Frauen der Kriegsgeneration

Vom Mutterland erzählen

Wer war meine Mutter? Wer war meine Großmutter?
Wer war meine Mutter? Wer war meine Großmutter? © dpa / picture alliance / Maja Hitij
Von Sabine Voss · 06.05.2016
In der Geschichte des 20. Jahrhunderts mit Krieg und Nationalsozialismus spielten Väter und Großväter die prägende Rolle. Aber wer war die Mutter, wer die Großmutter? Die Leerstelle der weiblichen Herkunft wird in Büchern von Stephan Wackwitz, Peter Schneider und Sabine Rennefanz beleuchtet.
"Als sich die erste Bomberstaffel näherte, nahm mich die Mutter auf ihren Schoß, legte die Arme über mich und flüsterte mir ins Ohr, nein, sie muss mir ins Ohr geschrien haben, schlaf ein, schlafe, jetzt, auf der Stelle. Und weil ich in ihrem Schoß lag und so nahe bei ihr war, schlief ich ein. Jedenfalls erzählte sie das später."
Peter Schneider: "Es ging mir darum, ein Gemälde zu entwerfen: Was war dieses einzelne Familienschicksal auf dem Hintergrund der Kriegszeit."
Deutschland am Ende des Zweiten Weltkrieges. Die alliierten Bomberverbände haben die "Lufthoheit" errungen. Bomberstaffeln und Tiefflieger beschießen die deutschen Städte.
"Frauen und Teenager bedienten die Scheinwerfer der Flugabwehr, bemannten die Boden-Luftgeschütze, warteten die Kanonen, machten Telefondienst und wurden zu Meldefahrten eingesetzt. Auf einer solchen war meine Mutter im Mai 1944 im Zug unterwegs. Ihr werde schon nichts passieren, hatte sie ihrem Vorgesetzten gesagt."
Stephan Wackwitz: "Ich glaube, interessant am Leben meiner Mutter ist nicht, dass es außergewöhnlich war, sondern dass es typisch war."
"Überall bröckelt der Putz von den Wänden, durch die Dächer laufen Risse bis in die Grundmauern. Die Mutter vom Großbauern Schmidt wird von einem herabstürzenden Ziegelstein erschlagen. Die Kosakenberger sagen, dass es besser gewesen wäre, es hätte einen der Flüchtlinge getroffen. An dem Tag, an dem meine Großmutter ins Dorf kommt, sind die Straßen menschenleer. Sie zieht den Handwagen über das Kopfsteinpflaster."
Eine Mutter mit vier Kindern, eine junge Flakhelferin, ein Flüchtlingsmädchen. Die Geschichten dieser drei Frauen im Krieg und Nachkrieg erzählen zwei Söhne und eine Enkelin.
Peter Schneider: "Man wäre verrückt, wenn man sagen würde, so ist es gewesen."
Peter Schneider, ein Kriegskind, Jahrgang 1940:
"Weil die Erinnerungen natürlich fetzenhaft sind – ich war Anfang acht, als ich meine Mutter zum letzten Mal gesehen habe, und ich hab sie eigentlich erst kennengelernt durch dieses Buch oder jedenfalls richtig kennengelernt – ich musste doch auch sehr viel konstruieren und auch erfinden, das ging gar nicht anders. Dass es überhaupt ein Gemälde ergibt."
Stephan Wackwitz: "Wenn Sie das Bedürfnis haben, einen alltäglichen Lebenslauf als Teil einer geschichtlichen Konstellation zu sehen, dann haben Sie das technische Problem, dass Sie irgendwie nachweisen müssen, dass es nicht nur ein beklagenswertes oder begrüßenswertes Einzelschicksal ist, sondern dass das eine gewisse gesellschaftliche Relevanz hat."
