Freistaat Bayern

Spitzenreiter bei der Bürgerbeteiligung

Teilnehmer der 26. "Gamsbartolympiade" stehen am 14.10.2012 in Mittenwald (Bayern) vor der Kulisse des Karwendelgebirges mit Gamsbärten der Königsklasse.
Immer öfter schauen die Bayern ganz genau hin, was vor ihrer Haustür passiert. © picture-alliance/ dpa/ Frank Leonhardt
Von Susanne Lettenbauer · 22.12.2016
In Bayern reden bei politischen Entscheidungen so viele Bürger mit wie in keinem anderen Bundesland: Fast ein Viertel aller Volksentscheide in Deutschland wurden in der jüngeren Vergangenheit im Freistaat abgehalten. Doch die Bürgerbeteiligung hat auch ihre Tücken.
In Bayern reden bei politischen Entscheidungen so viele Bürger mit wie in keinem anderen Bundesland: Fast ein Viertel aller Volksentscheide in Deutschland wurden in der jüngeren Vergangenheit im Freistaat abgehalten. – Woher rührt Bayerns Faible für die direkte Demokratie?
"Hallo, wollen Sie hier unterschreiben?"
Tollwood-Festival auf der Münchner Theresienwiese. Franziska Bär hält eine Klemmmappe in den Händen, geht lächelnd auf vorbeilaufende Menschen zu. Die einen schauen verwundert und laufen weiter, andere hören der jungen Frau zu. Es ist ein kalter, aber sonniger Wochentag im Dezember, die bunten Zelte rund herum locken mit exotischem Bio-Essen, mit selbst gefertigtem Schmuck und mit Ideen für ausgefallene Weihnachtsgeschenke.
"Wir haben angefangen am 23. November mit dem Tollwood-Start, da war auch die Auftaktpresseaktion und wir sammeln bis zum 23. Dezember. Wenn das Tollwood vorbei ist, werden wir an anderen Orten in der Stadt sammeln, das wird auch immer ganz aktuell auf unserer Homepage bekannt gegeben luft-reinheitsgebot.de, und man kann sich natürlich auch immer online Unterschriftenlisten runterladen für die, die es aktiv gestalten wollen."
Der Stand der Münchner Umweltorganisation Green City liegt ein wenig versteckt zwischen den unterschiedlichen Tollwood-Buden. Man muss schon ein wenig danach suchen. Seit 14 Uhr wartet Franziska Bär mit einer weiteren Helferin neben den zwei Hochtischen auf Bürger, die sich in die Listen eintragen. Bis 23 Uhr sammeln sie jeden Tag Unterschriften für das Bürgerbegehren "Sauba sog i". Informationsmaterial liegt aus, in Kartons am Boden wartet Nachschubmaterial.
"Hallo wollen Sie auch unterschreiben?"
Seit fast einem Monat läuft jetzt die Unterschriftenaktion für das Bürgerbegehren gegen die Luftverschmutzung in München. Und es läuft gut. Nach Stuttgart ist die bayerische Landeshauptstadt am stärksten betroffen von hoher Feinstaubbelastung, vor allem am Mittleren Ring und an der Landshuter Allee. Dort schieben sich tagtäglich zu den Stoßzeiten Autolawinen langsam voran.
Aber auch in der Innenstadt am Stachus und dem benachbarten Altstadtring werden Stickstoffdioxidbelastungen gemessen, die weit über den gesetzlichen Grenzwerten liegen. Gerade in der kalten Jahreszeit. Das wissen die Bürger, und das macht sich auch bei der Unterschriftensammlung bemerkbar, meint Franziska Bär:
"Es läuft total gut, wir sammeln um die 400 Unterschriften am Tag, und die Stimmung ist allgemein sehr, sehr positiv. Ich habe das Gefühl, dass die meisten Leute auch die Relevanz verstehen, und dass die meisten Leute auch verstehen, dass es an der Zeit ist, etwas zu verändern. Viele bedanken sich auch zum Beispiel. Viele bedanken sich fürs Engagement und sagen, oh Gott, super dass ihr das macht und dafür auch hier in der Kälte steht. Viele fragen, wie sie weiter unterstützen können, sie wollen aktiv Listen mitnehmen, und die in der Arbeit auslegen, das kommt auch ganz oft. Also, die sind ganz oft proaktiv dabei, um das weiter zu verbreiten."

