Frankreich

Die Bulldozer kommen

Familie Lucan in der Siedlung im Wald.
Familie Lucan in der Siedlung im Wald. © Bettina Kaps
Von Bettina Kaps · 24.08.2014
In Frankreich leben die meisten Roma in Slums, die sie auf Niemandsland neben Autobahnen, unter Brücken oder in Wäldchen am Rand der Städte errichten. Auch der Rumäne Florin Lucan wohnt schon seit acht Jahren mit seiner Familie in Hüttenlagern bei Paris.
Acht Uhr früh in Champs-sur-Marne, 20 Kilometer östlich von Paris: Studenten strömen aus der Schnellbahn, gehen achtlos an der hohen Lorbeerhecke vorbei, verschwinden in modernen Universitätsgebäuden. Die Hecke ist akkurat gestutzt. Sie wirkt wie eine riesige grüne Mauer. Aber im Geäst ist ein Loch, da hindurch führt ein Trampelpfad in ein Wäldchen. Zwischen Buchen und Eichen sind etwa 45 Hütten zu sehen, zusammengeschustert aus Holzplatten, Pappkartons, Plastikplanen.
Eine Tür geht auf. Ein Mädchen kommt aus einer Baracke, verschwindet im Gebüsch, kommt zurück. Malina sieht verschlafen aus. Brauner Pferdeschwanz, Jacke und Hose aus Jeans, ausgetretene Turnschuhe. Die Elfjährige muss zur Schule. Auf dem Rücken trägt sie einen rosa Rucksack und in der Hand ein Paar Sandalen. Malina:
"Ich bin in der fünften Klasse, bald komme ich in die Mittelschule. Mathe und Französisch habe ich gerne."
Ihr Vater wartet schon. Christian Bumbai, 37 Jahre alt, klein, stämmig, freundliches Gesicht, das linke Auge steht leicht schief. Obwohl die Schule nur zehn Minuten entfernt ist, lässt er seine Tochter nicht alleine gehen:
"Ich finde es normal, auf meine Kinder aufzupassen. Das tun doch alle Eltern. Wenn ich Malina nach dem Unterricht um halb Fünf nicht abholen kann, rufe ich jemanden an. Aber wenn möglich, gehe ich selbst. Meine Frau kümmert sich um unser Baby, deshalb kann sie nicht hingehen."
Der Weg ist matschig. An zwei Stellen saugen alte Teppiche die Pfützen auf. Kurz vor der Lorbeerhecke steigt der Pfad an, da ist er besonders rutschig. Zum Glück wächst hier ein Baum. Die Rinde ist glatt, weil sich alle am Stamm festhalten. Auf dem Bürgersteig angekommen, zieht Malina ihre schmutzigen Turnschuhe aus, wirft sie ins Gebüsch zu anderen Latschen, schlüpft in die sauberen Sandalen. Sie sind zwei Nummern zu groß und haben Absatz. Stolz stöckelt sie neben ihrem Vater her. Malina ist erst mit neun in die Schule gekommen, sagt Christian Bumbai:
"Nicht wir haben diese Schule gefunden, das haben wir Madame Brigitte und Monsieur Gérard zu verdanken. Sie helfen uns und haben dafür gesorgt, dass unsere Kinder angenommen wurden. Ich hatte es vorher ein paar Mal versucht, aber das Rathaus hat Malina immer abgelehnt. Ich kenne viele Roma-Kinder, die nicht zur Schule gehen dürfen, obwohl es doch Vorschrift ist, egal, wo sie herkommen. Ich weiß nicht, warum sie unsere Kinder nicht haben wollen."
Seit acht Jahren wohnt er in Slums
Christian Bumbai stammt aus Rumänien. Früher besaß er dort sogar ein Haus, erzählt er, aber das ganze Stadtviertel wurde 2001 von Hochwasser überschwemmt und dann abgerissen, ohne Entschädigung. Jobs fand er dort auch nicht. Deshalb ging er 2006 nach Frankreich. Solange, seit acht Jahren schon, wohnt er in Slums.
