschen, Begegnungen, Erinnerungen, Musik, Kunst, Literatur sind dabei die Trigger. Was sie auslösen, trifft die Autorin oft so heftig, dass sie geradezu erschüttert "diese halluzinatorischen Stücke von Poesie" festzuhalten sucht. Syntax, Interpunktion und Orthografie folgen einer eigenen Logik. Oft brechen die Sätze unvermittelt ab oder werden ineinander geschoben wie Holzkeile.
Ernst Jandl, Jacques Derrida und Deinzendorf sind in "fleurs" die wichtigsten Vektoren. An ihnen richtet die Autorin immer wieder ihre Gedanken aus und auf. Der 2000 verstorbene, langjährige Lebensgefährte Jandl dient als Adressat vieler Anrufungen, zärtlicher, trauriger, mitunter sogar verzweifelter. Derridas Buch "Glas" ist der zweite Begleiter, und das seit sechseinhalb Jahren, wie Mayröcker schreibt:
"wenn ich in GLAS lese, empfange ich einen Text, den ich selber gern geschrieben hätte."

Mayröckers "poetischer Wahnsinn"

Kindheitserinnerungen an den Sehnsuchtsort Deinzendorf, ".D", schließlich spenden Trost und Kraft:
"damals in D. auf der Schwelle zum Sommerhaus 1000 Schwertlilien, Malven, Ringelblumen, Veilchen, Hyazinthen, Gauklerblumen, Lupinen, Carolinenrosen …….. ach wie lieblicher Film vor meinem Auge,"
Friederike Mayröcker gehört seit Jahrzehnten zu den Autoren von Weltruf. Vor allem für Forschung und Kritik. Viele Leser hatte die Österreicherin dagegen nie. "fleurs" wird daran nichts ändern. Es ist in erster Linie ein Buch für treue Mayröckerfans. Die belohnt die Schriftstellerin in "fleurs" immer wieder mit ihrem so überraschenden wie inspirierenden "poetischen Wahnsinn".

Friederike Mayröcker: fleurs
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016
152 Seiten, 22,95 Euro

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