Stephan Wackwitz, ein Nachkriegskind, Jahrgang 1952:
"Und das Vernünftigste dafür ist natürlich, dass man alltägliche Begebenheiten oder Dokumente sehr sehr genau und auch mit dem gesamten Instrumentarium, das so die Soziologie zur Verfügung stellt, ausdeutet und damit zu einem Bild der Epoche kommt. Gerade bei so einer Familienrecherche, da muss man schon den ganzen Apparat anschalten, weil man sonst auch nichts rauskriegt."
Sabine Rennefanz: "Ich habe jetzt gar keinen Anspruch, dass das jetzt die endgültige Version ist oder die Wahrheit. Und wenn meine Mutter und ihre Schwestern ein Buch schreiben würden, würde es sich womöglich ganz anders lesen."
Sabine Rennefanz, Jahrgang 1974:
"Ich habe in der Familie und auch in dem Ort selbst mit vielen Leuten gesprochen.Das Dorf, das heißt ja Kosakenberg, und dieses Dorf, sagen wir, es ist eine Zusammenschreibung aus mehreren Dörfern in der Region. Nicht alle Figuren, die dort auftauchen, nicht alles, was passiert, ist wirklich in Kosakenberg passiert, aber man kann sagen, alles was dort beschrieben ist, ist in Ostbrandenburg passiert."
Die beiden Erzähler und die Erzählerin stützen ihre Geschichten auf eigene Erinnerungen, Reisen zurück an Orte der Handlung, Familiendokumente, nachgelassene Tagebücher, Notizen. Peter Schneiders Projekt beginnt mit einem Schuhkarton voller Briefe, die viele Jahre ungelesen blieben, bis sie schließlich das späte Interesse des über 70-Jährigen weckten.
"Als dann jeden Tag zweimal Vollalarm ist, überlegt sie, ob sie die eben erst bezogene Wohnung in Dresden nicht doch lieber aufgeben soll."
"Aber werden dann nicht die ausgebombten Rheinländer den Leerstand sofort melden? Dann hat man fremde Leute in der Wohnung."
"Und die werden die Kartoffeln aufessen, die sie eben erst in die Wohnung geschleppt hat. Überhaupt das Kartoffelnschleppen. Immer wieder kreisen ihre Gedanken um die Frage, in welcher Unterkunft sie bei den zahllosen Ortswechseln wenigstens einen Zentnersack Kartoffeln deponieren soll."
Peter Schneider: "Das hat mich sehr interessiert, vor allen Dingen, wie allein sie doch war, wenn es darum ging, solche Entscheidungen zu treffen. Da musste man Entschlusskraft haben, und das hat sie ja mehrfach gezeigt. Also da haben wir ihr alles zu verdanken. Es gibt ja diesen schönen Brief meines Vaters – auf den ich sehr stolz bin, ich bin froh, dass ich den lesen konnte – dieser Brief von ihm, in dem er sagt, eigentlich sind die Frauen die einzigen, die etwas Nützliches im Kriege tun. Die Frauen sind diejenigen, die Familien erhalten."
Der Krieg stellt alle Mütter unterschiedslos vor die gleichen Probleme. Auch Luise, eine höhere Unternehmertochter, gegen Ende des Krieges Mitte 30, verheiratet mit einem Musiker, Komponisten und Dirigenten, der eingezogen ist. Mit ihren vier Kindern hat sie Dresden verlassen und irrt mit ihnen – das kleinste trägt sie auf dem Arm − auf der Suche nach Quartier in Sachsen umher. Überall verstopfen halbverhungerte Flüchtlinge die Bahnsteige und sind schneller, wenn es darum geht, einen Zug zu stürmen, einen Platz zu ergattern. Luise bringt schließlich sich und die Kinder in einem bayerischen Dorf vor den Bomben in Sicherheit.