Vater und Tochter gehen durch breite Straßen mit schnurgeraden Baumreihen und vielen Parkplätzen, laufen an architektonisch ausgefeilten Büro- und Hochschulgebäuden vorbei. Der Stadtteil heißt Cité Descartes, nach dem berühmten Philosophen. Er wirkt sauber und funktional wie ein amerikanischer Campus. Hier studieren 18.000 Studenten. Eine vierspurige Straße trennt das Neubauviertel von der Nachbarstadt Noisy-Le-Grand. Dort liegt die Grundschule.
"Immer wieder sind unsere Baracken zerstört worden, immer wieder haben wir einen neuen Wald gefunden. Ich erinnere mich nicht, wie oft ich das schon erlebt habe. Zuletzt vor zwei Jahren, da haben wir in Noisy-Le-Grand gewohnt. Als das Lager geräumt wurde, haben wir mit den Kindern vor dem Rathaus protestiert, um Hilfe zu verlangen. Das hatte uns ein Hilfsverein gesagt. Aber nach einem Tag und einer Nacht im Freien wurden die Kinder krank und das Rathaus wollte immer noch nicht helfen. Da sind wir in das Wäldchen in Champs-sur-Marne gezogen und haben wieder eine Hütte gebaut."
Christian hält beim Bäcker, kauft ein Croissant und eine Flasche Wasser: Malinas Frühstück. Sie bewahrt es für die Pause auf. Vor dem Schulgebäude gesellt sich das Mädchen zu einem Mann mit zwei Töchtern: Florin Lucan ist ihr Onkel, Jonella und Olanta sind Cousinen. Die Verwandten leben im selben Slum. Die kleinen Mädchen, neun und sieben Jahre alt, blicken wortlos auf das Croissant. Für sie gibt es kein Frühstück, sagt der Vater. Florin:
"Wir haben kein Geld. Jedenfalls heute nicht. Das wissen sie."
"Roma-Kinder haben keinen Zutritt zur Schule"
Am Schultor steht ein Mann im hellen Trench. Graublondes Haar, dünner Pferdeschwanz, silberne Ringe und Stecker in beiden Ohren – für einen französischen Schuldirektor sieht Yves Zaparucha ganz untypisch aus. Er grüßt einzelne Eltern, lässt die Kinder in den Pausenhof. Die drei Roma-Mädchen stellen sich mit den übrigen Schülern in Zweierreihen auf. Der Direktor sperrt das Schultor ab, durchquert die Aula. Er nimmt kein Blatt vor den Mund:
"Das Rathaus verhindert die Einschulung dieser Kinder. Das bedauern wir. In Noisy-le-Grand haben Roma-Kinder keinen Zutritt zur Schule. Wir wissen das, weil man dafür nur die Augen aufmachen muss: In Noisy und in Champs sieht man mehrere Hüttenlager mit sehr vielen Kinder. Trotzdem haben wir nur drei Roma-Kinder bei uns. Und auch das nur, weil sie von einer Familie in der Stadt beherbergt werden, auf dem Papier natürlich, eben damit die Kinder zur Schule gehen können."
Im Wäldchen der Cité Descartes leben etwa 30 Kinder, aber nur die drei Cousinen gehen zur Schule. Die anderen Kinder sprechen daher auch kein Wort Französisch.
Familie Lucan in der Siedlung im Wald.
Familie Lucan in der Siedlung im Wald.© Bettina Kaps
Der Direktor geht an den Klassenräumen vorbei, die Türen stehen offen. In einem Saal sitzt die kleine Olanta über einem einfachen Kreuzworträtsel und zeichnet Großbuchstaben nach. Zusammen mit zehn anderen Kindern bekommt sie Sonderunterricht. Auch Jonella und Malina brauchen noch Hilfe, um ihre Lücken zu füllen, sagt Yves Zaparucha:
"Wir haben festgestellt: Diese Kinder haben Lust auf Schule. Das widerspricht einem Stereotyp. Wir merken natürlich auch, dass unseren drei kleinen Mäusen wichtige Grundlagen vorenthalten wurden. Wir sind sehr froh, dass wir sie jetzt unterrichten können."
