Freie Kunstszene

"The bestest" in Edinburgh

Ein Mitglied des Circus of Horrors zeigt seine Nummer, als die Edinburgh Fringe Parade am 4.8.2002 durch Edinburgh zieht.
Ein Mitglied des Circus of Horrors bei der Edinburgh Fringe Parade im Jahr 2002. © picture alliance / dpa / epa PA Cheskin
Von Ulrich Fischer · 14.08.2014
Das Edinburgher Fringe ist die Mutter aller Fringes, aller Festivals Freier Gruppen, laut Veranstalter "the bestest", also "das Besteste". Hier würden die kühnsten Vorstellungen der Zuschauer noch übertroffen, verspricht Fringe-Außenminister Neil McMackinnon.
Das Fringe ist als Festival offen für alle. Auch deutsche Gruppen können teilnehmen, aber das Fringe stellt hohe Anforderungen. Neil Mackinnon, eine Art Außenminister des Fringe, rät dringend, sich sorgfältig vorzubereiten, um Enttäuschungen zu vermeiden. Vielleicht sollte man, ehe man auftritt, erst einmal nach Edinburgh kommen, um das Fringe kennen zu lernen, zu beobachten, zu analysieren. Fast hört sich Macinnon an, als wolle er warnen.
Frank Wurzinger ist einer von vielen, der sich nicht abschrecken lässt. Wurzinger sieht mit seinen großen Augen, seinen wuscheligen Haaren und seiner sprechenden Mimik, seiner lebhaften Gestik aus, wie man sich einen jungen Künstler vorstellt. Er stammt aus dem Großraum München, ist 36 Jahre alt und lebt seit langem in London. Sein neues Programm nennt Wurzinger "Goodbye Günther":
"Irgendwo finde ich dunkle Seiten oft lustiger als Gags, als Witze. In diesem neuen Programm geht's um Günther Obermeier, ich hab ihn extra als Deutschen hergenommen weil ich diesen deutschen Akzent noch habe. Der erfährt gerade, dass er noch zehn Tage zu leben hat von seinem Doktor. Es geht um die letzten zehn Tage in seinem Leben ..."
Wurzingers Stück ist höchst originell, der Humor ausgefallen, sein Spiel streift immer wieder das Subtile. Aber ist es klug, sich mit so einem sensiblen Programm nach Edinburgh zu begeben, in Wettbewerb mit dem Schrillen zu treten?
"Ich glaub, dieses Stück, das ich gemacht hab, ist ein typisches Fringe-Stück. Es ist so ein bisschen über eine Stunde lang und es ist für mich eine wunderbare Gelegenheit, das Stück zu spielen. Und ich sehe so richtig, wie es sich verändert über die letzten acht, neun Tage, die wir jetzt schon hier waren.
Es ist eine wunderbare Atmosphäre, ich sehe hier viele andere Stücke, qualitativ gut, dieses Jahr vor allem. Und einfach spielen zu können ist wunderbar, einfach so. Meine eigene Arbeit. Ich denke, es gefällt dem Publikum so, was ich mitkriege, aber es ist natürlich auch ein großes Risiko, auch finanziell, hier hochzukommen. Sehr viel Investitionen von Gedanken und Energie reingesteckt. Trotzdem macht es großen Spaß. Ja, dieser Zwiespalt."
Zahlreiche Künstler konnten hier den Grund für ihren Durchbruch auch in seriöseren Fächern legen. Für dieses Jahr gibt es ein glänzendes Beispiel. Rona Munro, eine schottische Dramatikerin, hat als Küken im Fringe begonnen. Jetzt ist sie im International Festival gelandet: Ihre Trilogie über schottische Könige im 15. Jahrhundert eröffnete des Edinburgh International Festival 2014 und geht anschließend nach London, ans Royal National Theatre, das Flaggschiff britischer Bühnen. Ein Dramatikerinnentraum.
Keller-Aufführungen künftiger Meister
Das Fringe mit seinem überbordenden Angebot erscheint dem Besucher vom Kontinent nur zu Anfang wie ein undurchdringlicher Dschungel. Die Organisatoren haben ihre Website gut aufgebaut. Eine zweite Orientierungshilfe sind die Tageszeitungen: Sie bringen viele kleine, kurze Kritiken, Preise werden verliehen. Oder der Besucher baut auf das gute Glück: geht spazieren, flaniert zum Beispiel im Universitätsviertel, und findet dort ein Angebot neben dem anderen, viele Schauspieler, die in einer Spielpause in Maske und Kostüm mit einem Werbezettel auf sich aufmerksam machen. Wenn der Theaterfreund Glück hat, sitzt er in einem Keller und kann dort sehen, wie künftige Meister des 21. Jahrhunderts ihre ersten Schritte tun.