"Wir wollen ein rechtlich verbindliches Mittel"

Das Problem mit der Feinstaubbelastung ist seit Jahren bekannt. Die Stadt München ist bereits zwei Mal verklagt worden, sagt Andreas Schuster als Initiator bei Green City. Getan hat sich nichts. Man wollte nicht dagegen vorgehen mit Demonstrationen vor dem Rathaus genau in der Adventszeit oder mit Petitionen, die irgendwann im Petitionsausschuss behandelt werden. Jetzt setzt man auf das Instrument des Bürgerbegehrens:
"Wir haben ja auch Workshops mit Bürgerinnen und Bürgern gemacht und da war ganz klar: Wir wollen jetzt keine Petition starten, wir wollen jetzt die Leute nicht informieren, weil es die meisten Menschen schon wissen, dass die Luft nicht sauber ist und dass man was machen muss. Wir wollen ein rechtlich verbindliches Mittel, um der Stadt auch sagen zu können: Deine Bürgerinnen und Bürger wollen, dass sich was zur sauberen Luft ändert."
"Ich finde das gut, ich finde es wichtig, dass man was tut für eine bessere Luft in der Stadt. Soviel unnötiger Autoverkehr in der Innenstadt, der gehört da nicht hin. Also ich schätze mal, dass die Hälfte Parksuchverkehr ist."
"Wir brauchen gute, frische Luft auch in der Stadt und da muss sich die Stadt überlegen, was sie da macht. Entweder zu gewissen Zeiten die Autos draußen lassen, wie es in Paris gemacht wurde, weil die Luft gerade im Winter auch so schlecht ist, also ich bin schon dafür und finde toll, dass die das machen."
Zwei Studentinnen interessieren sich am Tollwoodstand von Green City für das Bürgerbegehren, doch sie wohnen außerhalb der Stadt und können nicht unterschreiben. Dickbedruckt hängt ein Zettel mit Postleitzahlen an der wackligen Außenwand des Standes, eine wichtige Regelung bei Bürgerbegehren, darauf weist Franziska die Studentinnen hin:
"Genau, wir haben den Postleitzahlenbereich – ich kann Ihnen den gerade mal zeigen – genau von der 80331 bis zu 81929, die dürfen unterschreiben. Und Kriterium ist außerdem, dass sie 18 sind und ihren Hauptwohnsitz hier gemeldet haben. Jeder EU-Bürger, der seinen Erstwohnsitz in München hat und über 18 ist. Das sind eigentlich die gleichen Kriterien wie bei der Wahlberechtigung."
Um erfolgreich zu sein, müssen die Helfer von Green City 32.000 Unterschriften sammeln, das gesetzliche Quorum von drei Prozent der Einwohnerzahl. Danach müsste der Stadtrat über die Zulässigkeit des Begehrens entscheiden. Drei, spätestens sechs Monate später käme es zum Bürgerentscheid, der gesetzlich bindend ist. Vorausgesetzt es stimmen genügend Bürger zu.
Längst nicht alle der rund 100 Bürgerbegehren pro Jahr in Bayern sind auch erfolgreich, weiß "Sauba sog i"–Initiator Andreas Schuster. Von der Wirksamkeit ist er trotzdem überzeugt:
"Also aus meiner Sicht ist das Bürgerbegehren ein sehr starkes Instrumentarium, das man da an die Hand bekommt, um wirklich lenkend eingreifen zu können. Es heißt immer so schön, ein Bürgerbegehren soll eigentlich jeder Bürger mit normaler Bildung starten können."
Je nach Größe der Gemeinde variiert das Quorum, also die Zahl der notwendigen Unterstützer, in Bayern. Zehn Prozent bei Gemeinden mit bis zu 10.000 Einwohnern, drei Prozent bei Kommunen mit über 500.000 Einwohnern. 1995 bei der Verabschiedung der Gesetzesvorlage gab es diese Einschränkung noch nicht, sie wurde erst durch ein Urteil des Bayerischen Verfassungsgerichts als Hürde festgelegt – auf Betreiben der CSU-Staatsregierung.
Die geforderten 32.000 Stimmen werden sie auf jeden Fall bekommen, ist Franziska auf dem Tollwood überzeugt. Ihr Ziel sind rund 40.000 Unterschriften, auch wenn es um der Deutschen liebstes Kind, das Auto, geht:
"Viele haben ein Auto und sagen, ich lasse mir doch nicht mein Auto wegnehmen. Wir sagen dann: Darum geht es uns ja gar nicht. Es geht nicht darum, Fahrverbote einzuführen. Das wäre nämlich genau das, was passieren würde, wenn es das Bürgerbegehren nicht gibt und die Stadt weiter nichts macht. Dann werden einfach Fahrverbote verhängt und dann darf zum Beispiel sonntags gar keiner mehr Auto fahren. Wir wollen stattdessen eine Verkehrswende in dem Sinne vorantreiben, dass es proaktiv wird, dass mehr Möglichkeiten geboten werden durch den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, durch den Ausbau der Radinfrastruktur. Dass der Münchner lieber in die U-Bahn steigt als ins Auto, weil er sagt, ist eh schneller und bequemer."

