Frei und zügig

23.10.2012
"Gute Literatur ist niemals entspannt", hat John Irving einmal gesagt, und so ist auch sein 13. Roman ein Kraftakt: Er handelt von erotischen Abenteuern, Katastrophen und absurden Zufällen. Ein Plot, den das Werk Irvings ausmacht - und der einfach nicht langweilig wird.
Schon wieder Ringer und sexuell Hyperaktive. Schon wieder Neuengland und Wien als Spielorte. Schon wieder Katastrophen und absurde Zufälle, die den Plot voran und die Figuren einander in die Arme treiben. Ach, John Irving, sind Sie mit 70 nicht reif für eine kleine Variation Ihrer Erzählroutine?

Die Überraschung ist: Irving braucht die Variation nicht. Er kann so weitermachen - mit seiner süffigen, auf Verblüffung setzenden Kraftmeierprosa. Es gibt immer noch genügend erotische Abenteuer zu schildern, und Ringer gehören bei diesem Autor zum Inventar so wie Säufer zum Werk von John Cheever oder Jäger zu dem Hemingways.

"Gute Literatur ist niemals entspannt", hat John Irving einmal gesagt, und so ist auch sein 13. Roman ein Kraftakt. Sie beginnt in den 50er-Jahren. Billy Abbott, der Held und Erzähler, besucht eine konservative Jungenschule in First Sister, Vermont. Hier entdeckt er die Liebe zur Literatur und ein Faible für weibliche Körper. Miss Frost, die Bibliothekarin, verführt den Jungen erst mit Dickens und später, sehr konkret, mit leiblichem Know-how.

Die Dame ist, wie sich herausstellt, aber keine, sondern transsexuell. Für den Helden ist das die bisexuelle Initiation, und der Roman findet sein Grundmotiv: Lege deine Persönlichkeit nicht auf Konventionen fest.

Es folgen rund drei Jahrzehnte biografischer, das heißt vor allem erotischer Irrungen und Wirrungen: Billy in den 60ern als Student in Wien an der Seite eines schwulen Literaturprofessors. In den 70ern in New York in Begleitung verschiedenster Künstlerdamen. In den 80ern dann, als erfolgreicher Schriftsteller zwischen Ost- und Westküste pendelnd, als Zeuge der Aids-Katastrophe, die gnadenlos den Freundeskreis dezimiert.

Das letzte Drittel des Texts steht im Zeichen der Epidemie: Billy besucht alte Freunde, begleitet ihr Sterben, fühlt sich schuldig, davongekommen zu sein. Unsentimental und präzise zeigt Irving das Zerstörungswerk einer Krankheit, die auch kulturell, sozial und politisch schlimme Folgen hatte. Die Idee der sexuellen Befreiung stand auf einmal im Ruf, nicht nur dekadent, sondern auch lebensgefährlich zu sein.

Braucht man heute noch weitere Plädoyers für eine freie Erotik? In Amerika, wo die christliche Rechte nach wie vor alle Lebensformen jenseits des heterosexuellen Mainstreams verteufelt, muss das Buch als Mahnung wirken: Vergessen wir nicht, dass zu den Errungenschaften einer aufgeklärten Moderne auch die Liberalisierung der Libido gehört!

Der Roman betont aber ebenso einen anderen Eros, den der Freundschaft, und hierin liegt seine größte Qualität. Elaine heißt das Mädchen, mit dem sich Billy in der Schulzeit zusammenrauft. Sie werden später zusammenziehen, sich zeitweilig als Paar versuchen. Am Ende sind sie einander Schicksalsbegleiter, Vertraute, Herzensmenschen.

Gegen die anekdotische Exzentrik, welche die Story ansonsten umtreibt, ist die Schilderung dieser Lebenspartnerschaft erstaunlich immun. Klingt das moralisch? Natürlich. Aber auch tröstlich. Und es ist wunderbar zu lesen.

Besprochen von Daniel Haas

John Irving: In einer Person
Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog und Astrid Arz
Diogenes, Zürich 2012
725 Seiten, 24,90 Euro
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