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Nach High-Court-Urteil zum Brexit
"Wir haben jetzt ein riesiges verfassungspolitisches Erdbeben"

Durch das High-Court-Urteil erhalte das Parlament das Recht, über den Austritt aus der EU zu entscheiden, sagte der britische Politologe Anthony Glees im DLF. Im derzeitigen Parlament gebe es höchstwahrscheinlich keine Mehrheit für einen Brexit. Der Zeitplan von Premierministerin Theresa May sei vom Tisch. Es drohten Neuwahlen.

Anthony Glees im Gespräch mit Stefan Heinlein | 03.11.2016
    Ein Fußgänger trägt einen Schirm mit dem Union-Jack. Im Hintergrund ist Big Ben zu sehen.
    "Ich würde sagen, das Gerichtsurteil ist so schmerzlich, dass man nicht von einer Ohrfeige sprechen kann, sondern von einem sehr schweren Schlag." (AFP / Justin Tallis)
    Stefan Heinlein: In London begrüße ich jetzt den britischen Politikwissenschaftler Anthony Glees. Guten Abend, Herr Professor.
    Anthony Glees: Guten Abend.
    Heinlein: Wie schmerzhaft ist diese Ohrfeige des High Court für Theresa May?
    Glees: Sehr schmerzlich. Ich würde sagen, so schmerzlich, dass man nicht von einer Ohrfeige sprechen kann, sondern von einem sehr schweren Schlag. Wir sitzen jetzt in einem riesenhaften verfassungspolitischen und politischen Erdbeben in Großbritannien und die Lage ist wirklich nicht nur sehr labil, sondern auch sehr ernst.
    Heinlein: Was sind denn jetzt die Folgen dieses Erdbebens für die britische Demokratie und vor allem für den Brexit?
    Glees: Im Detail bedeutet es, dass das Parlament das Recht hat, rechtlich das Recht hat, zu entscheiden, ob Artikel 50, Austreten aus der EU, geschehen soll, dass das nicht eine Entscheidung der Regierung, des Kabinetts sein kann, sondern des ganzen Parlaments. Und die Richter haben ganz klar gesagt: Großbritannien ist eine parlamentarische Demokratie, wo das Parlament die Souveränität hat, nicht das Volk und auch nicht die Regierung. Über der Regierung steht die Souveränität vom Parlament. Und da es höchst wahrscheinlich ist, dass im jetzigen Parlament, das vor einem Jahr gewählt wurde, keine Mehrheit für Brexit besteht, bedeutet das, dass die Politik, die große Politik von Frau May des Brexits nicht in diesem Parlament stattfinden kann. Und das wiederum ist nicht nur verfassungspolitisch ein Problem, sondern vor allen Dingen jetzt auch politisch ein Problem für Frau May. Denn sie ist nur gewählt worden, weil sie bereit war, Großbritannien zum Brexit zu führen, und wenn sie das jetzt nicht kann, muss es entweder Neuwahlen in Großbritannien geben, was, ich glaube, höchst wahrscheinlich jetzt sein kann, oder die Position von Frau May wird so schwach sein, dass vielleicht es zu einem neuen Premierminister kommen wird.
    "Für die Tories wären Neuwahlen eine sehr gute Sache"
    Heinlein: Sie sagen es wird höchst wahrscheinlich Neuwahlen geben. Das heißt unter dem Strich, dass der Zeitplan für den Brexit - Ende März sollte ja das Austrittsschreiben in Brüssel vorliegen - jetzt bereits vom Tisch ist aus Ihrer Sicht?
    Glees: Es ist vom Tisch. Natürlich: Die Regierung kann appellieren, kann fragen, dass es zum höheren Gericht geht. Das wird wahrscheinlich geschehen. Aber das Ansehen, die Position von Frau May ist schon sehr viel schwächer geworden und um ihre eigene Position zu retten, wäre es vernünftig für sie, Neuwahlen zu haben. Denn nach allen Meinungsumfragen würden die Tories, die Brexit-Tories in einem neuen Parlament eine große Mehrheit haben. Die liegen so um 46 Prozent in den Meinungsumfragen. Labour dagegen liegt unter 27 Prozent. Für die Tories wären Neuwahlen eine sehr gute Sache und es würde auch dann den Brexit befördern. Auf der anderen Seite: Wenn Frau May sagen wird, wir müssen abwarten, wir können jetzt nicht so schnell zum Brexit gehen wie wir wollten, da besteht große Gefahr, dass nicht nur Nigel Farage, sondern die Brexiters in ihrer eigenen Partei sagen, das ist Verrat, mit diesem Verrat wird das britische Volk nicht fertig, und vielleicht, dass es zu Gewalttätigkeiten besonders im Norden von Großbritannien kommen wird. Man darf nie vergessen: Großbritannien ist durch das Referendum von David Cameron in zwei Teile geteilt worden. 48 Prozent wollten in der EU bleiben, 52 Prozent austreten. Es geht mitten durch und das ist die gefährliche labile Lage.
    Heinlein: Ist es in der Tat nicht heikel, dass jetzt Richter, die ja nicht gewählt worden sind, die High-Court-Richter, ähnlich wie in Deutschland die Bundesverfassungsrichter, klüger scheinen oder die Entscheidung des Volkes, eine Volksabstimmung, wenn es auch eine knappe Mehrheit war, aufheben mit ihrem Urteil und sagen, nein, das gilt nicht, das Parlament muss entscheiden? Ist das nicht in der Tat politisch heikel?
    Glees: Es ist heikel. Aber dass es heikel ist zeigt, wie sehr sich Großbritannien verändert hat. Denn es ist unsere Tradition seit Jahrhunderten, nicht nur seit Jahrzehnten, dass wir ein Volk sind, das rechtlich unsere Politik gestalten möchte durch Recht. Das macht Parlament, Parlament macht das Recht für uns. Und wenn das Volk wirklich sagt, den Richtern folgen wir nicht mehr, dem Parlament folgen wir nicht mehr, dann ist das wirklich eine Revolution gegen die Grundprinzipien, die Grundverfassungsprinzipien.
    "Es ist das Parlament, das die Souveränität, die politische Souveränität besitzt"
    Heinlein: Durch dieses Urteil wurde ja zunächst einmal die parlamentarische Demokratie gestärkt. Das haben Sie auch in Ihrer ersten Antwort betont.
    Glees: Natürlich! Die Richter sagen, im Grunde genommen bleibt Großbritannien eine parlamentarische Demokratie. Es ist das Parlament, das die Souveränität, die politische Souveränität besitzt. Wenn das Parlament mit einer Mehrheit für Brexit, für Artikel 50 stimmen wird, dann wird das geschehen. Aber da wir ein Parlament haben, wo die Mehrheit der Mitglieder höchst wahrscheinlich dagegen stimmen wird, würde es ein Parlament gegen das Volk geben. Und in Großbritannien - das sind Sachen, die man vielleicht in Venezuela, in anderen Teilen der sogenannten Dritten Welt erleben würde, aber dass das alles so schnell zerfallen ist nach der Brexit-Wahl am 23. Juni, das ist doch erstaunend.
    Heinlein: Der britische Politikwissenschaftler Anthony Glees. Wir haben das Gespräch vor dieser Sendung aufgezeichnet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.