Entscheidungshilfe oder Blockadeinstrument?

Bürgerbegehren als Ideengeber, Initiator, als Entscheidungshilfe, wenn sich die Politik festgefahren hat? Oder ist es doch eher ein Blockadeinstrument von Protestbürgern, wie bei der deutlichen Ablehnung eines Großschlachthofs in Aschheim bei München? Wenn die Bürger gegen den Umbau der Stadthalle Bayreuth votieren, gegen neue Fahrzeiten der Busse in Lindau, gegen den Abriss der Spielarena in Bad Wiessee am Tegernsee oder sich tatsächlich "gegen die Installation eines versenkbaren Pollers zur Regulierung der Zufahrt in der Fußgängerzone" von Garching aussprechen.
Wie reagieren die Kommunen darauf?
Die Stadt München bekommt die Lust des Bürgers an Mitbestimmung derzeit mehrfach zu spüren: Seit Ende 2015 werden auch für das Bürgerbegehren "Raus aus der Steinkohle" Unterschriften gesammelt. Vielen Münchnern sei gar nicht bekannt, so der Initiator, die Ökologische Demokratische Partei ÖDP, dass die Stadtwerke München das Heizkraftwerk "HKW München Nord Block 2" noch bis 2035 mit Steinkohle betreiben wollten.
München werde zu über 40 Prozent mit klimaschädlichem Kohlestrom und Kohlewärme versorgt, lautet die Kritik. Die Forderung des Bürgerbegehrens: Ein Ausstieg Münchens aus der Steinkohle bereits 2022.
Ein erster Erfolg: Im Januar 2016 hatte es kurz nach dem Start der Unterschriftensammlung ein Geheimtreffen zwischen den Stadtwerken München und der ÖDP gegeben – der ÖDP, die 2010 auch für das Nichtrauchervolksbegehren verantwortlich gewesen war. Das Bürgerbegehren hatte gewirkt. Innerhalb von drei Wochen lagen die ersten 5.000 Unterschriften vor. Die Stadtwerke fühlten sich unter Druck gesetzt.
Ein Zugeständnis: Unter anderem sollte das Gutachten zur Laufzeit des Kraftwerks neu berechnet werden. Man hätte das Bürgerbegehren sogar einstellen wollen, bei einer Einigung, hieß es damals. Ein durchaus übliches Vorgehen in Bayern, wenn dadurch die Forderung des Bürgers erledigt ist.
Seitdem dümpelt das Bürgerbegehren aber vor sich hin, muss Initiator Thomas Prudlo zugeben. Bis Sommer 2016 sollten die notwendigen 32.000 Stimmen beisammen sein. Stand Mitte November: 24.000. Jetzt rechnet die ehrenamtlichen Sammler mit Mitte 2017. Es zieht sich.
"Wir müssen halt einfach sammeln, wir tun das alles ehrenamtlich und wir haben bisher rund 7000 Euro verbraucht für das Bürgerbegehren. Daran, an dieser kleinen Zahl sieht man, dass wir eben alles ehrenamtlich tun neben Kindern, Beruf und Familie. Das sind ja immer Gespräche mit Argumenten, mit Zuhören. Da braucht man manchmal für eine Unterschrift eine Viertelstunde oder 20 Minuten und das ist dann auch gut und ist auch sinnvoll. Da ist überhaupt keine Müdigkeit, da ist auch keine Erschöpfungstendenz. Also die Münchner können sich darauf freuen, die größte Klimamaßnahme hier in München im nächsten Jahr zu beschließen. Das wird ganz sicher kommen."
