Fremdschämen als Mode

"Ich kenne auch ein paar Leute, die sich da fremdgeschämt haben", sagt Psychologe Paulus.
"Ich kenne auch ein paar Leute, die sich da fremdgeschämt haben", sagt Psychologe Paulus. © picture alliance / dpa
Frieder Paulus im Gespräch mit André Hatting · 15.04.2011
Frieder Paulus, Psychologe an der Universität Marburg, sieht einen Grund für die Mode des Begriffs Fremdschämens darin, dass viele Missgeschicke einem großem Publikum vorgestellt werden – und erklärt, welche Rolle in diesem Zusammenhang der Auftritt von Moderatorin Monica Lierhaus bei der Goldenen Kamera gespielt hat.
André Hatting: Das Gefühl ist uralt, aber erst seit zwei Jahren hat der Duden ein Wort dafür: Fremdschämen. Das kennt jeder, zum Beispiel, wenn der Chef mit offener Hose vor einem steht, dieses Malheur selber nicht bemerkt und unbeirrt sehr ernste Dinge verkündet.

Frieder Paulus ist Psychologe an der Universität Marburg. Er hat mit seinem Kollegen Sören Krach das Fremdschämen jetzt wissenschaftlich untersucht. Die Studie ist in dieser Woche veröffentlicht worden und jetzt ist Frieder Paulus am Telefon. Guten Morgen, Herr Paulus.

Frieder Paulus: Guten Morgen, Herr Hatting.

Hatting: Herr Paulus, warum ist der Begriff des Fremdschämens eigentlich erst in letzter Zeit in Mode gekommen?

Paulus: Das ist eine gute Frage. Wir haben uns die Frage auch schon öfters gestellt, und wir vermuten, dass es damit zu tun hat, dass heute sehr viele Teile des Privatlebens auch öffentlich werden können, das heißt, dass viele Missgeschicke oder auch vielleicht nicht unbedingt Missgeschicke, sondern Details einem großen Publikum vorgestellt werden, und da auch viele Betrachter dabei sind, die vielleicht nicht damit übereinstimmen, dass das angemessen ist, was man da gerade sieht, und sich dementsprechend fremdschämen können.

Hatting: Wir haben bei uns in der Redaktion nach Beispielen gesucht für Fremdschämen, das war gar nicht so leicht, denn wir haben festgestellt, dass das ganz unterschiedlich wahrgenommen werden kann. Ich will mal ein Beispiel geben, und zwar den Auftritt von Monica Lierhaus bei der Goldenen Kamera.

Die Fernsehmoderatorin hat ja nach langer Krankheit erstmals wieder im Rampenlicht gestanden, und sie hat diesen Moment genutzt, um ihrem Lebensgefährten live einen Heiratsantrag zu machen. Ich persönlich habe mich fremdgeschämt, aber es gab andere, die hatten Mitleid, und wieder andere fanden die Szene rührend und ergreifend. Herr Paulus, woran liegt das, dass wir uns verschieden oft und verschieden stark fremdschämen?

Paulus: Gerade die Situation, die wird wahrscheinlich sehr unterschiedlich aufgenommen. Ich kenne auch ein paar Leute, die sich da fremdgeschämt haben, die wirklich gesagt haben, Mann, das tut ja weh, wenn man sich das anschaut. Und ich selbst habe es gesehen und hatte, glaube ich, auch sehr viele unterschiedliche Emotionen während dieser ganzen Szene.

Warum sich Leute so darin unterscheiden, für welche Situation sie sich fremdschämen, kann damit zu tun haben, dass sie auch unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was angemessen ist und was etwa nicht angemessen ist in so einem Kontext. Eine Person, die sagt, okay, so einen Heiratsantrag macht man auf gar keinen Fall öffentlich, die denkt vielleicht in dem Moment, das geht jetzt echt ein bisschen zu weit, und man hat dann dieses Gefühl des Fremdschämens.

Eine andere Person, die das vielleicht gar nicht als so schlimm empfindet, hat dann dementsprechend auch kein Fremdschämen. Es gibt so eine Anekdote, wo, ich glaube, jemand einen Heiratsantrag machen wollte in einem Fußballstadion. Der ist dann nackt mit so Engelsflügeln überm Rücken, wenn ich es nicht komplett falsch verstanden habe, über den Platz gerannt, und das hatte die Konsequenz, dass die Frau, der er da einen Antrag machen wollte, letztendlich gesagt hat, das war mir so peinlich, dich da herumlaufen zu sehen, dass sie den Antrag abgelehnt hat.

Hatting: Das ist dann die ganz krasse Form des Fremdschämens. Haben Sie diese Unterschiede in der Bewertung der Situation auch bei Ihrer Studie, bei den Testpersonen Ihrer Studie festgestellt?

Paulus: Ja. Das haben wir jetzt aber noch nicht ausgewertet. Wir wissen aber, dass Personen sich generell sehr stark unterscheiden darin, was sie als angemessen bewerten oder was nicht. Wir haben eine Vielzahl von Situationen in unsere Studie eingeschlossen, die im Mittel tatsächlich dazu führten, dass in einer Stichprobe Fremdschämen ausgelöst wurde. Aber die Personen unterscheiden sich sehr stark.

Was wir aber finden konnten ist, dass Personen, die von sich aus sagen, dass sie sich als empathischer einschätzen, das heißt, sich in ihre Freunde öfters hineinversetzen, um zu verstehen, was sie fühlen, oder auch eher das Gefühl von Romanfiguren nachempfinden können, wenn sie ein Buch lesen, dass die Leute sich öfters oder auch vielleicht stärker fremdschämen, und das auch in Situationen, wo die Person im Fokus vielleicht gerade gar nichts fühlt.