Die Einschreibung war für die Roma-Familien nicht das einzige Hindernis, sagt der Direktor, sperrt sein Büro auf und zieht einen Aktenordner aus dem Regal. Er hat beim Rathaus beantragt, dass seine Schützlinge wie alle anderen Kinder in der Schulkantine zu einem Preis essen dürfen, der sich nach dem Einkommen der Eltern richtet. Er nimmt ein Schreiben in die Hand, liest die Antwort vor:
"Monsieur, leider kann ich Ihnen keine positive Antwort geben. In der Tat werden die Familien Bumbai und Lucan in Noisy-le-Grand nur beherbergt. Deshalb müssen sie in der Schulkantine den Maximalpreis bezahlen."
Das heißt: neun Euro pro Mahlzeit. Das Rathaus betrachtet sie als Auswärtige.
"Jedes Kind hat ein Recht zu spielen"
Die einkommensschwachen Familien in Noisy-le-Grand bezahlen nur 90 Cent für eine Mahlzeit und die Mittagsbetreuung. Das Rathaus hat bereits einen Beamten geschickt, um zu kontrollieren, ob die Roma-Kinder nicht etwa gratis in der Schulkantine essen, erzählt der Direktor. Yves Zaparucha hat andere Wege gefunden, um den Mädchen Mittagessen zu geben. Welche, das sagt er nicht, er will Sanktionen vermeiden.
Das Rathaus der Nachbarstadt Champs-sur-Marne liegt nicht im Hochschulviertel Cité Descartes, sondern drei Kilometer entfernt im alten Stadtkern, gleich neben einem herrschaftlichen Schloss, wo einst Marie Anne de Bourbon, uneheliche Tochter des Sonnenkönigs, und Madame de Pompadour gelebt haben. Die Bürgermeisterin heißt Maud Tallet, sie ist Kommunistin. Im Gang vor ihrem Büro hängen Plakate von UNICEF, auf denen Kinder und Eltern in Entwicklungsländern zu sehen sind. "Jedes Kind hat ein Recht zu spielen", heißt es auf einem Poster.
Maud Tallet sitzt am Schreibtisch. Die 63-Jährige hat kinnlanges graublondes Haar und ein kantiges Gesicht, sie sieht entschlossen aus. Auch in Champs-sur-Marne müssen Roma-Familien für Mahlzeit und Betreuung in der Schulkantine deutlich mehr bezahlen als Ortsansässige, sagt sie, nämlich elf Euro für ein Grundschulkind und 13 Euro für ein Kind in der Vorschule. Das sei eine Frage der Gerechtigkeit:
"Über die Ermäßigungen für einkommensschwache Familien können wir hier bei uns die Kommunalsteuern umverteilen, deren Berechnung oft unfair ist. Wenn man im Wald lebt, zahlt man keine Kommunalsteuern und deshalb profitiert man auch nicht vom Familiensplitting."
Seit vier Jahren siedeln sich in Champs nun schon Rumänen und Bulgaren in Hüttenlagern an. Maud Tallet nennt die Roma gelegentlich "ziehendes Volk". Sie weiß, was diese Menschen suchen:
"Warum Champs-sur-Marne? Ich glaube, man muss gewisse Voraussetzungen erfüllen, um ziehendes Volk, insbesondere Roma, anzulocken. Man muss Brachland haben, gut an Paris angebunden sein und fette Mülltonnen besitzen, in denen Sperrmüll und Haushaltsartikel zu finden sind. Anfang des Jahres hatten wir sogar zwölf Lager mit rund 800 Menschen."
Ein Andrang, dem sich die Bürgermeisterin der 25.000 Einwohner-Stadt nicht gewachsen sieht. Inzwischen hat die Polizei auf Anordnung der Justiz jeden zweiten Slum aufgelöst, die Hütten zerstört, die Roma vertrieben. Vorerst gibt es noch vier kleine und zwei große Lager, darunter das Lager in der Cité Descartes, wo auch die Familien Bumbai und Lucan leben.
"Leider wurden die Roma im Wäldchen hinter der Post noch nicht vertrieben. Das Gelände gehört dem Finanzministerium. Das ist eine riesige Behörde, der es völlig egal ist, was auf ihrem kleinen Terrain fernab in der Banlieue passiert, und die nicht einmal weiß, bei welchem Gericht sie die Räumung beantragen muss. Das heißt natürlich nicht, dass die Roma dort toleriert werden. Der Besitzer hat nur noch nicht die nötigen Schritte eingeleitet."
