Frauen in Georgien

Zwischen Scham und Widerstand

25:57 Minuten
Viele Frauen sitzen in Reihen hintereinander und schauen in die Kamera.
Frauen in Georgien – langsam wächst hier das Bewusstsein, über häusliche Gewalt und das Verhältnis der Geschlechter zu diskutieren. © Thomas Franke
Von Thomas Franke · 08.03.2018
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"Wir leben in einem patriarchalischen System, in dem der Mann über der Frau steht. Männer können sich mehr erlauben und werden von der Gesellschaft dafür nicht bestraft. Die Gesellschaft ermutigt die Männer sogar, so zu sein, wie sie sind." Sagt Salome Chagelishvili vom Zentrum gegen häusliche Gewalt in Tiflis.
Eine der Haupteinkaufsstraßen im Zentrum von Tiflis. Die Fassaden sind bunt, die Cafés teuer, die Kleider in den Boutiquen auch. Die meisten Tifliser wohnen in den graubraunen Hochhäusern der Sowjetunion. Die haben ihre Haltbarkeit überschritten, die rostbraunen Stahlträger brechen durch den Beton. Die Wohnungen sind klein, mehrere Generationen teilen sich zwei oder drei Zimmer. Gewalt entsteht in diesen beengten Verhältnissen oft fast von selbst.
In einem Hinterhof im Zentrum der Altstadt: zwei junge Frauen in Jogginghosen sitzen auf einer Bank und rauchen. Eine alte Frau mit schwarzem Kopftuch steht auf einer Treppe und schaut ihnen zu. Steine markieren einen Weg durch den Staub. Wäsche hängt auf Veranden. Hier ist das Zentrum gegen häusliche Gewalt, und hier arbeitet Salome Chagelishvili.
"Wir leben natürlich in einem patriarchalischen System, in dem der Mann über der Frau steht. Männer können sich mehr erlauben und werden von der Gesellschaft dafür nicht bestraft. Die Gesellschaft ermutigt die Männer sogar, so zu sein, wie sie sind. Es gibt weder eine moralische noch psychologische und manchmal nicht einmal eine rechtliche Verurteilung ihrer Taten. Sie fühlen sich frei, zu tun, was sie tun."
Junge blonde Frau halbnah im Portrait.
Salome Chagelishvili hat in Tiflis Gender Studies studiert und arbeitet im Zentrum gegen häusliche Gewalt.© Thomas Franke

"Wir halten das Patriarchat für selbstverständlich"

Auf einem Plakat an der Wand ist das Gesicht einer Frau mit geschwollenem Auge und blutender Nase zu sehen. Salome legt beim Sprechen die Hände ineinander.
"Dazu kommen unsere Traditionen, die teilweise Jahrhunderte alt sind. Und manchmal denken wir auch einfach nicht genug über uns selbst nach, wir halten die Dinge für selbstverständlich und kritisieren sie nicht. Hier sehe ich auch eine große Aufgabe vor uns liegen."
Salome Chagelishvili ist 26 Jahre alt und hat in Tiflis Gender Studies studiert. Das ist an sich schon Avantgarde.
Eine zierliche Frau betritt das Büro, setzt sich: Nino, eine ihrer Schützlinge. Sie ist 20 Jahre alt, lächelt schüchtern und senkt den Blick. Die Begrüßung verunglückt, sie ist es nicht gewohnt, dass Männer ihr die Hand schütteln. Sie kommt aus Sugdidi, einer Stadt mit knapp 50.000 Einwohnern im Nordwesten. Nino hat ihren Mann verlassen.
"Ich habe bei meinem Bruder gelebt. Als ich 16 war, beschloss er, dass es Zeit für mich sei zu heiraten. Mein späterer Mann war ein Freund meines Bruders, er hatte mir lange schon nachgestellt. Auf dem Weg zur Schule musste ich durch einen Wald gehen und hatte Angst, er könnte mir dort auflauern. Zuhause hat mich mein Bruder ständig beleidigt. Er wurde zwar nie gewalttätig, hat mich aber ständig unter psychischen Druck gesetzt. Ich dachte, in einer Ehe würde es für mich ruhiger und sicherer. Mein Bruder drängte mich, seinen Freund zu heiraten, er traf die Entscheidung."