Hatting: Sie haben für Ihre Studie ungefähr 600 Probanden untersucht. Was genau haben Sie da gemacht, um Fremdschämen zu messen?

Paulus: Das ist eigentlich ein relativ standardisiertes Verfahren. Wir haben uns Situationen ausgedacht, eine Vielzahl von Situation, über 100 Stück, die solche Normverletzungen in der Öffentlichkeit zeigen können. Dabei war uns wichtig, dass das Verhalten immer in der Öffentlichkeit stattfindet. Das heißt, da ist eine Person im Fokus dieser Situation, und es stehen 20, vielleicht 15, vielleicht mal 8 Personen dabei, die das potenziell sehen könnten, was da passiert. Diese Vielzahl von Situationen haben wir Probanden vorgelegt und die sollten dann einfach sagen, okay, für die Situation schäme ich mich fremd, oder für die Situation schäme ich mich weniger fremd.

Hatting: Können Sie ein Beispiel für so eine Situation geben?

Paulus: Eine Situation wäre zum Beispiel, dass man mit einem offenen Hosenstall durch die Fußgängerzone geht, oder dass einem in der Öffentlichkeit vielleicht die Hose platzt beim Bücken, und es gibt sogar Leute, wir haben die vorgelegt, die haben gesagt, ja, das ist mir tatsächlich schon mal passiert, und haben sich dementsprechend auch noch ein bisschen verstärkt fremdgeschämt.

Hatting: Um das zu messen, dieses Fremdschämen, also um zu checken, ob da irgendwie im Gehirn was passiert, haben Sie die Versuchspersonen sozusagen dann noch einmal genauer untersucht. Was genau haben Sie gemacht?

Paulus: In einer anderen Stichprobe haben wir 32 Leute eingeladen zu uns hier an die Klinik für Psychiatrie und ans Zentrum für Nervenheilkunde. Die haben sich dann in den Scanner gelegt und haben sich dann verschiedene Situationen relativ lange angeschaut.

Wir haben dann geguckt, was ist im Gehirn, welche Bereiche sind aktiv, welche Netzwerke sind involviert, wenn man jemand dabei beobachtet, wie er in der Öffentlichkeit solch eine Norm verletzt. Da war es für uns interessant, dass da Areale oder Bereiche im Gehirn beteiligt waren, die typischerweise auch aktiviert sind, wenn man jemanden dabei beobachtet, wie er sich selbst zum Beispiel gerade verletzt, also sich vielleicht mit einem Messer in die Hand schneidet.

Hatting: Also Fremdschämen kann durchaus schmerzhaft sein. Gibt es eigentlich einen messbaren Unterschied, eine messbare Abgrenzung zur Schadenfreude, weil das ist ja manchmal sehr nahe beieinander?

Paulus: Das ist eine wirklich sehr gute Frage, und wir glauben auch, dass das ein ganz, ganz fließender Übergang sein kann, dass man vielleicht Schadenfreude empfindet oder sich fremdschämt. Man muss es aber von der Schadenfreude abtrennen, denn Schadenfreude ist ja eher so dieses sich über die Person stellen und sich über die Situation oder die Person lustig machen, wo hingegen Fremdschämen eher damit zu tun hat, sich in die Situation hineinzuversetzen. Das sind verschiedene Prozesse, die auch zum Teil im Gehirn in unterschiedlichen Arealen oder Strukturen zu messen sind.

Das heißt, so eine Aktivierung, die aufgrund von Schadenfreude entsteht, ist eher im Belohnungszentrum zu suchen, wo hingegen diese Fremdscham oder empathisches Mitfühlen, diese Emotion oder diese Aktivierung findet man in Netzwerken, die nicht unbedingt da zu finden sind. Von diesem Standpunkt aus könnte man schon bei uns aussagen, dass das Belohnungssystem nicht involviert ist oder wenigstens nicht zu sehen ist.

Hatting: Anders als die Areale, die für Schmerz zum Beispiel zuständig sind. Wofür können Sie diese Untersuchungsergebnisse verwenden? Wozu dienen die?

Paulus: Wir versuchen, uns ein bisschen genauer anzuschauen, wie diese Prozesse entstehen, oder wie diese Prozesse dazu beitragen, dass wir so ein Gefühl, was ja schon faszinierend ist, wie Fremdscham erleben können. Dass Menschen überhaupt in der Lage sind, Fremdscham zu empfinden, ist ja ein faszinierender Befund.

Und wenn man die Wissenschaft sich anschaut, dann gibt es sehr, sehr viele Studien dazu, zu solchen Basisemotionen wie Ärger, wie Furcht oder wie Freude. Aber zu solchen Emotionen wie Schuld, Scham, Peinlichkeit, oder auch Stolz gibt es relativ wenig Untersuchungen, und dabei ist Fremdscham ein Schritt und vielleicht auch nur ein kleiner Stein darin zu verstehen wie solche Emotionen, die ja sehr wichtig sind in unserem Alltag, wie die im Hirn tatsächlich vermittelt werden.

Hatting: Und dazu haben Sie jetzt einen Beitrag geleistet, gemeinsam mit Ihrem Kollegen Sören Krach. Das war Frieder Paulus, er ist Psychologe an der Universität Marburg. Mit ihm sprachen wir über seine Studie zum Thema Fremdschämen. Herr Paulus, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Paulus: Vielen Dank, Herr Hatting.