Gewiss gebe es auch anständige Roma-Familien
Anfangs war auch dieses Lager klein und familiär, aber immer, wenn ein anderes Lager zerstört wird, kommen neue Familien hinzu. Inzwischen haben im Slum des Hochschulviertels gut 200 Menschen zusammengefunden. Das Rathaus könnte ihnen das Leben erleichtern, einen Hydranten aufsperren, Müllcontainer aufstellen. Der Zugang zu Wasser und sanitären Einrichtungen ist ein elementares Menschenrecht, das haben die Vereinten Nationen festgelegt. Aber Maud Tallet schert das nicht:
"Wenn sich die Leute mitten in einem Waldstück niederlassen, das nicht erschlossen werden soll, wie kann ich da Wasser, Strom, Latrinen oder Müllabfuhr organisieren? Das ist nicht möglich. Diese Bevölkerung siedelt sich an, wo sie will, wann sie will. Nein, ich mache nicht die geringste Anstrengung für sie."
Die Bürgermeisterin listet auf, warum sie die Roma loswerden will. Sie wirft ihnen mangelndes Interesse am Schulbesuch der Kinder vor, Betteln mit Säuglingen, mafiöse Strukturen. In ihrer Stadt ist sogar ein Roma-Baby für 15.000 Euro verkauft worden. Gewiss gebe es auch anständige Roma-Familien mit sozialen Problemen. Solchen Familien würde sie ja gerne helfen, sagt Maud Tallet. Aber nur, wenn der Staat auch alle anderen Kommunen in Frankreich zur Solidarität verpflichte.
Familie Lucan in der Siedlung im Wald.
Familie Lucan in der Siedlung im Wald.© Bettina Kaps
Es ist später Nachmittag. Christian Bumbai schlüpft durch die Lorbeerhecke und schlittert vorsichtig auf dem Matschweg ins Lager. Im Gebüsch liegen ein Sessel mit aufgeplatzten Polstern, Plastikflaschen, ein paar Bierdosen. Über einem Tümpel schwirren Mücken und Fliegen. Heute konnte er Malina nicht von der Schule abholen, weil er in Paris als Anstreicher gejobbt hat. Mit Lohnzettel, sagt er stolz. Seit Januar 2014 dürfen Rumänen und Bulgaren ohne Einschränkungen in der Europäischen Union arbeiten:
"Zurzeit gehe ich nicht mehr betteln. Ich suche immer Arbeit. Ich will, dass es meine Kinder einmal besser haben. Einige von uns sind jetzt beim Jobcenter gemeldet und hoffen auf Angebote. Ich weiß, dass es in Frankreich über drei Millionen Arbeitslose gibt. Aber wir wollen ja nicht im Büro arbeiten. Reinigung, Müllabfuhr, auf dem Bau, wir sind zu allem bereit."
Ohne Arbeitsvertrag haben die Roma in Frankreich keinen Anspruch auf Kindergeld oder Sozialhilfe. Aber sobald er 60 reguläre Arbeitsstunden in einem Monat gesammelt hat, kann sich Christian Bumbai bei der Krankenversicherung einschreiben und dann auch Sozialleistungen beziehen. Bisher kommt er nur auf 25 Stunden.
Einen Graben ziehen und ein Vordach bauen
Die Hütte der Bumbais ist eine der Ältesten im Lager und steht ganz vorn. Über Dach und Wände sind blaue Plastikplanen gespannt. Fenster gibt es nicht. Als Eingang dient eine Glastür mit weißem Spitzenvorhang und Vorhängeschloss. Christian sperrt auf, holt eine Säge aus dem Raum. Er muss seine Baracke ausbessern. Vergangene Nacht hat es gewittert und gehagelt:
"Wir hatten eine Überschwemmung, zwei Stunden lang haben meine Frau und ich Wasser geschöpft."
Er zeigt auf seine Knöchel: So hoch stand das Wasser in der Hütte. Jetzt will er einen Graben ziehen und ein Vordach bauen. Zwei Holzpfosten hat er schon organisiert.