"Die Geräusche von Alarmsirenen und Tieffliegern gehören zu meinen frühesten Erinnerungen. Es waren die weitaus stärksten Signale aus der Außenwelt. Wie Lesezeichen stecken sie in meinem Gedächtnis und ordnen die Bilder und Ereignisse aus den Jahren unserer Flucht. Aussteigen! hieß es, wenn die Züge plötzlich auf offener Strecke hielten, aussteigen und rennen bis zum nächsten Wald. Auf keinen Fall weiterrennen, wenn die Bomber über dir sind. Dann wirfst du dich auf den Boden und verschränkst die Arme über dem Kopf. Hilflose Verhaltensregeln von Erwachsenen, die sich bei einem Tieffliegerangriff selber nicht zu helfen wussten. Immerhin kamen sie der kindlichen Illusion entgegen, dass man unsichtbar wird, wenn man sich die Augen zuhält. Tatsächlich schloss ich die Augen, wenn ich mich im offenen Feld auf den Boden warf, und hielt mir die Ohren zu. Und wenn du dann das Krachen des Einschlags hörst, hatte jemand im Abteil gesagt, weißt du, dass du überlebt hast. Ich verstand nicht, was es über diesen Satz zu lachen gab."
Stephan Wackwitz: "Sie war auch, glaube ich, ein sehr mutiger Teenager, ein sehr mutiges Kind. Das wird auch immer beschrieben, dass ihr Vater das Gefühl hatte, er muss sie besonders schlecht behandeln, weil sie so draufgängerisch eben auch war. Ich glaube, dass das dann gebrochen worden ist, und zwar einfach durch auch – ich glaube, das ist ein ganz schweres Trauma gewesen – ihre Kriegsverwundung. Sie ist ja sehr verkrüppelt worden."
Stephan Wackwitz
Stephan Wackwitz© picture alliance / dpa / Jens Wolf
Margot Wackwitz ist unterwegs auf "Meldefahrt", soll Befehlsdokumente überbringen, als ein Tiefflieger den Zug beschießt und ihre rechte Schulter so zertrümmert wird, dass sie den Arm zeit ihres Lebens nur noch eingeschränkt wird gebrauchen können.
"Auf den 29. April 1945 – den Tag, bevor Hitler im Berliner Bunker seinem Leben ein Ende setzen würde – ist eine Zeichnung meiner Mutter datiert, die sie noch im Krankenhaus gemacht hat. Die Linienführung und die Meisterschaft, mit minimalen Mitteln ein eindrucksvolles Gesicht zu zeichnen, verraten zwar die professionelle Künstlerin. Aber der zittrige Gestus der offenbar mit der linken Hand ausgeführten Arbeit ist rührend wie auf einer Kinderzeichnung. Ein Mädchen, das viel jünger aussieht als die 24 Jahre, die meine Mutter damals tatsächlich war, sitzt halb aufgerichtet in einem mit nur wenigen Strichen angedeuteten Krankenhausbett. Die Figur wendet sich in sehnsüchtiger Haltung der Vision eines Fensters zu, mit Aussicht auf Wolken, Berge, ein Dorf mit bunten Dächern. In krakeliger Sütterlinschrift steht der Satz 'Dort möchte ich sein!' über diesem Panorama, das nur ein Traum ist. Diese Zeichnung ist eine Unabhängigkeitserklärung. Ein zerschossener und zerbrochener Mensch dokumentiert seinen Stolz auf sich selbst, auf sein Überleben und auf seine Nähe zu einem ästhetischen Kindertraum, den er sich auch vom Krieg nicht nehmen lassen will."
"Die Bilder meiner Mutter" heißt Stephan Wackwitz' Buch, in dem der Sohn den Lebensweg seiner Mutter beschreibt, den ihre – seiner Erzählung beigefügten – Bilder und Zeichnungen illustrieren. Denn Mitte der 30er-Jahre, noch vor dem großem Bombenkrieg, hatte sie, für eine 16-Jährige ungewöhnlich genug, mit Erlaubnis des Vater in Berlin am Lette-Verein ihre Begabung entfalten und eine Ausbildung zur Modezeichnerin absolvieren können. Wieder zurück in der Heimatstadt Stuttgart, scheint ihr Vater seine Großzügigkeit zu bereuen.