Noch ist das eine nicht abgeschlossen, das zweite noch mitten drin, da dräut bereits ein weiteres, ein drittes Bürgerbegehren in München Titel: "Gegen die Bebauung von Grünflächen". Aufgrund der desaströsen Wohnungsknappheit plant die Stadt, wo immer es geht, nachzuverdichten, auch am Rand von Parks und auf Grünflächen werden Möglichkeiten geprüft. Die Bürgerinitiative dagegen gibt es bereits. Jetzt folgt das Bürgerbegehren. Sollten alle drei Initiativen erfolgreich sein, muss man im Rathaus sowohl über die Verkehrspolitik, die Klimapolitik wie auch Wohnungsbaupolitik neu diskutieren. – Oberbürgermeister Dieter Reiter, SPD, wägt ab:
"Genau, wir haben gerade drei Bürgerbegehren. Aber ich will das gar nicht kritisieren, ich denke schon, das ist ein wesentlicher Fortschritt der Politik der jüngeren Zeit, dass das Thema Bürgerbeteiligung etwas intensiver und auch ernster genommen wird. Wenn Sie zwanzig Jahre zurückschauen, waren das eher Einzelfälle."
Während Oberbürgermeister Reiter nachvollziehen kann, dass Bürger gegen Luftverschmutzung und gegen Steinkohlekraftwerke sind, positioniert er sich beim Thema Grünflächenbebauung sehr deutlich. Bürger könnten bereits öffentlich die Bebauungspläne einsehen in München, könnten dort Einwände geltend machen. Es gehe ja nicht um den Englischen Garten oder ausgewiesene Parkanlagen. Beim Wohnungsbau will sich Münchens Oberbürgermeister ungern reinreden lassen. Bei Bürgerbegehren dürfe es nicht um lokale Einzelinteressen von wenigen gehen, kritisiert er. Direkte Demokratie kann auch missbraucht werden:
"Ganz ehrlich, da drängt sich ab und zu der Verdacht auf, dass die Bürger das gern missverstehen, insbesondere wenn es um sehr lokal begrenzte Interessen geht. Ob man einen lokal begrenzten Fleck in der Stadt bebaut oder nicht bebaut, dass mag vor Ort eine relative Mehrheit finden, die sagen, das machen wir nicht, gesamtstädtisch gesehen ist es aber vielleicht sinnvoll und notwendig. Da muss man dann sagen, wir hören Euch, wir nehmen gern die Fakten und Einwände auf, würdigen die auch, erklären dann aber vielleicht auch, warum wir es dann nicht umsetzen."
Augsburg, Rathausplatz. 2016 war auch in Münchens Nachbarstadt das Jahr der Bürgerbegehren. Drei Mal wurde dazu aufgerufen, seine Stimme abzugeben, drei Mal scheiterte man.
Die Initiatorin Anna Tabak warb für gleich zwei Bürgerbegehren: "Keine Grundsteuer-Erhöhungen in Augsburg" und "Keine Gewerbesteuererhöhung in Augsburg". Im März waren die Grundsteuer und Gewerbesteuer vom Stadtrat massiv erhöht worden, zum Teil über die der Landeshauptstadt München.
"An den Ständen waren die Leute interessiert, sie haben viele Fragen gestellt. Was mir aufgefallen ist, dass bei den Themen, die wir angesprochen haben, also Grund- und Gewerbesteuererhöhung, viele Leute gar nicht wussten, dass das entschieden worden ist und viele auch nicht verstanden haben, was das für sie genau bedeutet."