Zwei Mädchen ziehen einen schweren Einkaufswagen vorbei, auf dem ein großer Plastikkanister befestigt ist. In der Blumenrabatte vor der S-Bahnstation gibt es einen Wasserhahn. Auch Julietta Lucan hat dort Wasser geholt. Die Mutter von Jonella, Olanta und dem 6-jährigen Richard bückt sich über eine Plastikschüssel, bürstet und wringt Wäsche. Die 26-Jährige ist zierlich, aber unter ihrem langen blauen Rock zeichnet sich der Bauch ab. In zwei Monaten soll das Baby kommen, sagt Florin Lucan an ihrer Stelle. Julietta spricht nicht Französisch. Er selbst ist klein und mollig. Kurz rasierte schwarze Stoppelhaare umrahmen sein pausbäckiges Gesicht. Trotz seiner 30 Jahre sieht er aus wie ein großer Junge. Jetzt wird er zum vierten Mal Vater. Florin ist besorgt:
"Vielleicht können wir bald in ein Hotel ziehen, über die Notrufzentrale für Obdachlose. Wenn der Kleine geboren ist, sind wir nicht mehr hier, glaube ich, aber sicher bin ich mir nicht."
In Frankreich werden Obdachlose oft in einfachen Hotels einquartiert, weil die Notunterkünfte überfüllt sind.
Florin verlässt das Lager. Er will Arbeit finden. Sieben Jahre lang hat er für einen Bäcker in einem Pariser Vorort geschuftet, schwarz natürlich, für 30 Euro am Tag. Als er eine Anstellung verlangte, war Schluss. Den heutigen Tag hat er mit Betteln verbracht:
"Ich habe einen angestammten Platz vor einem Einkaufszentrum. Außer mir bettelt dort niemand. Am Ende eines Tages habe ich acht, neun oder zehn Euro zusammen, das ist nicht viel."
"Die Kinder haben damit nichts zu tun"
Julietta bettelt vor einem Supermarkt, während sich Florins Eltern, die auch im Lager leben, um die drei Kinder kümmern. Er würde sie nie mitnehmen, sagt Florin:
"Nein, nein, nein, die Kinder haben damit nichts zu tun. Manche Roma denken anders, aber ich will meine Kinder nicht opfern, damit die Leute mehr geben. Ich bin der Mann, ich muss mich für die Kinder durchschlagen, nicht sie für mich."
Eine Woche später. Florin Lucan betritt ein Vereinslokal in der Nachbargemeinde Noisiel. Sechs Frauen und Männer sitzen um einen langen Tisch, sie haben Laptops aufgeklappt und Papiere ausgebreitet. Einmal pro Woche halten die Mitglieder des Kollektivs Romeurope Sprechstunde, um den Roma bei Behördendingen zu helfen. Seit Januar drängen sie die Rumänen auch, sich beim Arbeitsamt anzumelden. Francois Loret ist die treibende Kraft des Kollektivs. Francois Loret:
"Florin, bei dir müssen wir den Lebenslauf fertig schreiben, ein Foto machen und dich vielleicht auch bei Zeitarbeitsfirmen einschreiben."
Der 56-Jährige, ein großer, starker Mann mit dichtem grauen Haar, randloser Brille und Rund-um-den–Mund-Bart, ist von Beruf Personalberater. Seine Freizeit verbringt er größtenteils damit, den Roma zu helfen und für ihre Rechte einzutreten. Allein, sagt er, wären sie im Gestrüpp der Vorschriften, Regeln und Anforderungen hoffnungslos verloren. Loret tippt in den Computer, liest vor:
"Monsieur Lucan, Florin, von 2002 bis 2006 Feldarbeit in Rumänien, 2006 bis 2013 Bäcker in einem Handwerksbetrieb in Arcueil, Teigverarbeitung, Backen, Herstellen von Spezialbroten und Croissants. Sprachkenntnisse: Rumänisch, Französisch, etwas Englisch..."
Dann erklärt er Florin die Vor- und Nachteile von Zeitarbeit:
"In einem Land, das ein bisschen rassistisch ist, ist das eine gute Möglichkeit, einen Fuß in einen Betrieb zu bekommen. Und dann musst du dich beweisen. Wenn der Chef sieht, dass du zuverlässig bist und gute Arbeit leistest, ist es ihm ziemlich egal, ob du Rumäne, Bulgare, Franzose oder Tscheche bist. Hier habe ich eine Liste mit Zeitarbeitsfirmen. Wenn das klappt, trinken wir Champagner (lacht), okay?"