Stephan Wackwitz: "Ich kann mir vorstellen, dass er das Gefühl gehabt hat, dass sie irgendwie verkorkst zurückgekommen ist, verdorben, so könnte ich mir das zurechtreimen. Wobei meine Mutter immer wieder gesagt hat, dass man meinen Großvater eigentlich nicht wirklich verstehen konnte. Die meisten, die aus dem ersten Weltkrieg zurückkamen und dann eben auch sehr schnell in die Nazibewegung integriert wurden, die hatten halt auch wahnsinnig einen an der Klatsche. Der Schock dieses Krieges muss so überwältigend gewesen sein, dass die mit den seltsamsten Neurosen und Borderline-Zuständen ins Leben entlassen wurden."
"Ich habe etwas über deinen Großvater herausgefunden, flüstert meine Mutter. Ihre Stimme klingt anders als sonst, heiser, als habe sie geweint oder vielleicht eine Erkältung. Vielleicht liegt es auch an der Leitung. Meine Mutter klingt weit weg.
Mein Großvater. In dem Land meiner Kindheit standen überall Skulpturen aus Bronze herum, die kräftige, stolze Arbeiter zeigten, mit geballter Faust und stolzem Blick. Mein Großvater hätte für eine dieser Skulpturen Modell stehen können. Er gehörte zur Genossenschaft "Felsenfest", Zweig Pflanzenproduktion. Zur Erntezeit, wenn er auch an heißen Tagen zwölf vierzehn Stunden arbeitete, sammelte sich in seinen Lachfältchen der Staub vom Feld. Ich war überzeugt davon, dass er kommen würde, um mich zu retten, sollte mir etwas Schlimmes zustoßen.
Ich habe etwas über deinen Großvater herausgefunden, sagt meine Mutter am Telefon."
Sabine Rennefanz: "Man erfährt, man ist die Frucht einer Vergewaltigung, wie geht man damit um? Es ist ja eigentlich viel zu groß, um das zu verstehen. Ich hab ganz oft gefragt, 'als du das erfahren hast, was hast du da gefühlt? Was hast du da gefühlt?' Und sie wusste immer nicht, was sie gefühlt hat. Sie konnte das eigentlich nicht in Worte fassen. Ich glaube der Prozess des Nachfragens und dann mein Reinfühlen, wie hätte es gewesen seinkönnen, das hat ihr total geholfen."
"Die Mutter meiner Mutter" heißt Sabine Rennefanz' Versuch, das Leben ihrer Großmutter zu rekonstruieren. Anna ist Tochter eines Bahnhofvorstehers in der schlesischen Provinz und erlebt, wie ihr Vater von den Russen verschleppt wird. Sie landet als Flüchtlingsmädchen in einem Dorf in Ostbrandenburg und verdingt sich bei einem Bauern als Magd. Dass sie vergewaltigt wurde und vor allem von wem, ist ein lang bewahrtes Familiengeheimnis. Der Gewalttäter war nicht etwa ein russischer Soldat sondern ein Dorfbewohner, ein Kriegsheimkehrer aus russischer Gefangenschaft – der später sehr geliebte Großvater. Aber warum ging die geschändete Großmutter eine Ehe mit ihm ein? Bauer Wendler, Annas Brotgeber, könnte interveniert und den Täter genötigt haben, das geschwängerte Mädchen nun auch zu heiraten. Es bleiben viele Fragen. Tatsache ist, dass die drei gemeinsamen Töchter aus einer Zwangsehe hervorgegangen sind. Die älteste ist Sabine Rennefanz' Mutter:
"Die Frauen sind dazu da, dass die Ehe funktioniert, dass der Haushalt funktioniert. Und manchmal hatte ich auch das Gefühl im Gespräch mit den Schwestern, dass sie immer den Vater in Schutz genommen haben, weil der hatte ja so ein Trauma mit dem Krieg, und was er da alles mitmachen musste, statt zu sagen, es war viel Gewalt in ihm, viel Wut, viel Aggression."