"Seine Mutter hat mich immer abgelehnt"

Wie viele Opfer häuslicher Gewalt es in Georgien gibt, ist schwer zu sagen, schwerer noch als in westlichen Ländern. Denn viele Georgier sind an Gewalt im Alltag seit ihrer Kindheit gewöhnt. Dazu kommt, dass man über so etwas nicht spricht.
"2013 habe ich geheiratet. Im November habe ich mein erstes Kind bekommen. Mein Ehemann war 14 oder 15 Jahre älter als ich, von Anfang an gab es Konflikte. Eigentlich ist Konflikt das falsche Wort, im Grunde ging es dabei um körperliche Gewalt. Ich denke, die Hauptursache war, dass er viel getrunken hat. Zusätzlich hat er Marihuana geraucht.
Er hat sich immer auf die Seite seiner Mutter gestellt. Seine Mutter hat mich als Schwiegertochter immer abgelehnt. Egal, was ich gemacht habe, sie fand es schlecht. Selbst wenn er mich beleidigt hat und gewalttätig geworden ist, für diese Frau war ich schuldig. Es war absolut unerträglich."
Wie wahrscheinlich die meisten Frauen in Georgien hat Nino sich geschämt und schwieg.
"Wegen all dieser Probleme verlor ich nach der Geburt meines Kindes enorm an Gewicht. Ich wog nur noch 40 Kilo, es war eine sehr schwere Zeit. Irgendwann habe ich mich der Tante meines Mannes anvertraut. Daraufhin nahm sie mich für drei Monate bei sich auf, hat sich um mich und mein Kind gekümmert, auch finanziell.
Als mein Bruder von der Gewalt erfuhr, sagte er nur, du hast jetzt eine eigene Familie, da kann ich nichts machen. Das tat sehr weh, dass ich von seiner Seite überhaupt keine Unterstützung, keinen Zuspruch bekam, nichts. Ich war ganz auf mich allein gestellt. Mir blieb dann nur noch das Frauenhaus."
Immerhin gibt es in Georgien neuerdings solche Schutzräume für Gewaltopfer. Dort bekam Nino ihr zweites Kind.
"Anfangs gab es massive Drohungen von Seiten meines Ehemannes. Er sagte, er wolle mich töten, und sollte ich mit jemand anderem zusammen sein, würde er den auch umbringen."
Nino schaut ihren Gesprächspartnern selten in die Augen. Im Frauenhaus ging die Gewalt weiter, erzählt sie, als wäre es das Natürlichste der Welt, diesmal unter den Bewohnerinnen.

"Ich versuche mich da rauszuhalten"

"Alle diese Frauen haben ihre eigenen Probleme, die sie nicht lösen können. Deshalb tragen sie diese Aggression in sich, und die richtet sich dann eben manchmal gegen die Menschen in ihrer Umgebung. Sie müssen es einfach rauslassen.
Für mich ist das überhaupt nicht überraschend. Es ist einfach die bedauerliche Realität. Ich versuche mich da rauszuhalten. Es ist manchmal ziemlich schwer, wenn Leute dich beleidigen, nicht zu reagieren. Aber ich versuche, so gut ich kann, diesen Konflikten um mich herum aus dem Weg zu gehen."
Ninos Eltern sind tot. Ihre Geschwister reden nicht mehr mit ihr, weil sie ihren Mann verlassen hat.
Nino muss los, ihr Kind aus dem Kindergarten holen. Zum Abschied blickt sie ein wenig stolz in die Runde. Sie war nervös vor dem Gespräch. Ihre Betreuerin Salome lächelt, freut sich, dass Nino den Mut gefunden hat zu reden.
Denn die Aktivistinnen im Zentrum gegen häusliche Gewalt möchten nicht nur Opfern helfen, ihr Ziel ist, dass die Gesellschaft umdenkt. Dazu muss das Thema in die Öffentlichkeit.
Frau im Halbportrait, in ihrem Büo
Nato Shawlakadze, Leiterin des Antigewaltzentrums in Tiflis© Thomas Franke
Davon ist auch Nato Shawlakadze, die Leiterin des Antigewaltzentrums, überzeugt. Die Opfer müssten die Scham überwinden, sagt sie, anderen zeigen, dass Gewalt nicht normal ist. Dass das geht, sei ihr während einer Konferenz in den USA klargeworden, berichtet Shawlakadze.
"In den USA habe ich Frauen gesehen, die Interviews gegeben haben und bei einer Konferenz aufgetreten sind. Bei uns gibt es keine Opfer, die so etwas tun. In den USA fühlen sie sich stärker und geschützter."

