Free Jazz fürs Auge

Von Günter Beyer · 06.12.2008
Joan Mitchell war eine der wenigen Frauen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in New York bei den abstrakten Expressionisten im Umfeld von Jackson Pollock, Willem de Kooning und Franz Kline zu behaupten wussten. Nun zeigt die Kunsthalle Emden 34 großformatige Gemälde der Künstlerin.
Leinwände konnten für sie gar nicht groß genug sein - drei mal acht Meter waren ihr gerade recht. Sie war eine schmale, zierliche Person, aber in ihr steckte eine ungestüme Kraft. Sie griff zu den breitesten Pinseln, zog sie mal Farbe triefend über die Leinwand, ließ sie dann mit leichtem Druck flüchtig über den Malgrund huschen. Bei aller Wildheit ihrer Malerei waren ihre Mittel sparsam, die Kompositionen von Rhythmen geprägt, cooler Free Jazz fürs Auge. Joan Mitchell war eine der wenigen Frauen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in New York bei den abstrakten Expressionisten im Umfeld von Jackson Pollock, Willem de Kooning und Franz Kline zu behaupten wussten.

"Der abstrakte Expressionismus ist eigentlich ne reine Männersache, kunsthistorisch, von heute aus gesehen."

Kurator Nils Ohlsen hat in Emden 34 großformatige Gemälde von Joan Mitchell zusammengetragen. Ihr Oeuvre ist in Deutschland noch nie gezeigt worden - mit einer Ausnahme: Joan Mitchell war Teilnehmerin der zweiten documenta 1959, verschwand dann aber aus dem Gedächtnis der europäischen Kunstwelt.

Mit 25 Jahren schloss Mitchell sich der brodelnden New Yorker Kunstszene an, wo die "Action Painter" Furore machen. Da werden Farbeimer über Malgründe ausgekippt, Leinwände auf den Boden gelegt, mit Farben besprenkelt und die noch feuchten Bilder hin und her geschwenkt, um nie gesehene, fantastische Farbverläufe zu erzeugen.

Nicht erst das fertige Bild interessiert, der Akt des Malens selber wird zum Event. Action Painting eben. Joan Mitchell saugt all diese Einflüsse in sich auf und frequentiert auch die einschlägigen Künstlerkneipen.

"Ein ganz wichtiges Forum war diese so genannte 'Cedar Tavern' in der Nähe des Washington Squares, also in der Nähe von Greenwich Village in New York, und dort, wissen wir, war Joan Mitchell eine der wenigen Frauen, die eine Clubkarte dort hatte, die dort immer ein und aus ging, und das war eigentlich der Think Tank der abstrakten Expressionisten, und sie hatte offenbar das Selbstbewusstsein, das Standing und natürlich auch die künstlichen Qualitäten, dass es dort kein Zweifel gab, dass sie ihren Weg als Künstlerin und nicht als Geliebte eines anderen Künstlers dort eben gehen konnte."

Ihr frühestes Werk in der Emder Ausstellung stammt aus dem Jahre 1951. Es zeigt noch Anklänge an den Surrealismus und lässt entfernt an konstruktive Formen wie etwa Kuben denken. Aber schon bald ist Joan Mitchells eigenes künstlerisches Vokabular voll ausgereift - in ihrem mehr als vierzigjährigen Schaffen greift sie immer wieder darauf zurück.

"Es ist charakteristisch wirklich eine auf den ersten Blick sehr, sehr spröde Malerei, eine sehr ehrliche Malerei. Dort geht es nicht um irgendwelche Effekte, es sind eigentlich Bildgewebe, die sie dort schafft. Es sind Farben, die eher unauffällig sind. Es sind viele Farben, die sie von der Straße geholt hat, Farben, in denen vielleicht die Ampeln oder irgendwelche Absperrungen gestrichen wurden, Farben von den Taxis, grelles Gelb taucht auch mal auf, aber auch ganz stumpfe Grau-Grün-Töne, Brauntöne viel, also vom Hafen vielleicht, von den Docks. Rostfarben und so weiter."

Joan Mitchell liebte Musik und Literatur. In Bildtiteln wie "Piano méchanique" oder "Two Pianos" spielt sie darauf an. Ihre Arbeiten können als Partituren einer unhörbaren Musik gelesen werden.
Aber auch zeitgenössische Gedichte schlagen sich in ihrem Werk nieder, etwa eine Zeile aus einem Poem des amerikanischen Lyrikers Wallace Stevens: "Hemlock". Hemlock ist eine nordamerikanische Tanne, und tatsächlich lassen die auf die Leinwand komponierten kaltgrünen Bögen mit Weiß an einen verschneiten Tannenwald denken. Joan Mitchell bringt die lyrische Saite des abstrakten Expressionismus zum Klingen.

Nach zehn Jahren hat sie genug von New York und entdeckt Frankreich. Zunächst wird Paris ihr neuer Lebensmittelpunkt, dann 1967 der kleine Ort Vétheuil an der Seine bei Giverny. Es ist gewiss kein Zufall, dass ihr Grundstück sich in der unmittelbaren Nachbarschaft des ehemaligen Anwesens von Claude Monet befindet. Nach den Straßenschluchten Manhattans liefert nun das Leben auf dem Lande und die intensive Beobachtung der Natur die Malanlässe. Überraschend dabei, dass Mitchell die einmal gefundene Bildsprache übertragen kann. Ihre großformatigen Landschaftsbilder variieren Gefühlseindrücke, von denen auch die großen Impressionisten erzählt hatten, ohne dass Mitchell jemals in die Nähe einer für überwunden erklärten Gegenständlichkeit zurück verfällt. "Ich könnte die Natur niemals direkt abbilden", schreibt sie. "Ich möchte lieber das malen, was sie in mir bewirkt."

"Natürlich klingt das erst mal völlig verrückt, dass jemand, der es eigentlich geschafft hatte, sich bei der Speerspitze, bei der Avantgarde, zu etablieren, dann plötzlich in Franreich romantischerweise in den Garten von Monet zieht, und dort beginnt riesige Felder zu malen, wie sie von van Gogh, Matisse oder eben Cézanne auch bekannt sind."

Ein Bruch freilich sei das nicht, meint Kurator Nils Ohlsen. Schließlich habe sich auch Monet in seinem Spätwerk mit den berühmten "Seerosen-Bilder" immer mehr von der Gegenständlichkeit entfernt. Gerade der späte Monet sei Mitte der 50er Jahre in New York entdeckt und als Inspirationsquelle in das Bildergedächtnis von Joan Mitchell eingeflossen.

Joan Mitchell bleibt bis zu ihrem Tod 1992 produktiv. Während ihr in ihrer Heimat längst die verdiente Aufmerksamkeit geschenkt wird - so hängen Arbeiten von ihr im Museum of Modern Art zwischen Jackson Pollock und Mark Rothko - ist sie in Deutschland eine Unbekannte. Das könnte sich jetzt ändern.

Service: Die Ausstellung "Joan Mitchell - Eine Entdeckung der New York School" ist vom 6.12.2008 bis zum 8.3.2009 in der Kunsthalle Emden zu sehen.