Forum für polnische und deutsche Historiker

Michael Müller im Gespräch mit Susanne Führer · 24.05.2012
Im Jahr 1972 hat die neue Ostpolitik Willy Brandts auch den Weg für die Deutsch-Polnische Schulbuchkommission frei gemacht. Wie der Historiker und Kommissionsvorsitzende Michael Müller sagt, besteht zwischen den Schulbüchern von damals und heute ein "himmelweiter Unterschied".
Susanne Führer: Der Historiker Michael Müller ist einer der beiden Vorsitzenden der Kommission, und bevor er sich auf den Weg nach Braunschweig gemacht hat (wo das 40-jährige Bestehen mit einem Festakt gefeiert wird), habe ich ihn gefragt, welche Aufgabe die Deutsch-Polnische Schulbuchkommission 1972, also zu Zeiten des Kalten Krieges, zugewiesen bekommen hat?

Michael G. Müller: Sie hat ihre Aufgabe selber definiert. Sie ist ja entstanden unter der Schirmherrschaft der nationalen UNESCO-Kommission, und die Idee war eindeutig, es solle sich um eine unabhängige, eine selbstbestimmte Initiative handeln, die darauf reagiert hat, dass die völlige Unvereinbarkeit dieser konflikthaften Geschichtsbilder ein großes Hindernis war für Normalisierung und Verständigung.

Führer: Na ja, gut, aber wenn schon eine Schulbuchkommission gegründet wird, muss doch irgendwie eine konkretere Aufgabe doch dran gebunden gewesen sein.

Müller: Natürlich. Vorausgegangen waren Analysen von Schulbüchern, die ergeben haben, dass die Darstellung der Geschichte der Beziehung zwischen Polen und Deutschen in beiden Ländern in den Schulbüchern katastrophal war, und dass daran etwas geändert werden musste. Und die Aufgabe war erst einmal, Empfehlungen zu erarbeiten, wie die Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen in Schulbüchern im Realfall dargestellt werden sollte.

Führer: Das war ja interessanterweise ein Vertrag beziehungsweise eine Kommission zwischen Polen und Westdeutschland, also der Bundesrepublik Deutschland, …

Müller: Das ist richtig, ja.

Führer: … was war eigentlich mit der DDR?

Müller: Da gab es auch eine Kommission, nur hat die nicht frei handeln können, und die DDR-Schulbücher waren einfach Kopien gewissermaßen sowjetischer Schulbücher, also es gab einen anderen Diskussions- und Revisionsbedarf als zwischen der Bundesrepublik und der Volksrepublik.

Führer: Nicht verhandeln dürfen, haben Sie gesagt, Herr Müller. Ich stelle mir vor, dass Ähnliches ja auch für die polnischen Historiker galt, die in der deutsch-polnischen Schulbuchkommission saßen. Die waren ja von staatlicher Seite handverlesen, wie konnte denn da überhaupt eine Annäherung dann stattfinden?

Müller: Die Situation der Historiker in der Volksrepublik Polen war eine ganz andere als die in der DDR. Das war im Vergleich zur DDR eine sehr selbstständige, auch eine frei agierende Wissenschaft, auch in der Zeit. Und handverlesen kann man so nicht sagen. Es gab auch eine beträchtliche Zahl von parteilosen Historikern in der Kommission, die auch eine sehr wichtige Rolle gespielt haben.

Führer: Ich habe gelesen, dass in den Empfehlungen der Kommission – die ersten, die dann 1976 veröffentlicht worden sind –, das, was die Deutschen Vertreibung nennen, als Bevölkerungsaustausch bezeichnet wurde, und insofern fand ich es nicht verwunderlich, dass das dann in der Bundesrepublik sehr umstritten war?

Müller: Na ja, sehr technisch gesehen, analytisch gesehen ging es um Zwangsmigration und Bevölkerungsaustausch. Der Begriff Vertreibung ist ja auch nicht präzise. Worüber wir wirklich reden – und das ist Konsens zwischen deutschen und polnischen Historikern –, sind Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung. Und zwar nicht nur von Deutschen, sondern die Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung hat in den ersten Wochen des Zweiten Weltkriegs begonnen mit der Vertreibung und Zwangsumsiedlung von Polen durch die deutsche Besatzungsmacht.