Peter Schneider: "Wir haben ja tausende von Büchern über den Krieg, vor allem aus der Männerperspektive, aber wir haben ganz wenige Bücher, in denen das Liebesleben im und während des Krieges eine Rolle spielt."
Die Briefe im Schuhkarton enthüllen dem späten Leser und Sohn, Peter Schneider, vor allem eins: Die tiefe leidenschaftliche unausweichliche Bindung seiner Mutter an den besten Freund ihres Mannes. Die Dreiecksbeziehung zwischen zwei Männern und einer Frau gab seinem Buch auch den Titel: Die Lieben meiner Mutter.
"Ist es meine Schuld, dass ich dich eines Tages sah, liebte, mich an dich band, so dass ich mich nicht mehr lösen kann? Ich habe versucht, Entschuldigungen herbeizuführen nach der einen oder anderen Richtung – erst hab ich dich haben wollen, und dann hab ich dich restlos vertreiben wollen. Beides glückte nicht, weil ich viel zu wenig ehrfürchtig war vor hohen Gesetzen, weil ich noch nicht wusste, dass man weder verlangen – noch sich versagen – darf, wenn das Schicksal einem aufträgt: zu lieben."
Peter Schneider: "Das klingt ja alles ganz verrückt. Das ist eine Geschichte, die der Krieg geschrieben hat. Ich habe ja mit großer Beteiligung, auch Rührung gesehen, dass diese beiden Männer, die ja eigentlich Konkurrenten waren, der Andreas und mein Vater, sich immer wieder nacheinander bei der Mutter erkundigen, wo der andere steckt, ob er noch lebt, ob er krank ist, wie es ihm geht. Das war viel wichtiger als: Hat der jetzt gerade die Nase vorn bei dieser Frau. Das sind Geschichten, die so, glaube ich, nur im Krieg zustande gekommen sind und zustande kommen. Das war doch das Lebensgefühl: Jeder Tag kann der letzte sein. Deswegen können sich viele, die nur den Frieden kennen, gar nicht erklären, dass diese Großelterngeneration..., was die für radikale Optionen wahrgemacht haben."
In einem Brief fällt der Satz, der wie ein Menetekel über der Leidenschaft der Mutter steht:
"Das Gefühl der Liebe ist nicht abhängig von deiner Antwort an mich – sehr abhängig ist aber das Glücksgefühl davon."
"Dem Sohn, dem verspäteten Leser, sträuben sich die Haare. Kein Mann auf der Welt, ruft er seiner Mutter zu, sollte solche Briefe bekommen, weil kein Mann auf der Welt solcher Hingabe gewachsen ist – er wird mit der ihm anvertrauten Macht nicht umzugehen wissen."
Peter Schneider im Funkhaus
Peter Schneider im Funkhaus© Deutschlandradio / Oranus Mahmoodi
Peter Schneider: "Mir ist sehr stark dieser Widerspruch aufgefallen, dass sie als Liebende, als Geliebte durchaus eine traditionelle Frau ist, fast im Sinn des 19. Jahrhunderts. Und gleichzeitig ist sie für ihre Zeit eine unglaublich emanzipierte Frau, die sich das einfach herausnimmt, dass sie diese zweite Liebe – denn meinen Vater hat sie zweifellos auch geliebt – sich gestattet, sogar für sich verlangt und nicht einen Augenblick deswegen irgendwas verheimlicht hat."
Luise stirbt 1948 mit erst 41 Jahren an, wie ihr Sohn vermutet, Entkräftung und gebrochenem Herzen. Ihr Liebesverlangen scheitert an einem Geliebten, der es nicht erfüllen kann. Das nächtliche Schreiben ihrer Sehnsuchtsbriefe, wenn der Tag ihr noch Kraft dazu lässt, deutet der Sohn aber auch als ein Überlebensmittel, das ihr hilft, die Depressionen zu verscheuchen und die Kriegsjahre zu überstehen. Ihr Nachlass bezeugt das künstlerische Potential dieser Frau.
