Friedenspreis für Amartya Sen

Eine Auszeichnung für den Einsatz gegen soziale Ungerechtigkeit

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Amartya Sen schaut lächelnd auf einen Stuhl gelehnt in die Kamera.
Der indische Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2020 © laif / contrasto / laif
Von René Aguigah · 17.06.2020
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Globale Gerechtigkeit ist das Kernthema des mit dem Friedenspreis ausgezeichneten Wissenschaftlers. Amartya Sen einen würdigen Friedenspreisträger zu nennen, wäre eine Untertreibung, denn im Fall von Sen beehren sich Preis und Preisträger wechselseitig.
Amartya Sen umweht etwas Aristokratisches. Freundlich, lächelnd, geduldig, bescheiden, weise und gelehrt trat er auf, als er vor ein paar Jahren bei der Frankfurter Buchmesse vortrug und Fragen beantwortete. Er gehört zu einem kleinen Milieu von Intellektuellen, die ihr Leben lang interdisziplinär und international auf höchstem Niveau arbeiten.

Hochdekorierter Wissenschaftler

Geboren ist er auf einem Campus in Indien, wie er selbst sagt. Sein Vater war Professor für Chemie. Studiert hat er in Kalkutta und Cambridge in England. Zu seinen Stationen als Wissenschaftler zählen die London School of Economics, Standford und Harvard. Zu den Preisen, mit denen er seit Jahrzehnten ausgezeichnet wird, zählt der Wirtschaftsnobelpreis von 1998. Jetzt kommt der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels dazu. Ihn einen würdigen Preisträger zu nennen, wäre untertrieben. Im Fall von Amartya Sens Auszeichnung beehren sich Preis und Preisträger wechselseitig.

Hunger und Gewalt als prägende Erfahrungen

Das Indien, in das Amartya Sen 1933 geboren wurde, hatte sich von der britischen Kolonialmacht noch nicht befreit. In seine Kindheit fallen Ereignisse wie die Hungersnot in Bengalen 1943 oder die gewaltvolle Teilung des Landes 1947. Es ist auf den ersten Blick zu sehen, dass diese beiden Daten Sen nicht losgelassen haben.
Hungersnöte, Armut und soziale Ungleichheit zählen zu den Grundproblemen, um die das Werk des Wirtschaftswissenschaftlers kreist. Dass seine Disziplin, die Ökonomie, in ihren klassischen Strömungen davon ausgeht, dass der Mensch im Prinzip eigennützig handele oder rein rational, zählt zu den Grundannahmen, gegen die er sich früh gewendet hat. Der "Human Development Index", die international anerkannte Rangliste der Entwicklung der Länder dieser Erde, die auch Faktoren wie etwa den Bildungsgrad berücksichtigt, verdankt sich auch Sens Anstößen.
Ethische Überlegungen waren schon immer Teil der Arbeit dieses Wirtschaftswissenschaftlers; erst im fortgeschrittenen Alter allerdings hat er ganze Bücher vorgelegt, die ins kulturphilosophische Regal passen. "Die Identitätsfalle" (2006/07) heißt das markanteste seiner philosophierenden Bücher. Der Grundgedanke: Wir sind immer schon Teil ganz unterschiedlicher sozialer oder kultureller Zusammenhänge und tragen unterschiedliche Identitäten in uns.

Soziale Vielfalt begreifen

"Was mich betrifft", schreibt Amartya Sen, "so kann ich mich zur gleichen Zeit bezeichnen als Asiaten, Bürger Indiens, Bengalen mit bangladeshischen Vorfahren, Einwohner der Vereinigten Staaten oder Englands, Ökonomen, Dilettanten auf philosophischem Gebiet, Autor, Sanskritisten, entschiedenen Anhänger des Laizismus und der Demokratie, Mann, Feministen, Heterosexuellen, Verfechter der Rechte von Schwulen und Lesben, Menschen mit einem areligiösen Lebensstil und hinduistischer Vorgeschichte, Nicht-Brahmanen und Ungläubigen, was das Leben nach dem Tod (und, falls es jemanden interessiert, auch ein 'Leben vor der Geburt') angeht. Dies ist nur eine kleine Auswahl".
Diese eindrucksvolle Liste von Merkmalen seiner selbst mag mit dazu geführt haben, dass gelegentlich kritisiert wurde, aus ihm spreche eine globalisierte Elite. Aber sitzen die unterschiedlichen Rollen, die wir spielen – Mutter, Arbeiterin, Tänzerin, Geliebte usw. – nicht tatsächlich so tief, dass es einer Reduktion gleichkommen würde, wenn man nur "den Deutschen", "den Muslim" oder "den Mann" adressieren würde? Eine Reduktion, die Sen in letzter Konsequenz für potentiell Gewalt bringend hält.
Freiheit, die nicht zur Abschaffung von Steuern oder Tempolimits karikiert wäre, Gerechtigkeit, die kein Etatismus wäre, Identität, die nicht ohne Plural gedacht würde: Es gibt genügend aktuelle Debatten, für die die Lektüre dieses lebenden Klassikers lohnt.

Das vollständige Gespräch mit René Aguigah zum Friedenspreis könne Sie hier hören:
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