Französischer Roman

Ein längst vergessenes Lebensgefühl

Champs-Élysées in Paris im September 1955 in Paris
Champs-Élysées im September 1955: "Zurück in Paris, lösen sich die amourösen Verstrickungen komplikationslos wieder auf..." © picture alliance / dpa / Foto: AFP
Von Dirk Fuhrig · 27.03.2015
Gilles ist fasziniert von einer Abiturientin. Seine Frau Geneviève verliebt sich während der Sommerfrische an der Côte d'Azur erst in einen Schönling, dann in eine elegante Frau. Michèle Bernstein beschreibt in "Alle Pferde des Königs" die kraftvolle Zeit vor den 68ern.
Dieses Buch lebt ganz überwiegend durch seinen mitreißenden Stil: Selten gibt es einen Roman, der einen durch seine kurzen, prägnanten Sätze von der ersten Seite an fesselt.
Knapp, trocken, unsentimental, mitunter auch etwas altklug und herrlich arrogant. Die paar Dutzend Seiten lesen sich weg wie im Flug. Im leichten Galopp springt Michèle Bernstein durch einen Sommer, der dicht angefüllt ist mit Verwirrungen der Herzen: Ein junges Ehepaar, Mitte 20, ist so verliebt ineinander, dass es sich gegenseitig jede außereheliche Vernarrtheit gönnt, ohne auch nur im Geringsten Eifersucht zu empfinden. Gilles ist fasziniert von einer Abiturientin; Geneviève verliebt sich während der Sommerfrische in einem Künstlerdorf an der Côte d'Azur zuerst in einen schneidigen Beau, dann in eine elegante Frau aus gutem Hause. Zurück in Paris, lösen sich die amourösen Verstrickungen komplikationslos wieder auf, ihr zielloses Bohème-Leben driftet weiter von Café zu Café. Und das war's schon.
Ein ungeheures, kraftvolles Lebensgefühl
Die Handlung wirkt belanglos. Das Ganze ist eine Parodie auf das Klischee vom lustigen Künstlerleben und wurde bei seinem Erscheinen 1960 als Persiflage auf Tabubruch-Bücher wie Françoise Sagans berühmtes "Bonjour Tristesse" gelesen. Aber gleichzeitig atmet der kurze Text in jeder Silbe ein ungeheures, kraftvolles Lebensgefühl: Freiheit, Ungebundenheit, Anti-Bürgerlichkeit, jugendliche Emphase. Michèle Bernstein – Jahrgang 1932 – lässt in ihrem stark autobiografisch geprägten Roman sich selbst und ihren Ehemann Guy Debord als Protagonisten auftreten.
Bernstein und Debord zählten zu den Gründern der "Situationistischen Internationalen". Die linke Bewegung, die den Mai 1968 intellektuell vorbereitete, versuchte, die (kapitalistische) Gesellschaft durch literarische und künstlerische Interventionen zu verändern, oder vielleicht auch nur zu verstören. Ironie, gespielte Naivität, Unkonventionalität in allen Lebenslagen – dieser untergründig anarchische Ton durchzieht dieses Buch, das jetzt zum ersten Mal auf deutsch erhältlich ist. Der kurze situationistische Sommer der Freiheit – ein atemberaubender Parforce-Ritt durch ein längst vergessen geglaubtes Lebensgefühl, das womöglich in den neuen sozialen Bewegungen Südwesteuropas jetzt wieder anklingt.
Michèle Bernstein: "Alle Pferde des Königs"
Aus dem Französischen von Dino Beck und Anatol Vitouch
Mit einem Nachwort von Robert Orth
Edition Nautilus, 128 Seiten, 19,90 Euro