Führer: Schon klar, aber ich meinte jetzt, rückblickend auf 1976 wirkte es natürlich so, als wenn jetzt die westdeutschen Historiker vor den polnischen da eingeknickt wären, als dann sie diesen Begriff akzeptiert haben.

Müller: Das kann man so nicht sagen, das ist ein analytisch durchaus nicht unzutreffender Begriff, und die Tatsache, dass überhaupt davon die Rede war, war ein beträchtlicher Erfolg der deutschen Seite damals.

Führer: Sagt Michael Müller, er ist Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission, die heute ihr 40-jähriges Bestehen feiert. Herr Müller, wo liegen denn heute die Konflikte zwischen Deutschen und Polen in der Kommission?

Müller: In der Kommission gibt es keine Konflikte, es gibt keine Konflikte zwischen deutschen und polnischen Historikern, sondern das ist wie in jeder Wissenschaft auch, da gibt es Schulenbildungen, große Interpretationskämpfe, aber da laufen die Konfliktfronten nicht zwischen Deutschland und Polen, sondern zwischen bestimmten Gruppen von Historikern. Die absurde Situation ist ja schon seit vielen Jahren, dass sich die Historiker in der Sache, in der Analyse und der Interpretation historischer Ereignisse überhaupt nicht unterscheiden. Was aber die Historiker meinen, hat nur sehr begrenzten Einfluss darauf, was öffentliche Geschichtsbilder sind. Das ist das Problem wahrscheinlich mehr.

Führer: Öffentliche Geschichtsbilder, dazu gehören auch die Schulbücher, dann blicken wir jetzt mal auf die. Wenn Sie die jetzt vergleichen, also vor 40 Jahren, als die Kommission ins Leben gerufen wurde, und heute, was hat sich getan, was hat sich verbessert? Fangen wir mal mit den polnischen Geschichtsbüchern an.

Müller: Das ist ein himmelweiter Unterschied. Wir können ruhig das Beispiel nehmen, Flucht, Vertreibung, Zwangsumsiedlung, das kommt seit einiger Zeit auch in neueren Schulbüchern in Polen vor und wird als ein Problem nicht nur polnischer Opfergeschichte dargestellt, sondern als ein komplexes Problem, wo es Opfer und Täter auf beiden Seiten gibt. Trotzdem ist die Arbeit an den Geschichtsbüchern nicht abgeschlossen, und deshalb hat sich ja die Kommission kurz vor ihrem 40. Jubiläum entschlossen, nun endlich selber ein Schulbuch zu konzipieren, das wir gemeinsam schreiben.

Führer: Und die deutschen Geschichtsbücher, wie haben die sich verändert?

Müller: Die deutschen Geschichtsbücher haben sich vielleicht noch dramatischer verändert, weil in dem Sinne, das Polen überhaupt nicht vorkam in deutschen Schulbüchern bis in die 1960er- und 1970er-Jahre. Wenn von Polen die Rede war, dann allenfalls in dem Zusammenhang, dass Polen Täter bei der Vertreibung der Deutschen gewesen seien. Ansonsten hat man das Gefühl, dass Polen in der historischen Geografie Europas und auch der deutschen Nachbarschaft überhaupt nicht vorkam. Deshalb gab es schon von Anfang an eigentlich einen viel größeren Nachholbedarf auf der deutschen Seite als auf der polnischen.

Führer: Also das ist eines der Defizite, was heute noch besteht?

Müller: Das hat sich deutlich verbessert, aber wir sind immer noch weit davon entfernt, den Platz Deutschlands in der europäischen Geschichte – nicht nur nach Westen hin – in richtige Zusammenhänge zu stellen, sondern auch nach Osten.

Führer: Sie haben es angesprochen, jetzt arbeitet die Kommission seit vier Jahren an einem eigenen, deutsch-polnischen Geschichtsbuch. Der erste Band soll 2014 erschienen.

Müller: Richtig.

Führer: Das heißt also sechs Jahre für so ein Buch – das kommt mir als Journalistin sehr lang vor, Sie als Wissenschaftler sagen wahrscheinlich, das ist rasend schnell, ich weiß es nicht. Wovon wird denn der erste Band handeln, von welcher Epoche?