Peter Schneider: "Das ist ja sozusagen die einzige Möglichkeit meiner Mutter gewesen, sich auch literarisch auszudrücken. Das war ja eindeutig ihr Wunsch, das hat sie ja mehrfach gesagt, dass sie schreiben wollte, schreiben möchte, sich wünscht, dass eines ihrer Kinder dieselbe Lust am Schreiben entwickelt wie sie selber. Und diese Möglichkeit, diesem tatsächlich großen Talent, das ich da bei meiner Mutter entdeckt habe, einen nachträglichen Ausdruck zu verschaffen, das konnte ich mir nicht entgehen lassen."
Stephan Wackwitz: "Ich glaube, dass meine Generation von sehr enttäuschten und auch zum Teil sehr übelgelaunten Frauen erzogen worden ist. Und das habe ich immer gespürt, und ich habe auch gleichzeitig immer gespürt, dass ich Lust haben würde, diese Aufbrüche in der Geschichte meiner Mutter irgendwie stark zu machen oder auszugraben."
Anfang der 50er-Jahre ist Margot Wackwitz der Auszug aus dem Elternhaus in eine eigene Wohnung gelungen, sie hat geheiratet, bekommt bald ihr erstes Kind. Ihr Mann unterrichtet an einer Dolmetscherschule, und Margot Wackwitz entwirft – nun wieder mit der rechten Hand – Kollektionen von Damenunterwäsche, illustriert Kinderbücher und Firmenprospekte, entwickelt Logos und Anzeigenkampagnen. Die junge Mutter nimmt oft den kleinen Stephan zu ihren Arbeitgebern mit, in die Werbeateliers, Zeitschriftenredaktionen und Modestudios.
Stephan Wackwitz: "Es war eine Zeit, in der eine ganze schnelle Westorientierung stattgefunden hat – in der Mode, mit der meine Mutter nun sehr stark verbunden war –, aber nicht nur für meine Mutter eine Zeit der Internationalität und der Befreiung sondern für die ganze Republik eine Zeit der Modernisierung, die erst später mit dem sogenannten Wirtschaftswunder... da fiel das in so eine neokonservative Restauration zurück."
"Unsere Existenz beruhte auf dem damals unterschwellig skandalösen Umstand, dass sie, nicht mein Vater, den prestigereicheren Beruf ausübte. Weswegen Margot Wackwitz, dem Frauenbild der Zeit folgend, sobald sich meinem Vater solidere, ehrvollere und einkommensträchtigere Aussichten boten, aus Liebe und ohne jedes Zögern, ohne innere Reserve und sozusagen freudig, in eine ihrem Mann untergeordnete familiäre Hilfsrolle zurücktrat."
Stephan Wackwitz: "Also sie hatte ein vages Gefühl, dass zwar alles konventionell richtig verlaufen war und erfolgreich eine Familie gegründet war und so, aber sie hatte das Gefühl: 'Ich hab 'was versäumt, und ich hab 'was vergessen'. Meine Mutter hatte zum Beispiel einen immer wiederkehrenden Traum, dass sie ein Baby hat, aber nicht mehr dran gedacht hat, dass sie das Baby hat, und dass sie denkt, 'um Gottes Willen, wie konnte ich denn dieses Baby vergessen, und es hat ja gar nichts zu essen gehabt' usw."
"An einem Samstagmorgen irgendwann in den 70er Jahren tauchte meine Schwester, zurechtgemacht für ein Rendezvous, aus ihrem Zimmer auf, um in ihre Eisdiele zu stöckeln, ausgestattet mit einem sehr professionellen Augen-Make-Up, in Trenchcoat und Minirock. Die sieht ja phantastisch aus, dachte ich noch, als sie mir zuwinkte, die Haustür hinter sich zuwarf und durch den Garten verschwand. Am Wohnzimmerfenster diskutierte derweil meine vor Bekümmernis und Wut fast schon weinende Mutter mit meinem Vater über die Frage, ob er im Auto hinterher fahren und geltend machen solle, "dass man so nicht aus dem Haus gehen kann". Wenn ich heute in meiner so ganz anderen Zeit, über die damaligen Kräche zwischen Mutter und Tochter nachdenke, will mir scheinen, dass ein monumentaler, durch Anstandsbesorgnis bloß konventionell kostümierter Neid die Ursache für die damals fast alltäglich gewordenen Wutangst-Entgleisungen meiner Mutter gewesen ist. Ihr lang und stumm ertragenes Unglück nahm jetzt Rache an ihrer Tochter."