"Wir müssen Türen aufstoßen"

Eine Studie der Heinrich-Böll-Stiftung kam vor kurzem zu dem Schluss, dass das Tabu, in Georgien über häusliche Gewalt und das Verhältnis der Geschlechter zu diskutieren, verschwinde. Auch gäbe es ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass Gewalt mehr ist als körperliche Übergriffe. Nato Shavlakadze seufzt.
"Wir müssen Türen aufstoßen. Nicht nur eine. (Lachen) Die Frauenbewegung wird zur Zeit stärker. Als unser Zentrum 1991 geöffnet wurde, da hatten wir kein Licht, keinen Strom, und dann - Schritt für Schritt - hat unser Land sich entwickelt. Hoffentlich sind wir sehr bald Mitglied der Europäischen Union.
Mittlerweile leben viele Familien gleichberechtigt. Es gibt Männer in Georgien, die bereit sind, den Frauen zu helfen, und niemand macht sich deshalb über sie lustig. Und wenn wir zwei Generationen weiter denken, dann wird das eine sehr schöne Gesellschaft in Georgien sein. Hoffe ich zumindest."
So lange möchte Mari nicht warten. Sie hat in Tiflis Kunst studiert, macht Grafiken in dunklen Farben und mit zerstörten Figuren. Mit ihrer akademischen Ausbildung ist sie erstmal keine Ausnahme. Nur wird von ihr trotzdem erwartet, sich anschließend den Konventionen zu unterwerfen.
Oft hat sie darüber nachgedacht, Georgien zu verlassen, aus den Zwängen der patriarchalischen Gesellschaft auszubrechen.
"Die Leute hier denken nicht eigenständig. Sie sind wie Schafe. Ich bin Georgierin und ich schäme mich deshalb. Ich wollte immer jemand anders sein. Dabei würde ich gern künstlerisch etwas über mein Land machen, denn ich bin Georgierin und Patriotin. Es ist zu einfach, aufzugeben und ins Ausland zu gehen."
Aber das machen viele. Dem Land kommt ein Teil seiner jungen Leute abhanden. Mit 20 sind Georgier mit dem Studium fertig. Dann beginnt bei vielen der gesellschaftliche Druck zu heiraten und Kinder zu bekommen.
"Ich glaube, wir sind zu jung, wenn wir studieren. Wir wissen noch gar nicht, was wir in unserem Leben wollen. Mit 17 machst du noch das, was Mutter und Vater dir raten."