Bürger schauen genau hin, was sie unterschreiben

Rund 10.000 Stimmen hätten sie und ihre vier Mitstreiter vom Bündnis Wir sind Augsburg WSA benötigt. Doch die Bürger schauen sehr genau hin, was sie unterschreiben sollen und ob sie es verstehen. Gerade die Vielzahl der Bürgerbegehren in Bayern und konkret in Augsburg sensibilisiere die Wähler, sagt Peter Grab, ehemaliger Kulturreferent Augsburgs und Stadtrat für WSA. Deshalb befürworte er auch, trotz vieler Differenzen, den CSU-Vorschlag für bundesweite Volksbegehren.
Direkte Demokratie, Volksbeteiligung habe er in seiner Zeit als 3. Bürgermeister in Augsburg nicht als störend empfunden, sagt der Kommunalpolitiker in einem Café am Augsburger Rathausplatz. Es sei auch eine Form der Mobilisierung für jene, die bei Landtags- oder Bundestagswahlen gar nicht mehr zur Wahl gingen:
"Zu meiner Zeit als Bürgermeister, Kultur- und Sportreferent gab es auch Bürgerbegehren – ich sage nur, das alte Stadtbad, ich empfand es nicht als lästig. Es machte natürlich mehr Arbeit, weil, man muss argumentieren und vieles mehr und letztendlich war dieses Bürgerbegehren auch erfolgreich, so dass eine politische Entscheidung daraufhin auch angepasst werden musste."
In Bayern ist sehr klar geregelt, worüber Bürger abstimmen dürfen und worüber nicht. Das Erfolgsgeheimnis der vielen Bürgerbegehren? Nahezu alle kommunalen Themen können abgefragt werden – und das überwiegend erfolgreich, im Unterschied zu anderen Bundesländern, sagt Susanne Socher vom Münchner Büro des bundesweiten Vereins Mehr Demokratie:
"Es sind sehr, sehr viele Themen möglich. Man kann fast sagen alles, was im Gemeinderat entschieden wird, kann auch Inhalt von einem Bürgerbegehren sein. Da gibt es natürlich Ausnahmen wie jetzt Personalentscheidungen oder die, die man nicht mit einem Bürgerbegehren angehen kann, aber ansonsten ist eine sehr breite Anwendungsmöglichkeit gegeben. Und die Hürden, also die Quoren, die man braucht sind moderat, die sind anwendbar, und das ist in anderen Bundesländern zum Teil nicht, da sind die zu hoch, da sind viele Themen ausgeschlossen, und dann kommt es natürlich zu weniger Verfahren."
Entgegen anderer Annahmen hätten Populisten in Bayern nur sehr wenige Möglichkeiten, die Bevölkerung für oder gegen etwas aufzuwiegeln. Je mehr Bürgerbegehren abgehalten würden, umso vertrauter und weniger manipulierbar gingen die Menschen damit um, meint der Augsburger Stadtrat Grab:
"Also auf der einen Seite scheint Bayern ja keine schlechte Erfahrung zu haben, zumindest ist das System noch nicht zusammengebrochen, obwohl Bayern die liberalste Gesetzgebung zum Bürgerbegehren hat. Also, ich glaube, wir haben keine Inflation und ich glaube, dass der Bürger sehr wohl mündig ist, durchaus im Übrigen auch mit medialer Begleitung, die ja alle Für und Wider durchkaut in der Zeit des Bürgerbegehrens und des späteren Bürgerentscheids. Also der Bürger ist mündig genug zu durchschauen, inwieweit ein Bürgerbegehren tatsächlich der Sache wegen gemacht wird oder vielleicht missbraucht wird aus politischen oder sonstigen Erwägungen."