Das Fringe hat in Edinburgh sein Hauptquartier im Universitätsviertel. Dort residiert Neil Mackinnon, Head of External Affairs, und gibt bereitwillig und kenntnisreich Auskunft:
"Das Fringe begann 1947. Nach dem Ende des 2. Weltkriegs gab es eine Bewegung von Kunstmanagern aus ganz Europa, um Leute zu Kulturereignissen zusammenzubringen. Sie entschieden sich für ein Festival, das europäische Kunst feiern sollte. Sie suchten nach einem Ort, suchten in Paris, Wien, London, entschieden sich schließlich aber für Edinburgh, weil Edinburgh ohne große Bombardements überlebt hatte.
Die Infrastruktur war also noch in Ordnung. Und Die Impresarios begannen, Künstler und Gruppen einzuladen. Es gab acht Companies, die sich darüber ärgerten, nicht eingeladen worden zu sein. Und die entschieden sich, zu kommen, auch wenn sie nicht eingeladen worden waren. Das war die Geburtsstunde des Fringe.
Von dem Tag an ist es das wichtigste Prinzip des Fringe, dass jeder kommen kann. Das ist das Entscheidende. Denn das Fringe wurde gegründet und ins Leben gerufen von Leuten, die nicht eingeladen worden waren. Es macht keinen Sinn, hier irgendwelche Grenzen zu ziehen."
Clowns, Stand-up Comedians, bilden einen großen Anteil des Programms, aber es gibt noch viele andere Sparten: Musicals, Opern, Tanz und natürlich Freies Schauspiel. Wer sich vor allem für neue englischsprachige Stücke interessiert, findet eine erstklassige Anlaufstelle im Traverse Theatre. Es ist für Schottland, was die Berliner Schaubühne für die Bundesrepublik repräsentiert, eine Bühne fürs Zeitgenössische.
Das Traverse bietet ein eigenes Festival im Festival an, es ist in diesem Jahr wieder hochkarätig, zum Beispiel "Spoiling" von John McCann ist ein Meisterwerk, nicht mehr und nicht weniger: ein Kleinod. "Spoiling" ist schwer zu übersetzen, vielleicht trifft es "Verderben" in der ganzen Bandbreite des Wortes am Besten.
Gags in Rekord-Schnelligkeit
Englischsprachige Zuschauer fordern von ihren Dramatikern Humor. Wenn es in den ersten drei Minuten keinen Lacher gibt, werden sie ungeduldig. John McCann bringt das Publikum zum Lachen, noch ehe das erste Wort gefallen ist, nach rekordverdächtigen 7,7345 Sekunden:
(Gelächter) "Shit! Paul, is that you? It's open."
Auf der bügelbrettgroßen Bühne im ausverkauften Kellergeschoss vom Traverse liegt ein Haufen Papier in einem Büro vor einem Schreibtisch mit Sessel. Als es klingelt, bewegt sich der Haufen und eine Frau steckt verschlafen den Kopf aus dem zerknüllten Papier. Sie flucht: "Shit!" - und wird sich wenig später als designierte Außenministerin Schottlands erweisen. Das Referendum hatte Erfolg, Schottland spaltet sich ab - und braucht jetzt natürlich einen neuen Außenminister - in diesem Fall eine Außenministerin, Fiona.
Die Exposition ist handwerklich und dramatisch ein Meisterstück. Der Papierhaufen besteht aus zerknüllten Din-A4-Seiten, vor allem verworfene Notizen für die Antrittsrede der frischgebackenen Außenministerin.
Es ist ein Stück über Authentizität und Persönlichkeit im Politischen. Es gibt in diesem Zweipersonenstück, das keine Stunde dauert, viel Spielwitz, vor allem aber viel Tiefgang. Was bedeutet es, in der Politik wie im Leben, die Freiheit zu bewahren, den eigenen Raum?
Ein politisches, ein philosophisches Stück, feministisch und national, europäisch, progressiv und unterhaltsam. Tiefschürfend! John McCann ist ein vielversprechender junger Dramatiker, er hat an Workshops namhafter Bühnen teilgenommen, sein Talent wird wahrgenommen. McCann ist Ire. Wie George Bernard Shaw. Und Samuel Beckett.
Es gibt gute Gründe, nach Edinburgh zum Fringe zu fahren – Neil McMackinnon, der Außenminister vom Fringe, fasst sie überzeugend zusammen:
"Ich kann hundertprozent garantieren, es gibt etwas für jeden, und dass Sie eine Vorstellung finden werden, die sie erregen, interessieren und Ihre kühnsten Vorstellungen noch um Lichtjahre übertreffen wird."
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