Stephan Wackwitz: "Das ist, glaube ich, der ganz ganz große zivilisatorische Fortschritt, den wir mit '68 und dem, was danach gekommen ist, verbinden müssen: Dass Aussprachen nicht nur irgendwie möglich waren, sondern eigentlich auch Mode wurden, dass man Geschlechterverhältnisse, Familienverhältnisse verhandeln konnte, dass man über sie diskutieren konnte, ist für mich so ein kostbares Erbe dieser Zeit."
Sabine Rennefanz
Die Schriftstellerin und Journalistin Sabine Rennefanz© dpa / picture alliance / Jens Kalaene
Sabine Rennefanz: "Ich komme aus einer Familie, wo man nicht so viel miteinander redet, gar nicht miteinander redet, also es wird irgendwie viel geplappert über alles Mögliche, aber über die wichtigen Dinge eigentlich nicht. Und ich schreibe dann darüber und bin froh, dass es raus ist, dass ich diese Möglichkeit hatte, das aufzuschreiben."
Sabine Rennefanz' Großmutter Anna schweigt sich ihr Leben lang über ihren Ehemann und sein Vergehen aus. Vielleicht aus Scham, vielleicht um ihre Töchter vor einer Wahrheit zu schützen, die, käme sie ans Licht, ihnen den Vater nehmen würde. Im Rückblick auf den Krieg und Nachkrieg lässt sich heute erahnen, dass zahllose Selbstmorde und Abtreibungen auf das Konto von Vergewaltigungen gehen, aber auch unklare oder vertuschte Vaterschaften, und wie viele Kriegs- und Nachkriegskinder es sein müssen, die, wie Sabine Rennefanz' Mutter, über ihr Herkommen im Dunkeln tappen. Im Brandenburgischen Dorf halten die Mitwisser dicht, bis fast 70 Jahre später eine alte Frau und Nachbarin beiläufig darüber spricht.
Sabine Rennefanz: "Dass es Vergewaltigungen gegeben hat und womöglich auch Zwangsehen, ich glaube das ist nicht typisch ostdeutsch. Ich habe jetzt auch schon viel Feed-Back bekommen von Leserinnen, erstaunlich eigentlich, aus allen Teilen Deutschlands. Überwiegend Enkelinnen und Töchter, die sagen, ja, meine Oma, da gab es immer diese komische Geschichte, wo der älteste Sohn gar nicht bei ihr aufgewachsen ist sondern bei einer anderen Tante, und der sah schon immer anders aus, und wir haben uns immer gewundert und so – solche Geschichten, wo auch geflüstert wurde, und man weiß, da stimmt was nicht."
Die Enkelin leuchtet in ihrem Buch in die Untiefen einer komplizierten Familiendynamik hinein. Das Zwangseheleben von Anna und Friedrich war spannungsgeladen, sogar hasserfüllt. Um die schmalen Ressourcen an Zuwendung und Liebe mussten ihre Töchter werben, kämpfen und untereinander konkurrieren. Ihr Vater starb 1989, im Wendejahr.
