Forstwirte machen große Inventur

Von Dirk Asendorpf · 26.02.2012
Sieben Milliarden Bäume stehen in deutschen Wäldern, 400.000 davon nehmen Experten jetzt unter die Lupe - im Rahmen der Bundeswaldinventur, die nur alle zehn Jahre stattfindet. Das Ziel ist ein vollständiger Überblick über den Zustand des deutschen Waldes.
Querbeet sucht Peter Seefeldt seinen Weg durch die Hahnheide, einen der größten Wälder nördlich von Hamburg. Die Sonne wirft warmes Licht durch das Blätterdach des lichten Buchenwalds, aus dem weichen Boden dampft es feuchtkühl, es riecht zart nach Pilzen. Ein Profi-Navigationssystem leitet ihn.

"Hier am GPS kann ich sehen, ob wir die richtige Richtung haben. Ich suche jetzt oben den Rechtswert 200 und den Hochwert 350. Das heißt, wir sind jetzt ein bisschen zu weit nach Osten abgedriftet, müssen ein bisschen mehr nach links."

Den ganzen Tag werden der Forstwirt und sein Kollege hier verbringen. Jeder hat einen Rucksack dabei, vollgestopft mit Messinstrumenten. Vor der Brust trägt Peter Seefeldt einen wasserdichten Klappcomputer, hinter seinem Rücken ragt die GPS-Antenne in die Luft, in der Hand hält er ein Metallsuchgerät.

Unter der dicken Blätterschicht kommt eine Metallstange zum Vorschein: Aufnahmepunkt 24964-B, einer von rund 60.000 Probepunkten der Bundeswaldinventur. Alle zehn Jahre wird an jedem einzelnen von ihnen untersucht, wie der Wald sich verändert hat. 60 Zweierteams sind seit Anfang 2011 zwischen Flensburg und Passau, Freiburg und Greifswald dafür unterwegs.

Peter Seefeldt und sein Kollege kümmern sich um den Süden Schleswig-Holsteins. Hier geht es nicht nur – wie beim jährlich erhobenen Waldzustandsbericht – um Baumschäden. Die Waldinventur soll auf wesentlich breiterer Stichprobenbasis einen vollständigen Überblick zum Zustand des deutschen Waldes liefern – von der biologischen Vielfalt über die verfügbare Holzmenge bis hin zu seiner Treibhausgasbilanz.

"Wir wollen wissen: Wie war die Waldbewirtschaftung in den vergangenen Jahren? Ist sie in eine Richtung gegangen, die unseren politischen Vorstellungen entsprochen hat? Und die Zahlen werden zeigen, ob wir in diese Richtung gegangen sind."

Die Durchführung der Bundeswaldinventur ist Ländersache. In Schleswig-Holstein ist Rolf Peter Hinrichsen von der Obersten Forstbehörde dafür zuständig.

"Dann brauchen wir auch eine Rückkopplung im Rahmen der Betrachtung weltweit: Wie stehen wir eigentlich im internationalen Vergleich mit unserer Waldbewirtschaftung? Es gibt ja immer mehr auch Berichtspflichten gegenüber der EU und dafür liefert die Bundeswaldinventur ganz hervorragende Ergebnisse."

Die Deutschen und ihr Wald: Die tiefe Verbundenheit ist Mythos – und sie lässt sich in Zahlen und Fakten ausdrücken. Deutschland verfügt über die größten Holzvorräte der Europäischen Union. 11,1 Millionen Hektar, ein Drittel unseres Landes, sind bewaldet, in den vergangenen 40 Jahren ist diese Fläche sogar noch um zehn Prozent angewachsen.

"Wir gucken durch einen Winkel durch und alle Bäume, die dicker sind als dieser vorgegebene Winkel, die werden mitgezählt. Also auf ein Meter Entfernung wird auch ein sieben Zentimeter dicker Baum gemessen, und eben wenn so ein Baum einen Meter dick ist, dann wird er auch aus 30 Metern mit aufgenommen."

Nachdem er festgestellt hat, welche Bäume zum zu erfassenden Aufnahmepunkt gehören, markiert Peter Seefeldt sie mit kleinen angepinnten Nummernkärtchen. Elf Stück sind es diesmal. Vor zehn Jahren, so sagt es sein Computer, waren es nur zehn. Eine Buche, die damals noch mitgezählt worden war, ist inzwischen ins Sägewerk gewandert, von ihr ist nur noch der halb vermoderte Stubben zu sehen. Dafür sind eine Esche und eine Buche so weit nachgewachsen, dass sie jetzt ins Raster der Erhebung fallen. Als Nächstes wird die Höhe der Bäume erfasst. Peter Seefeldt blickt durch den Sucher seines Ultraschallmessgeräts und wiegt dabei den Kopf hin und her.

