Fortschritt

Von der Erfindung des Rades bis zur Nanotechnik

Modell einer historischen Dampfmaschine
Die Dampfmaschine soll die Industrialisierung ausgelöst haben - hier im Modell. © picture alliance / dpa / Hendrik Schmidt
Von Wolfgang Schneider · 29.06.2015
Der Schweizer Marcel Hänggi untersucht in seinem Buch zwölf "Fortschrittsgeschichten". Der Technikexperte analysiert, wie technischer Wandel zustande kommt, wie wir ihn wahrnehmen und was er der Gesellschaft bringt.
"Fortschritt" – der Begriff besitzt ein verblichenes Pathos, einen aufklärerisch-moralischen Unterton von gesellschaftlicher Gesamtverbesserung, und oft hat sich der vermeintliche Fortschritt im Nachhinein allenfalls als Seitwärtsbewegung herausgestellt. Deshalb wird der Begriff von Politikern kaum noch in den Mund genommen. Stattdessen ist "Innovation" zum Fetisch geworden.
Wenn der Schweizer Wissenschaftsjournalist Marcel Hänggi nun ein Buch mit "Fortschrittsgeschichten" vorlegt, dann ist das eine Kritik der Inhaltsleere des Innovationsdiskurses, der das Neue per se als das Neue preist und sich ansonsten wertfrei gibt. Hänggi geht es um die Bewertung von Technik, als Voraussetzung für den guten, gelungenen Umgang mit ihr. Aber bevor er am Ende zum Appell ansetzt, erzählt er in seinem Buch erst einmal spannende Technikgeschichten.
Dabei bürstet er geläufige Mythen des Fortschritts – von der Erfindung des Rades bis zur Biotechnologie – gegen den Strich. Er stellt in Frage, dass wissenschaftliche Entdeckungen und Erfindungen zwangsläufige Voraussetzungen gesellschaftlicher Umwälzungen waren. Stand die Dampfmaschine wirklich am Beginn der Industrialisierung? Wäre ohne die Eisenbahn die Erschließung des amerikanischen Westens nicht möglich gewesen?
Starke Prestigegründe und Verbandsinteressen
Fortschrittsgeschichte erweist sich oft als verwinkelt. Als die Anästhesie bei Operationen schon möglich gewesen wäre, wurde sie von den "Schulmedizinern" trotzdem noch nicht angewandt. Denn Hypnose-Schlaf zu Heil- und Operationszwecken war eine Domäne der Konkurrenz – der Mesmeristen mit ihrer "Irrlehre" vom Animalischen Magnetismus. So sind es immer wieder Prestigegründe und starke Verbandsinteressen, die die Fortschrittsgeschichte mitbestimmen.
Man hätte die Erschließung des amerikanischen Westens auch durch den weiteren Ausbau der Fluss- und Kanalschifffahrt vorantreiben können. Aber das wuchtige "Dampfross" hatte das symbolische Kapital als große, voranpreschende Maschine für sich und ermöglichte es den neuen Aktiengesellschaften, Unmengen von realem Kapital einzusammeln, das nun der Schifffahrt nicht mehr zur Verfügung stand. Mehr noch, die großen Eisenbahngesellschaften kauften Kanalgesellschaften auf, um sie stillzulegen.
Historische Entscheidungen und Zufälle
Ganz ähnlich verfuhr später die Automobilindustrie mit den Nahverkehrsnetzen der Eisenbahn. Sie bewirkte in den USA eine starke Entdifferenzierung der Verkehrssysteme; die komfortablen Personenzüge, die Straßenbahnen, die Fahrräder (die als Arbeiter-Vehikel keinen Distinktionsgewinn versprachen) und selbst die Bürgersteige fielen der Autogesellschaft zum Opfer. Diese erscheint heute allerdings so fragwürdig wie die einst so prestigeträchtigen Errungenschaften des Atomstroms oder des Überschallpassagierflugzeugs.
Hänggi legt das komplexe Zusammenspiel von technischer Innovation und Gesellschaft dar. Wie wir die Welt einrichten, schreibt er, sei "Resultat historischer Entscheide und historischer Zufälle. Es hätte immer auch anders kommen können." Hänggi will den Andersblick für die Alternativen schulen. Dieses Buch macht Vergnügen.

Marcel Hänggi. Fortschrittsgeschichten - Für einen guten Umgang mit Technik
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2015
304 Seiten, 12,99 Euro

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