Ratsbegehren zum Ausbau eines Skigebietes

"Wir sind zuallererst einmal froh über die hohe Wahlbeteiligung von 72,9 Prozent. Wir haben 68,7 Prozent Ja-Stimmen und demzufolge 31,7 Nein-Stimmen."
"In Balderschwang sind 173 Bürger zur Wahl gegangen, das sind 65,8 Prozent. Gültige Stimmen 173, Ja-Stimmen 147, ergibt 85 Prozent Ja."
Mitte September im Oberallgäu. Die Bürgermeister der zwei kleinen Gemeinden Obermaiselstein und Balderschwang, Peter Stehle und Konrad Kienle, halten an einem Sonntagnachmittag ein deutliches Votum ihrer Bürger in den Händen: Mehr als die Hälfte ihrer rund 1 125 Bürger haben sich in einem Ratsbegehren - ein Bürgerbegehren, dass vom Gemeinderat initiiert wird - für den Ausbau des örtlichen Skigebietes ausgesprochen. Man konnte die Bürger mobilisieren, freuen sich die Bürgermeister. Demokratiemüdigkeit? Keine Spur:
"Ich meine, ich persönlich bin eine alte Frau, ich gehe da nicht mehr Skifahren, aber ich würde es der Gemeinde vergönnen irgendwie. Man muss doch, trotz allem Naturschutz, man kann doch nicht immer nur im Kuhstall sitzen mit einer Kuh. So geht das heutzutage nicht mehr."
"Als Wanderer weiß ich nicht genau, da kann ich es mir noch nicht ganz vorstellen. Als Skifahrer finde ich es, glaube ich, ganz gut. Und sonst finde ich das eigentlich nicht wirklich so schlimm, wenn man nach Österreich geht, ist das viel, viel schlimmer."

Seit den 70er-Jahren wird um den Ausbau des Skigebietes gerungen. Gemeinden und Liftbetreiber sind seit jeher dafür. Naturschützer dagegen. Das bayerische Umweltministerium sprach sich ebenfalls immer dagegen aus. Das Finanzministerium auch. Nur das Wirtschaftsministerium wurde zuletzt ungeduldig.
Riedberger Horn bei Obermaiselstein (Bayern) 
Das Skigebiet am Riedberger Horn bei Obermaiselstein (Bayern) soll ausgebaut werden. Dafür hat eine Mehrheit der Anwohner gestimmt. © picture alliance/dpa/Foto: Karl-Josef Hildenbrand
Warum also nicht die Bürger selbst fragen, so Bayerns Landesherr Horst Seehofer im Frühsommer 2016. Der Bürger solle an der Wahlurne sein Kreuz machen, ob er den Ausbau tatsächlich möchte oder nicht. Und die zwei Gemeinden stimmten dem zu, obwohl Bürgermeister Stehle heute sagt:
"Ich glaube mir schon zuzutrauen, wenn wir jetzt eine Entscheidung treffen im Gemeinderat, die dem Bürger nicht gefällt, dass ich dann ein, zwei Tage später die Rückmeldung auf dem Tisch habe. Also, auf größere Kommunen übertragen ist das schon sinnvoll, wo diese Stimmung schwer auszumachen ist, aber bei uns, da brauche ich nur zum nächsten Stammtisch zu gehen, dann weiß ich eigentlich schon die Stimmungslage."