"Ich muss sehen, wo die Krone zu Ende ist oben. Wenn es ein bisschen windig ist, das ist ganz hilfreich, weil sich dann die Kronen bewegen und ich sehe, welche zu welchem Baum gehört. Jetzt nimmt das Gerät die Entfernung in Brusthöhe und zeigt mir direkt die Höhe an: 29,90 Meter. Und das ist keiner von den höheren hier."

Sieben Milliarden Bäume stehen in deutschen Wäldern, rund 400.000 davon werden bei der Waldinventur unter die Lupe genommen, ausgewählt nach einem strengen statistischen Zufallsprinzip. Die leicht lädierte Eiche, deren Höhe und Durchmesser Peter Seefeldt gerade bestimmt, steht also für fast 20.000 andere. Exakte Arbeit ist gefragt, denn jeder Fehler würde sich vervielfachen.

Die Inventur wird von selbständigen Waldgutachtern vorgenommen und nicht vom zuständigen Revierförster. Im besten Fall soll der gar nicht wissen, wo sich die Erfassungspunkte befinden. Zu groß wäre die Versuchung, genau dort für einen perfekten Wald zu sorgen – und damit die Statistik zu verfälschen.

Hier würde man es kaum merken. Die Hahnheide steht – wie ein Sechstel des deutschen Waldes – unter Naturschutz, und das schon seit Jahrzehnten. Der Bestand ist nach Arten und Alter gemischt, Kahlschlag und Wiederaufforstung, die sogenannte Altersklassenwirtschaft, gibt es hier schon lange nicht mehr. Gefällt werden immer nur einzelne Bäume, dazwischen verjüngt sich der Wald selbst.

"Ich schätze jetzt die Bäume bis vier Meter Höhe ein. Das ist die Verjüngungsschicht. Und ich würde sagen: 25 Prozent etwa der Fläche ist bereits verjüngt."

Rund 110 Millionen Kubikmeter Holz wachsen jedes Jahr in deutschen Wäldern heran. Fast die gleiche Menge wurde im vergangenen Jahr eingeschlagen. Das sind 25 Prozent mehr als noch vor zehn Jahren – und trotzdem dürfte es schon bald zu wenig sein. Fachleute gehen davon aus, dass dem Waldland Deutschland ab 2020 jedes Jahr 20 bis 40 Millionen Kubikmeter fehlen werden. Der Grund: Immer mehr Holz wird zur Wärme- und Stromerzeugung verheizt. Schon hat die sogenannte energetische mit der stofflichen Holznutzung fast gleichgezogen. In 150.000 Kellern bullert hierzulande eine Holzpelletheizung. 2011 wurden mehr als 1,5 Millionen Tonnen der gepressten Holzkügelchen verbrannt.

Mit Abfällen aus Sägewerken kann die boomende Pelletindustrie ihren Bedarf schon längst nicht mehr decken. Im Wald geht der Trend deshalb zur sogenannten Ganzbaumernte. Nicht nur die Stämme werden abgefahren, sondern auch Kronen, kleine Äste und Zweige, die als Bauholz ungeeignet sind. Geschreddert liefern sie den Rohstoff der Pelletproduktion.

Am Aufnahmepunkt 24964-B ist von diesem Trend noch nichts zu sehen. Ein paar Meter entfernt stapeln sich in einem Sturm umgestürzte Buchen wie gigantische Mikadostäbchen zu einem wilden Haufen. Der Revierförster hat sie liegen lassen, denn das tote Holz ist wichtig für die Erneuerung der Nährstoffe im Waldboden und es dient als Lebensraum für Pilze und Insekten. Mit einer Kluppe, einer Art überdimensionalem Messschieber, erheben die Gutachter den Durchmesser aller abgestorbenen Stämme und Äste, die auf dem Waldboden herum liegen.

"Jetzt ist mein Kollege grade mit dabei im Fünfmeterkreis Totholz aufzunehmen, alles Totholz, das dicker als zehn Zentimeter ist, wird vermessen um die Masse auch zu erfassen."

