Freiburg nach dem Mord an Maria L.

Wie eine Stadt ihre (angebliche) Unschuld verlor

Der Angeklagte Hussein K. sitzt am 05.09.2017 in Freiburg (Baden-Württemberg) im Landgericht im Gerichtssaal vor Journalisten. Er ist wegen Mordes an einer Studentin angeklagt. Links steht Verteidiger Sebastian Glathe. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, die 19 Jahre Maria L. im Oktober 2016 angegriffen, gewürgt und vergewaltigt zu haben. Anschließend habe er sie bewusstlos ins Wasser des Flusses Dreisam gelegt, wo sie ertrank.
Hussein K. im Freiburger Landgericht: Er wird beschuldigt, Maria L. ermordet zu haben. © dpa / Patrick Seeger
Dieter Salomon im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 16.10.2017
Die Stadt Freiburg wurde vor einem Jahr durch den Mord an der Studentin Maria L. schwer erschüttert. Ein Flüchtling steht nun vor Gericht. Wie hat die Tat die Stadt verändert? Fragen an den grünen Oberbürgermeister Dieter Salomon.
Liane von Billerbeck: Eine Stadt, die als das linksliberale grüne Ökoparadies per exellence galt, diese Stadt wird vor einem Jahr von einem Mord erschüttert. Ein Flüchtling hat damals die Studentin Maria L. am Ufer der Dreisam vergewaltigt und ermordet.
Der Mörder steht seit September vor Gericht. 2013 war er ebenfalls wegen einer Gewalttat an einer jungen Frau in Griechenland zu zehn Jahren Haft verurteilt, aber vorzeitig entlassen worden.
Nach dem Mord vor einem Jahr stand plötzlich auch Freiburg im Mittelpunkt des medialen Interesses, und uns interessiert heute, wie sich die Stadt seitdem verändert hat im Gespräch mit Dieter Salomon von Bündnis 90/Grüne, der seit 2002 Freiburger Oberbürgermeister ist. Schönen guten Morgen!
Dieter Salomon: Schönen guten Morgen!
Billerbeck: Wenn Sie an diesen Tag denken, als der Mord geschah, wie haben Sie ihn in Erinnerung?

"Oh Gott, eine tote Frau"

Salomon: Ich habe das online in irgendeiner Tickernachricht gesehen an einem Sonntagmorgen und habe mir nur gedacht, oh Gott, tote Frau, junge Frau aufgefunden. Also dieser Mord hat Freiburg damals erschüttert, wobei man ja die ersten sechs Wochen nicht wusste, wer der Mörder war.
Dann kam ja wenige Wochen später unweit von Freiburg ein zweiter ähnlicher Mord, also auch Vergewaltigung und Ermordung einer jungen Frau dazu. Dann wusste man nicht, ob es ein Serienmörder ist, und das hat Freiburg hat erschüttert.
Als sich dann rausgestellt hatte, dass ein junger Flüchtling war, da war dann Deutschland erschüttert, und da war Freiburg dann wieder relativ cool. Das ist eigentlich auch erstaunlich.
Billerbeck: Wie haben Sie denn reagiert anfangs und auch als sich dann rausstellte, dass es ein Flüchtling war, der diesen Mord verübt hat? Gibt man da als Stadtoberhaupt so eine Art Linie aus, wie verhalten wir uns?
Luftbild der Freiburger Innenstadt mit Münster 
Die Freiburger Innenstadt mit dem Münster: In Berichten als Öko-Idyll dargestellt - in Wirklichkeit eine Stadt wie andere auch© picture alliance / dpa/ Rolf Haid
Salomon: Es passieren ja immer wieder Gewaltverbrechen in der Stadt, und zur Aufklärung von Gewaltverbrechen ist Gott sei Dank die Polizei zuständig und nicht der Oberbürgermeister. Insofern kommentieren wir das in der Regel nie.
Jetzt hat aber diese Erschütterung über den Mord schon dazu geführt, dass auch der Oberbürgermeister angefragt wurde, wie er denn das sieht. Ich habe damals gesagt, dass wir das nicht kommentieren, weil ich bin nicht die Polizei, ich mache keine Ermittlungsarbeiten.

Es geht nur um die Schwere des Verbrechens

Dass man natürlich ein Verbrechen, ein verabscheuungswürdiges Verbrechen verabscheuungswürdig findet, ist nichts Besonderes. Als dann sich allerdings rausgestellt hat, dass der mutmaßliche Täter, der ja mittlerweile gestanden hat, ein junger Flüchtling war, da musste man dann schon was sagen, und da habe ich mich auch am gleichen Tag geäußert.
Ich habe einfach gesagt, dass das Verbrechen natürlich verabscheuungswürdig ist, aber dass das Verbrechen genauso schlimm wäre, wenn der Mörder nicht ein Afghane, sondern ein Deutscher oder ein Türke oder ein Engländer wäre, dass es also um die Schwere des Verbrechens geht und nicht um die Nationalität des Täters.
Billerbeck: Trotzdem trifft das ja in die ganze Debatte um den Zustrom von Flüchtlingen in Deutschland, wenn ein Flüchtling dann der Täter ist, der eine Frau vergewaltigt und ermordet hat. Das produziert ja Schlagzeilen. Welches Bild vom ja bis dahin als idyllisch geltenden Freiburg hat die Presse dann da gezeichnet?
Salomon: Genauso wie Sie jetzt auch schon die Einleitung gemacht haben, also dieses linksliberale grüne Idyll, in das dann der böse Wolf einbricht und die ganze Rotkäppchenidylle dann kaputt ist. Also ich habe immer gesagt, hier wird ein Bild von Freiburg gezeichnet, als wären wir Bullerbü, also von Astrid Lindgren.