Konflikt zwischen Generationen

Und die Eltern hängen eben oft noch in den traditionellen Rollenmustern fest.
Zwei Frauen in Tiflis mit Einkaufstaschen auf einer etwas heruntergekommenen Straße
Georgien hat eine patriarchalische Gesellschaft. Von den Frauen wird erwartet, sich den Konventionen zu unterwerfen. © Thomas Franke
Solche Erfahrungen hat auch Salome vom Zentrum gegen häusliche Gewalt gemacht:
"Wenn ich zum Beispiel mit meinen Eltern rede und ihnen sage, dass wir nicht mehr in dieser Zeit leben, dass wir uns weiterentwickeln müssen, dann fällt es mir manchmal schwer, mich ihnen verständlich zu machen. Ja, es ist ziemlich komplex."
Viele georgische Männer finden die Veränderungen auf gesellschaftlicher Ebene in Ordnung, wollen für sich aber trotzdem eine Frau, die ganz für sie da ist, zuhause sitzt, sie umsorgt, Essen zubereitet, wenn sie kurzfristig Freunde mitbringen, erzählt die Beraterin Salome. Sie selbst lebt als Single.
"Wenn man eine 'gute Frau' sein möchte, dann muss man heiraten. Ich persönlich gehöre zu der glücklichen Minderheit, die von ihren Familien unterstützt werden. Sie würden mich nie unter Druck setzen, zu heiraten und sie zu verlassen.
Der Druck kommt aus der Gesellschaft. Ich bin jetzt 26, und da ist es in Georgien nach landläufiger Meinung höchste Zeit zu heiraten. Die Leute fangen an, sich für mein Privatleben zu interessieren, obwohl ich gar keine Lust habe, ihnen etwas darüber mitzuteilen, schließlich ist es ja etwas Persönliches.
Viele Menschen in meiner Umgebung, vor allem junge Frauen, spüren diesen Druck. Wenn man, ohne zu heiraten, eine Altersgrenze überschritten hat, gilt man als 'unverheiratbar', man kann das georgische Wort noch nicht einmal ins Englische übersetzen."
Ein weiterer Faktor, der die Emanzipierung der Frauen in Georgien bremst, ist die georgisch-orthodoxe Kirche. Tiefpunkt war eine Hatz auf Homosexuelle im Zentrum von Tiflis 2013, angeführt von Priestern. Die orthodoxe Kirche mit ihrem antiquierten Weltbild gibt in der andauernden Krise vielen Menschen Halt und Orientierung. Sie verinnerlichen, was der Patriarch sagt:
"Heutzutage heißt es, dass die Ehefrau und der Ehemann gleich sind. Die Heilige Schrift aber sagt, dass der Mann das Oberhaupt des Hauses ist. Die Familie ist ein Körper und der Körper kann nicht zwei Köpfe haben."

Die Kirche: Zwischen Homophobie und Frauen-Solidarität

Der Patriarch gibt ganz klar vor, wie er sich die Ehe vorstellt:
"Wenn ein Mann von der Arbeit nach Hause kommt, muss ihn die Frau umsorgen, ihm die Füße waschen, Essen bereiten und Geborgenheit geben."
Nato Shavlakadze ist trotzdem gut auf die georgisch-orthodoxe Kirche zu sprechen. Sie unterstütze die Frauenhäuser, erzählt sie. An der Wand hinter ihr hängt ein großer Jahreskalender. Daneben ein Plakat von US-AID und eine große EU-Fahne, die Unterstützer des Antigewaltzentrums. In einem Rahmen: eine Urkunde aus Polen.
"Als wir anfingen, hatten wir überhaupt kein Geld und haben als erstes die Kirche um Hilfe gebeten. Und die Kirche hat uns wirklich geholfen. Sie gaben uns Essen, Kleidung, Möbel. Seitdem schicken sie auch Opfer häuslicher Gewalt zu uns. Ja, wirklich. Sie sind bei diesem Thema sehr offen.
Ich erinnere mich, als der Bischof uns eine Frau geschickt hat, und meinte, 'Ich kann nichts machen. Bitte ändern Sie ihre Einstellung. Sie möchte bei ihrem Ehemann bleiben, der sie ständig schlägt.' Es war seine Idee, dieses Paar zu trennen. Er hat sie aufgefordert, sich scheiden zu lassen. Und sie wollte das nicht. Nun sind sie geschieden, und sie lebt allein mit ihren Kindern."
Salome, die jüngste Mitarbeiterin im Antigewaltzentrum, hofft, dass sich langfristig etwas ändert. Sie erzählt von einem Mann, mit dem sie am Institut für Gender Studies gemeinsam studiert hat.
"Und ich habe gehört, dass es vor ihm schon mehrere andere junge Männer gegeben hat. Es gibt hier eine ganze Menge großartiger Typen in meiner Umgebung, meine ganzen Freunde zum Beispiel. Aber alles ist relativ. Wenn ich mir die Mehrheit anschaue, dann haben wir noch viel vor uns."
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