Vorwurf der Scheindemokratie

Drei Monate später. Die Pläne liegen immer noch in den Schubladen. Mittlerweile ist es Winter, der erste Schnee liegt, die Skilifte laufen. Und die Bürger warten auf den Baubeginn des mehrheitlich beschlossenen Skigebietsverbundes. Finanzminister Markus Söder jongliert auf der Landkarte mit Flächen hin und her, die er als Ausgleich anbieten will. Und Naturschützer sprechen von Scheindemokratie, der die Wähler aufgesessen seien am Riedberger Horn, von einem Missbrauch der Bürgerbeteiligung.
Denn: Ein Ausbau des Skigebietes würde gegen nationale wie auch internationale Gesetze verstoßen. Der bayerische Alpenplan zum Beispiel, ein Gesetz von 1972, gliedert die Bergregionen des Freistaates in streng geschützte, sogenannte C- und weniger streng geschützte, sogenannte B- und A-Regionen. Nicht nur im Oberallgäu würden das Gemeinden längst ändern wollen. In A- und B-Regionen darf gebaut werden, in C-Regionen hingegen nicht. Das Ausbauprojekt am Riedberger Horn liegt im C-Bereich. Außerdem greift die europäische Vogelschutzrichtlinie wegen des streng geschützten Birkhuhns, das hier noch vorkommt.
Die geplante Verbindung der zwei bestehenden Skilifte würde also durch die am strengsten geschützte Schutzzone C des bayerischen Alpenplanes verlaufen. Nur durch eine Gesetzesänderung könnte man das ändern. Doch kann man ein unverbindliches Ratsbegehren mit nur 1125 Bürgern aus dem Oberallgäu abhalten, das eine Gesetzesänderung, in diesem Fall des Alpenplanes, für ganz Bayern, also für 12,8 Millionen bayerische Bürger zur Folge hat? Und was, wenn diese dagegen wären? Dann käme ein landesweites Volksbegehren in Betracht.
Nur wen interessiert in Unter- oder Mittelfranken das Skigebiet von Balderschwang? Stehen hier, ähnlich wie beim Kampf gegen die Bebauung von Grünflächen in München, lokale Einzelinteressen über bayerischen und europäischen Interessen? Trotzdem habe man zum Ratsbegehren gedrängt, wundert sich Michael Finger vom Bund Naturschutz in Oberstorf:
"Es ist eine Bürgerbefragung, die ja noch immer nicht das Problem der rechtlichen Grundlagen löst, die man dann jetzt in München hat. Ich weiß auch nicht genau, ob München da vorher nicht geahnt hat, was sie damit tun, denn sie geben den Menschen Hoffnungen, die so rein rechtlich nicht bestehen."
Der Allgäuer Landwirt Leopold Herz ist als Landtagsabgeordnete der Freien Wähler im Wahlkreis Sonthofen-Lindau direkt mit den betroffenen Bürgern im Gespräch. Das Vorgehen der CSU-Staatsregierung empfindet er als befremdlich:
"Wir hatten hier in München von der Opposition das Gefühl und den Eindruck, die Staatsregierung hat selbst keine Meinung und will dann den schwarzen Peter an die Menschen vor Ort weitergeben. Und wenn sich dieses Gefühl verfestigt – ein weiterer Grund für Politikverdrossenheit."
Haben die Bürger also vergeblich abgestimmt? Sind sie vergebens ins Gemeindehaus gefahren und haben ihr Kreuz gemacht? Damit die CSU-Staatsregierung sich volksnah geben kann?
"Nein, es passiert ja was. Das wäre ja ein Missverständnis der Bevölkerung, wenn man mit so einer Abstimmung sicherstellen könnte, dass bestehendes Recht, dass alle Regeln, alle Verfahrensvorgaben außer Funktion gesetzt werden. Nein. Also: Abfrage des Willens, der Versuch, dem Willen zu entsprechen mit offenem Ausgang. Die Staatsregierung versucht das hinzukriegen und auf diesem Weg befinden wir uns gerade."
Staatskanzleichef Marcel Huber bestreitet, dass man den Bürgern Hoffnung machen wollte mit dem Ratsbegehren. Es sei eine Bürgerbefragung gewesen, gewissermaßen unverbindlich.
"Nein, Stimmungsbild ist da nicht der richtige Ausdruck, sondern man greift wirklich ab: Was wollen die Menschen? Und wer Politiker ist, versucht, den Willen der Menschen umzusetzen. Auch bei schwierigen Fragen, bei denen auch die Meinung der Bevölkerung geteilt ist, insbesondere dann, wenn es für beide Seiten gute Argumente gibt, sollte man sich ein Bild davon machen, wie denn die Mehrheitsverhältnisse zu diesen Themen in der Bevölkerung sind."