Acht Roma sind gekommen, weil sie Arbeit suchen. Die meisten sprechen noch kein Französisch. Francois Loret strahlt Sicherheit und Hoffnung aus. Immer wieder erzählt er von Marcel, einem Roma, der seit einem Monat auf dem Bau arbeitet und 1.400 Euro verdient. Der Menschenrechtler ist überzeugt: Viele der 17.000 Roma aus Rumänien und Bulgarien können sich in Frankreich eingliedern. Wenn man sie lässt.
"Ihr werdet also in drei bis sechs Monaten vertrieben"
Mitte Mai: Vorladung im Amtsgericht von Meaux, einer Stadt östlich von Paris. Das Finanzministerium, dem das Grundstück im Hochschulviertel gehört, hat nun doch ein Eilverfahren beantragt, um die Roma aus dem Wäldchen hinter der Lorbeerhecke zu vertreiben. Francois Loret und die Rechtsanwältin des Kollektivs Romeurope verlassen den Gerichtssaal.
Damit der Richter sieht, wen seine Entscheidung trifft
Die Juristin hat die Familien verteidigt und für einen Aufschub plädiert. Christian Bumbai und Florin Lucan sind auch da. Loret hat sie als Vertreter der Roma-Familien mitgenommen, damit der Richter sieht, wen seine Entscheidung trifft. Er erklärt den Männern, wie es nun weiter geht:
"Das Urteil wird erst am 4. Juni verkündet, also in zwei Wochen. Unsere Rechtsanwältin hat ein schönes Plädoyer gehalten und unser Gegner war nicht aggressiv. Er hat angeführt, dass das Gelände verkauft werden soll und ihr dort nicht wohnen dürft. Zugleich hat er Verständnis für die menschliche Seite gezeigt. Er verlangt eine Ausweisung in drei Monaten. Das ist ganz außergewöhnlich. Die meisten Kläger fordern, dass gleich am nächsten Morgen geräumt wird. Unsere Rechtsanwältin hat eine Frist von sechs Monaten vorgeschlagen, damit wir mit euch zusammen konkrete Lösungen finden können. Ihr werdet also in drei bis sechs Monaten vertrieben."
"Wenn wir sechs Monate Zeit gewinnen, können wir unsere Lage hoffentlich regeln."
"In dieser Zeit müssen wir weiter mit euch arbeiten, damit ihr Arbeit findet. Danach können wir anfangen, nach Wohnungen zu suchen."
Es ist Sommer. Das Gerichtsurteil ist gefallen: Vom 4. September an steht der Räumung durch die Polizei nichts mehr im Weg. Das Datum rückt näher, aber im Hüttenlager geht das Leben weiter wie zuvor. Eine Frau nimmt einen Schokoladenkuchen aus der Plastikhülle, stellt leuchtend rote Limonade auf einen Tisch. Von allen Seiten kommen Kinder angelaufen, stimmen ein Geburtstagslied an: Die kleine Rejina wird fünf Jahre alt. Es beginnt zu regnen. Im Nu ist der Kuchen aufgegessen, die Kinder verschwinden in den Hütten.
Auch Florin Lucan sucht in seiner Baracke Zuflucht. Er trägt sein Baby im Arm. Die Familie ist nicht im Hotel untergekommen, wie er gehofft hatte. Im Halbdunkel sind zwei große Betten voller Kissen zu sehen. Wände und Decke sind mit bunten Tüchern bespannt, es sieht gemütlich aus. In der Ecke steht ein Fernseher vom Sperrmüll auf dem Boden. Sein Hüttennachbar besitzt einen Generator und verkauft Strom, sagt Florin, er zahlt 1 Euro 50 pro Abend. [Olanta und Richard sitzen auf einem Bett und spielen Monopoly. Julietta kehrt mit einem Plastikbesen über die Teppiche, die den Erdboden bedecken.] Der Säugling ist in bunte Tücher und eine flauschige Decke eingewickelt und eingeschnürt wie ein kleines Paket. Er heißt Noé. Florin:
"Julietta hat am Freitag entbunden. Sie war bis Dienstag im Krankenhaus, also vier Tage lang. Bei der Geburt wog der Kleine 2.650 Gramm, danach hat er 150 Gramm verloren und dann gleich wieder zugenommen."