Viel Kriminalität in Freiburg

Wir sind aber eine Stadt mit 230.000 Einwohnern, die alle Probleme hat, die eine Stadt dieser Größe hat, eine deutsche Großstadt, die seit 15 Jahren die Kriminalitätsstatistik in Baden-Württemberg anführt, was lange Jahre auch in Freiburg niemand recht interessiert hat.
Dieser Mord hat aber deshalb auch zu Verunsicherung geführt, weil, ich glaube, es schon so eine Art Grundverunsicherung gab. Die hatte mit zwei Dingen zu tun: Die hatte mit dem Flüchtlingszustrom zu tun, der ein Jahr vorher war und der einfach auch in Freiburg die Menschen verunsichert hat, und der zweite Punkt war, was wir jetzt schon wieder verdrängt haben, was aber damals sehr aktuell war, die ganzen terroristischen Anschläge.
Wir hatten die Anschläge in Paris, in Belgien, in Nizza. All das war ja eigentlich schon da, und das hat die Menschen auch total verunsichert, und dann passiert so ein Mord. Solche Morde sind in Freiburg auch früher schon mal passiert, was nicht zu so einer Verunsicherung geführt hat. Also muss es ja irgendeine andere Ursache haben, und ich glaube, das hat da aufgesetzt, auf diese Grundverunsicherung, die schon da war.
Billerbeck: Hat sich denn auch der Blick auf Flüchtlinge nach der Tat verändert, also in dem Sinne, dass sich plötzlich weniger Menschen für Flüchtlinge engagieren wollten?
Salomon: Nein, das Gegenteil war der Fall. Wir hatten ja tausende von freiwilligen Helfern, die in dem Jahr wirklich bewundernswert geholfen haben, die sich eingesetzt haben, die unterschiedlichsten Dinge gemacht haben, um den Menschen zu helfen, und wir haben in der Woche, nachdem der Täter gefasst wurde, ein Dankeschön-Fest organisiert in unserer Stadthalle, die als Notfallquartier gedient hat ein Jahr lang, und zu diesem Helferfest waren 50 Menschen angemeldet.

Stolz auf das Differenzierungsvermögen

Und dementsprechend gab es auch Catering, also es gab was zu Essen und zu Trinken, und das Buffet war nach einer viertel Stunde leergeräumt, was daran lag, dass dann nicht 50, sondern 150 kamen, die einfach Solidarität demonstrieren wollten und sagen, also das, was wir ein Jahr lang gemacht haben an Arbeit, das war nicht falsch, und wir machen das weiter, und wir lassen uns von der Tatsache, dass einer von diesen jungen Flüchtlingen was Furchtbares gemacht hat, nicht davon abbringen, dass man jeden einzelnen Menschen gesondert sich angucken muss, und das war schon beeindruckend. Also da war ich ziemlich stolz auf meine Stadt, muss ich sagen, über dieses Differenzierungsvermögen.
Billerbeck: Nun haben Sie gesagt, dass in Freiburg auch vorher die Kriminalität nicht so gering war, wie das Bild der Stadt außerhalb der Stadt suggeriert hat und wahrscheinlich auch vielen Freiburgern suggeriert hat. Welche Folgen hatte denn das, dass nun klar wurde, da gibt es durchaus ein Problem? Gibt es mehr Polizisten?
Freiburgs Oberbürgermeister Salomon (Bündnis 90/Die Grünen)
Freiburgs Oberbürgermeister Salomon (Bündnis 90/Die Grünen): Stolz auf das Differenzierungsvermögen der Flüchtlingshelfer© Imago / Winfried Rothermel
Salomon: Seit 15 Jahren führen wir hier die Kriminalitätsstatistik an. Das ist ja ein Titel, auf den man nicht unbedingt stolz ist, und seit 15 Jahren klagt unsere Polizei über zu wenig Personal, und ich habe das immer versucht zu unterstützen gegenüber den jeweiligen Landesregierungen, und ich habe eigentlich die ganze Zeit immer nur Trost, Kanzleitrost bekommen nach dem Motto, wir verstehen Ihre Lage, wir können aber leider nix machen, und nach dem Mord an der Dreisam, der ja auch schon Wellen geschlagen hat, habe ich zum ersten Mal dann aus dem Innenministerium Reaktionen gehört, und die haben auch schon reagiert, bevor dann klar war, dass der Täter ein junger Afghane ist, und haben uns einfach mal auch zum Freiburger Weihnachtsmarkt zusätzliches Personal geschickt, also vorübergehend geschickt, also nicht feste Stellen, die dann präsent waren, und das hat den Leuten in Freiburg, die noch vor zehn Jahren gesagt hätten, was wollen denn die Scheißbullen hier – also ich überspitze jetzt etwas, aber nicht sehr – gefallen, und die haben sich gefreut, dass da jemand ist.

Mehr Polizei, mehr Sicherheitsgefühl

Diese zusätzliche Polizei hat ja dazu geführt, dass die Menschen das Gefühl haben, dass die Stadtverwaltung was macht und dass sie sich sicherer fühlen, weil das eine ist ja immer, ist die Stadt tatsächlich objektiv unsicherer oder fühlt man sich nur unsicherer, und durch diesen Mord hat natürlich das subjektive Sicherheitsgefühl deutlich gelitten. Wir versuchen jetzt, dieses subjektive Sicherheitsgefühl wieder zu stärken.
Billerbeck: Dieter Salomon war das, Freiburger Oberbürgermeister, über all das, was sich in Freiburg seit dem Mord, den ein Flüchtling an der Studentin Maria L. verübt hat, vor einem Jahr verändert hat. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Salomon: Recht herzlichen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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