Bürgerentscheid gegen eine dritte Startbahn

In Attaching, nur wenige hundert Meter vom Zaun des Münchner Flughafens entfernt, zerbrechen sich die Einwohner die Köpfe. 2012 hatte die Münchner Bevölkerung in einem Bürgerentscheid gegen eine dritte Startbahn gestimmt. Der Ausbau sei vom Tisch, dachte man. Vor einigen Wochen dann die laute Überlegung von Ministerpräsident Horst Seehofer, man könne ja nochmal ein Bürgerbegehren zur dritten Startbahn abhalten, schließlich sei der Zahl der Flugbewegungen gestiegen, und das Ergebnis eines Bürgerentscheides sei rechtlich nur ein Jahr gültig.
"Rein formell ist das möglich, dass nach einem Jahr wieder eine andere Entscheidung getroffen werden kann."
Sagt Susanne Socher vom Verein Mehr Demokratie:
"Das kann auch der Stadtrat machen, da braucht es keinen neuen Bürgerentscheid dazu. Also auch der Stadtrat könnte sich jetzt neu positionieren und dann wäre der Bürgerentscheid hinfällig, dann wäre eine andere Entscheidung da."
Zehntausende von Unterschriften, gesammelt auf dem Tollwood bei Kälte, sortiert, begutachtet, abgegeben bei der der Stadt – und nach ein zwei Jahren erfolgreichem Bürgerentscheid gilt das Ergebnis nur ein Jahr? Franz Schindler, der Vorsitzende vom Rechtsausschuss des Bayerischen Landtags kennt diesen Schwachpunkt im Gesetz. Man sei dabei, das zu ändern:
"Darüber wird nachgedacht, ich finde das auch grundsätzlich richtig, diese kurze Bindungsfrist zu verlängern. Andererseits muss man auch folgendes sehen: Auch wenn rein rechtlich gesehen ein Bürgerentscheid nur ein Jahr die Stadtverwaltung, den Oberbürgermeister, den Landrat bindet, traut sich doch kein Landrat, kein Oberbürgermeister, auch nach Ablauf eines Jahres das Gegenteil dessen zu beschließen, was die Bürgerschaft wollte."
Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter bestätigt, dass er ein Bürgerbegehren auch über das gesetzlich festgelegte Jahr hinaus als bindend ansieht. So habe man sich mit der Staatsregierung geeinigt.
"Es braucht dazu natürlich Argumente und Fakten und wenn ich die nicht habe, habe ich überhaupt kein Interesse daran, die Münchnerinnen und Münchner zu behelligen und zu sagen, stimmt doch noch mal ab. Ein weiteres noch: Es wird keine dritte Abstimmung mehr geben. Also ich habe nicht vor, die Münchnerinnen und Münchner so oft zu fragen, bis – wegen Urlaub oder schlechtem Wetter oder schönem Wetter – das passende Ergebnis rauskommt, das habe ich immer klar gesagt, das habe ich auch der Staatsregierung gesagt: Also wir werden noch einmal fragen, aber dann nicht mehr. Dann ist das Thema dritte Startbahn, zumindest solange ich was zu sagen habe in der Stadt, gegessen."
Eine "Vorherrschaft von Berufsquerulanten" und die ständige Blockade von Wirtschaftsprojekten befürchtete die Staatsregierung 1995, als das Gesetz zum kommunalen Bürgerentscheid per – man höre – Volksentscheid beschlossen wurde. Seitdem hat sich viel geändert. Bürgerentscheide gehören zur direkten Demokratie in Bayern ganz selbstverständlich dazu.
Mittlerweile berät sogar der damals schärfste Gegner, Ex-Ministerpräsident Günter Beckstein, andere Bundesländer und europäische Staaten, wie Bürgerbegehren so funktionieren. Entscheidungen auf kommunaler Ebene, das überlässt die Staatsregierung gern den Bürgern. Auf Landesebene sieht man das eher skeptisch. Aber Bürgerentscheide sind ein Erfolgsmodell. Und viele Menschen in Bayern sind sich sicher: Das würde auch bundesweit funktionieren.
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