Anspruch auf Kindergeld
Francois Loret vom Kollektiv Romeurope hat dafür gesorgt, dass Julietta während der Schwangerschaft ärztlich betreut wurde und die Geburt im Krankenhaus vorbereiten konnte. Florin strahlt seinen Jüngsten an, atmet schwer durch. Die Verantwortung für vier Kinder macht ihm zu schaffen. Jetzt soll ein Arzt helfen, dass seine Frau zukünftig nicht mehr schwanger werden kann, sagt er. Mit dem Baby ist ihr Leben noch komplizierter. Florin:
"Ich habe eine Gasflasche gekauft, zwangsläufig. Auf dem Holzfeuer kann Schmutz ins Wasser und ins Essen kommen, das mag ich nicht. Für den Kleinen kaufe ich jetzt extra Wasserflaschen, für ihn nehme ich nie das Wasser aus dem Blumenbeet, nicht einmal, um ihn zu waschen. Wir haben wenig Geld, aber das muss einfach sein."
Er faltet die Hände wie zum Gebet, schaut in Richtung Himmel. Wenn Gott will, sagt Florin, wird er die finanziellen Sorgen bald los:
"Am Freitag hatte ich einen Job über eine Zeitarbeitsfirma. Weil ich gut arbeite, soll ich noch zwei weitere Tage kommen. Ich glaube, dass es sogar noch länger dauern wird. Wir müssen die Dachstühle von vier Wohnungen abreißen, die ausgebrannt sind und alles sauber machen."
Sobald er seine 60 Arbeitsstunden gesammelt hat, will er Francois Loret bitten, für ihn die Krankenversicherung zu beantragen, und dann hat er auch Anspruch auf Kindergeld.
Florin geht wieder hinaus ins Freie, wo ein paar Jungen im Regen Fußball spielen, gesellt sich zu seinem Schwager. Christian Bumbai kontrolliert die Pfosten vor seiner Hütte. Sie hat jetzt ein Vordach und einen Zaun. Beim letzten Gewitter ist es innen trocken geblieben, sagt Christian. Seine Frau steht in der Tür. Carmen Bumbai ist wütend: Das Fernsehen hat eine negative Reportage über Roma gebracht, wieder einmal. Auch Christian regt sich auf. Carmen Bumbai:
"Wir wollen Respekt! Im Fernsehen heißt es, wir seien Sklaven, und dass wir alle betteln und stehlen würden. Dabei wollen wir arbeiten und unsere Kinder zur Schule schicken, damit wir integriert werden. Wir sind auch keine dreckigen Zigeuner, wie manche sagen. Wenn wir wirklich mal schmutzig sind, dann liegt es nur daran, dass wir im Wald leben müssen. Ohne Wasser und ohne Klo. So kann man doch keinen Schritt nach vorne tun. Das ist kein Leben!"
"Die französische Regierung hat mehrmals gesagt: Die Roma aus Rumänien können sich nicht integrieren. Sie hat völlig Recht. Wissen Sie, warum? Monsieur Manuel Valls, der Premierminister, wenn er mit seiner Familie im Wald leben müsste, dann könnte er sich auch nicht integrieren! Niemals! Wenn man uns nur ein bisschen hilft, dann können wir uns sehr wohl anpassen, genau wie die Portugiesen, Spanier und Italiener vor uns auch. Aber im Wald – nie!"
Im September, spätestens im Oktober kommt der Bulldozer und macht das Lager platt. Alle wissen - dann müssen sie wieder bei Null anfangen: ein neues Gelände suchen, eine neue Hütte bauen, eine neue Schule finden. Bis zum nächsten Mal.
Die Autorin Bettina Kaps über die Arbeit an der Reportage:
"Vor meinem Supermarkt bettelt immer eine Roma-Frau und in der Pariser Metro sehe ich Roma, die betteln, und zwar mit Kindern. Das hat mich eigentlich immer recht unangenehm berührt. Aber dann habe ich mich gefragt, wie und wo leben diese Menschen eigentlich, und so kam es, dass ich nachgeforscht habe und ihre große Armut entdeckt habe. Und vor allen Dingen den starken Willen, da herauszukommen."
Bettina Kaps
Autorin Bettina Kaps© Privatfoto