In früheren Waldinventuren wurde Totholz erst ab 20 Zentimetern Durchmesser berücksichtigt. Diesmal wurde die Schwelle halbiert. In der Statistik wird der Totholzanteil damit steigen – im Wald allerdings nicht. Eine gefährliche Selbsttäuschung, meinen Umweltverbände – und kritisieren auch den zunehmenden Einsatz tonnenschwerer Erntemaschinen. Sie zerstören den Waldboden und führen zu Erosion. Aufmerksam sucht Peter Seefeldt nach ihren Spuren.

"Also hier ist keiner rein gefahren, um irgendwas zu holen oder so. Gerade in diesem weichen Boden würde man das ja sofort sehen, wenn hier mal ein Schlepper rein gefahren ist oder eine Brennholzwerber mit seinem PKW und Anhänger dran. Ich sehe hier keinerlei Spuren. Bewirtschaftet wird es, aber eben ordentlich von den Rückelinien aus. Wo die Fahrer denn eben genau wissen: Wir müssen immer diesen Weg fahren. Und dann greifen die mit ihrem 10-Meter-Arm oder 15-Meter-Arm seitlich und holen sich die Bäume ran. Das ist um Bodenverdichtung zu vermeiden."

Am Schluss lässt der Forstingenieur noch einmal den Blick über den Aufnahmepunkt schweifen. Gibt es Auffälligkeiten, die bisher durchs Raster der vorgegebenen Fragen gefallen sind? Das ist nicht der Fall. Er drückt auf die Enter-Taste seines Klappcomputers.

"So, damit habe ich jetzt meine Ermittlungen abgeschlossen. Dann habe ich hier eine Prüfroutine, auf die Leuchte drücke ich da, und dann speichert er erstmal das und prüft und gibt mir Fehler, ob ich irgendwas vergessen habe. Keine Meldung, also alles ok."

Einige Aufnahmepunkte werden später von Kontrolleuren noch einmal genau unter die Lupe genommen. Größere Fehler fallen dabei äußerst selten auf. Karsten Dunger ist am Johann-Heinrich-von-Thünen Institut im brandenburgischen Eberswalde für die Auswertung zuständig.

"Die Daten zur Bundeswaldinventur sind sehr zuverlässig im Hinblick auf die Gesamtwerte für Deutschland. Wir haben zum Beispiel für die Waldfläche selbst einen Stichprobenfehler von unter 0,3 Prozent, das ist also ein sehr stabiler Wert, die Waldfläche, die wir nachweisen, ist sozusagen hochgenau. Ähnliches gilt auch noch für den Holzvorrat."

Trotzdem soll die Erfassung in Zukunft objektiver und vor allem schneller und billiger werden. Am Institut für Waldwachstumskunde der Universität München steht dafür bereits ein Laserscanner, der Baumhöhe, Stammdurchmesser, Überschirmungsgrad und Verjüngung in einem Arbeitsgang weitgehend automatisch ermitteln kann. Statt einer Stunde würde das Abarbeiten eines Aufnahmepunktes damit nur noch fünf Minuten dauern. Für Peter Seefeldt wäre das nichts. Er liebt die Handarbeit im Wald – trotz mancher Widrigkeit.

"Wir haben mitunter auch Flächen, da stehen wir dann bis hier oben in der Brennnessel, das ist nicht so schön. Oder man muss auch in sumpfige Bereiche, man wird manchmal von Mücken gequält. Dann kämpfen wir uns durchs Unterholz, manchmal auch über landwirtschaftliche Flächen, wenn das so Inseln sind, und das sind dann ja auch die nassen Senken, dass wir da dann so Erlenbrüche haben oder so was. Das ist dann schon mal ein bisschen anstrengend, aber auch immer irgendwo spannend, ob man da dann auf Wildschweine trifft – oder auf die Landwirte, die dann erbost sind, dass wir da sind. Aber dann müssen wir denen halt erklären, dass wir die Berechtigung dazu haben, auch die Pflicht haben, das zu machen."

So steht es im Bundeswaldgesetz. Denn der richtige Weg zum Wald von morgen lässt sich nur finden, wenn man weiß, wie der Wald von heute aussieht. Hierfür liefert die Bundeswaldinventur die Fakten.

Doch der Wald ist ja nicht nur ein wirtschaftlicher Faktor. Seine Bedeutung hat er ganz speziell auch für Klima, Umwelt, Wasserhaushalt und Erholung. Wer das vergisst, der sieht buchstäblich den Wald vor lauter Bäumen nicht.