"Ich wundere mich im Nachhinein darüber, dass es mir nicht komisch vorkam, mit welcher Eile meine Großmutter alle Erinnerungen an meinen Großvater vernichten wollte. Sie fängt mit dem Lehnstuhl an, in dem mein Großvater am liebsten fernsah, keucht, als sie ihn aus dem Haus schleppt. Dazu kommt die grüne Tagesdecke aus Satin, die immer auf seinem Bett lag. Sie reißt die Schubladen in der Anrichte in seinem Schlafzimmer auf, holt einen Stapel Papiere heraus und trägt sie, ohne sie eines genaueren Blickes zu würdigen, ebenfalls hinaus. Der Haufen wächst in kurzer Zeit um seine Schlager-Schallplatten, seinen Lieblingsbierkrug, die Aktentasche, in der er seine Brote zur Arbeit trug, den gerahmten Druck von Caspar David Friedrichs "Kreuz im Gebirge". Spät am Abend, als das Dorf längst zu Bett gegangen ist, zündet sie den Haufen an."
Sabine Rennefanz: "Wir haben halt immer gesagt, Oma ist halt komisch, Oma ist komisch, und erst wenn man andere Omas kennenlernt und andere Menschen, ist ja wirklich sehr komisch: Warum verschwindet die Weihnachten immer und zu anderen Festen? Es war immer total klar, Oma verschwand Weihnachten. Niemand rechnete mit ihrer Anwesenheit, niemand fragte auch, wo sie hin ist, was sie macht. Am Heiligabend war sie weg, am nächsten Tag war sie wieder da, und es war so normal. Komisch eigentlich. Sie hat es halt wirklich vermieden, mit dem in einem Raum zu sein und ihm zuzuhören. Er war auch eine ganz andere Person, er hat immer große Reden geschwungen, hat den Raum unterhalten, und alle hingen an seinen Lippen. Vielleicht fand sie das auch schlimm, die Bewunderung bei den anderen zu sehen für ihn, während sie so die Seite kannte, die nicht bewundernswert war."
Das Buch "Die Mutter meiner Mutter" ist auch eine späte Rehabilitierung, es erklärt, warum diese Frau Zeit ihres Lebens so rätselhaft unnahbar war: Eine Nachtgestalt, die, wenn alle schliefen, in ihrer eigenen Welt gelebt hat, Gesellschaft mied, im Dorf kaum in Erscheinung trat, einen Hund als engsten Gefährten hatte. Heute lebt Anna, 85-jährig, in einem Altersheim.
Sabine Rennefanz: "Sie wollte ja gerne Lehrerin werden, und ich habe mich auch oft während des Schreibens gefragt, warum hat sie's nicht geschafft? Aber mit diesem Trauma, von dem ich jetzt erfahren habe, verstehe ich das ein bisschen besser, dass so eine innere Lähmung eingetreten ist, dass sie keine Kraft mehr hatte, irgendwelche Pläne für die Zukunft zu machen und rauszugehen, das hat sie nicht geschafft. Das hat zu viel Kraft gekostet. Und sie hat diesen Ehrgeiz zumindest an ihre älteste Tochter sehr stark weitergegeben, die ihn dann an mich weitergegeben hat."
Träume von einem unabhängigen selbstbestimmten Leben waren für Frauen der Kriegsgeneration illusionär. Vor 1968 und der Frauenbewegung fehlte weiblichen Lebensentwürfen, die mehr wollten als mitverdienende Hausfrau und Mutter zu sein, zumindest in Westdeutschland der gesellschaftliche Rückhalt. Erst ihre Töchter und Söhne riskierten den Bruch mit den alten Rollenbildern und überhaupt mit der Familie. Sie hatten Familien erlebt, die sie (so) nicht nachleben wollten und konnten. Ohne ein tragfähiges Modell machte sich eine Generation, zu der auch Stephan Wackwitz gehört, zum ersten Mal auf die Suche.
"Wir begannen zu ahnen, wie viel wir mit unserer Rebellion gegen die Familie zugleich verloren hatten, dass es ohne so etwas wie die Familie vielleicht nicht weitergehen würde in unserem Leben. Wahrscheinlich würde es auf etwas Informierteres, Tieferes, Freieres, Klügeres hinauslaufen müssen, als es die Ehen unserer Eltern und Großeltern gewesen waren. Aber ganz ohne Familie würden auch wir nicht durchkommen. Damals begann etwas, was noch heute andauert."