Müller: Von der Antike und vom Mittelalter. Darf ich etwas noch sagen zu dem Zeitplan? Also wir haben 2008 begonnen. Ende 2010 war unsere Kommission mit ihrer ersten Aufgabe fertig, nämlich mit der Vorlage eines ungefähr 110 Seiten starken Textes von Empfehlungen. Dann hat es eine kleine Pause gegeben, weil die Suche nach Verlagen komplizierter war, als man gedacht hat, und für Schulbuchverlage ist ein Zeitraum von zwei, drei Jahren für die Erstellung eines völlig neuen Lehrwerks eine sehr kurze Zeit.

Führer: Aber das müssen Sie mir erklären, warum jetzt deutsche und polnische Historiker an einem Geschichtsbuch über die Antike arbeiten.

Müller: Der Punkt ist, dass wir kein deutsch-polnisches Geschichtsbuch schreiben wollen, das also die Geschichte der Beziehungen zwischen Deutschland und Polen in den Vordergrund stellt, sondern wir wollen ein europäisches Geschichtsbuch schreiben, und zwar ein Buch über europäische Geschichte von den Anfängen bis in die Gegenwart, und man kann sagen, es ist nur ein Nebeneffekt, ein Zufall, dass polnische und deutsche Historiker das gemeinsam schreiben. Aber die Adressaten sind nicht nur Deutsche und Polen und hier jeweils die Grenzregionen oder die besonders am Nachbarn interessierten, sondern das soll ein Schulbuch werden, das allgemein an den Schulen als das normale Werk für Geschichte eingesetzt werden soll. Und deshalb müssen wir mit der Antike beginnen.

Führer: Und das kann eingesetzt werden, aber es muss nicht?

Müller: Kein Schulbuch muss eingesetzt werden. Unser System funktioniert ja so, dass Verlage Schulbücher produzieren, die werden dann von den Bundesländern zugelassen oder nicht zugelassen, und dann ist es Entscheidung der Bundesländer und der einzelnen Schulen, welches Lehrwerk sie auswählen für ihre Schüler. Das war schon immer so und das bleibt auch jetzt so.

Führer: Der Osteuropakorrespondent der "Süddeutschen Zeitung", Thomas Urban, der hat jetzt gerade zu Ihrem Jubiläum der Schulbuchkommission geschrieben, dass die Arbeit nur ein sehr geringes Echo finde, weil – ich zitiere – "ihr Hauptproblem nicht lösbar ist: Sie hat keine Handhabe, ihre Empfehlungen durchzusetzen". Teilen Sie seine Einschätzung?

Müller: Nein, natürlich teile ich die überhaupt nicht. Der erste Punkt: Herr Urban hat erstaunlicherweise völlig unterschlagen, denn unbekannt kann es ihm nicht sein, dass wir sehr viele und sehr erfolgreiche Materialien zur Unterstützung von Lehrern und Schülern produziert haben.

Führer: Erfolgreich heißt, dass sie auch benutzt worden sind.

Müller: Das heißt, dass sie sehr viel benutzt werden, besonders ein Band über Polen und Deutsche im 20. Jahrhundert, das in mehreren Auflagen erschienen ist und von Lehrern intensiv genutzt wird. Er hat auch erstaunlicherweise unterschlagen, dass wir nun eigentlich fertig sind, was die Expertenarbeit angeht mit der Konzipierung dieses großen vierbändigen Schulbuchs. Aber das ist nicht das Wichtige: Er beklagt den Mangel an institutioneller Durchsetzungsmacht. Das ist aber nun gerade die Stärke dieser Kommission, dass sie von Anfang an eine sozusagen zivilgesellschaftliche Einrichtung war und nur durch Überzeugung wirken konnte.

Führer: Sie werden ja demnächst vom Vorsitz zurücktreten, habe ich erfahren, Herr Müller.

Müller: Das ist richtig.

Führer: Was wünschen Sie denn ihrem Nachfolger und der Kommission vor allem für die Zukunft?

Müller: Ich wünsche der Kommission einerseits, dass sie weiter fantasievoll diese Rolle ausfüllt, die sie bisher auch immer hatte, nämlich das einzige regelmäßige Forum für den Dialog für polnische und deutsche Historiker zu sein, und ich wünsche ihr auch, dass sie in der Sphäre der Schulbuchanalyse, Schulbuchkritik und Empfehlungsarbeit auch weiter macht, auch wenn dieses unser "eigenes Schulbuch" in Anführungsstrichen auf dem Markt ist.

Führer: Das sagt Michael Müller, er ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Uni Halle-Wittenberg und Vorsitzender – noch – der deutsch-polnischen Schulbuch-Kommission.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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