Forschung über die "Rennpferde unter den Ameisen"

Rüdiger Wehner im Gespräch mit Ulrike Timm · 24.07.2009
Rüdiger Wehner, Neurobiologe und Direktor des Zoologischen Instituts Zürich, erforscht, welche Reize die Wüstenameise Cataglyphis zur örtlichen Orientierung einsetzt. Für die hochkomplexe Naviationsleistung - das "GPS im Ameisenhirn" - interessiere sich unter anderem die Künstliche-Intelligenz-Forschung.
Ulrike Timm: Und jetzt ist er uns zugeschaltet. Schönen guten Tag, Herr Wehner!

Rüdiger Wehner: Guten Tag!

Timm: Wenn man seiner Umgebung erzählt, ich bin Ameisenforscher, stößt man da eigentlich gelegentlich auf Vorbehalte?

Wehner: Allerdings. Nur muss ich gleich hinzufügen, dass ich im Grunde gar kein Ameisenforscher bin. Ich bin fasziniert von diesem einen Organismus Cataglyphis, und wenn diese Cataglyphis, sagen wir mal, ein Nasobem wäre, so ein Fantasietier, dann wäre es halt ein Nasobemologe.

Timm: Ist aber ein schöner Titel, Ameisenforscher, oder?

Wehner: Es gibt Ameisenforscher, die sich wirklich mit dem Gesamtkomplex Ameisen befassen, mit der Sozialstruktur, dem Innenleben, der Kommunikation zwischen den Individuen und so weiter, aber ich kenne an sich keine andere Ameisengruppe als die Cataglyphiden.

Timm: Herr Wehner, wir haben mal ein paar ganz unbedarften Menschen die Frage gestellt: Was, glauben Sie, macht ein Ameisenforscher? Das haben sie uns erzählt:

O-Töne: Ich glaube, der Ameisenforscher wird die Ameisen sezieren und dann die anatomischen Beschaffenheiten erforschen.

Ich könnte mir vorstellen, dass der halt den ganzen Tag vor so ’nem Hügel sitzt und den auch mit Video aufzeichnet.

Ich würd’s mir so vorstellen wie ein Förster, der durch den Wald läuft.

Er ist es gewohnt, dass um seine Füße sehr viele Ameisen wandern.

Ich glaube, dass der Ameisenforscher die auch zerschneidet und untersucht unterm Mikroskop.

Ja, vielleicht gibt es auch solche Geräte wie für Arthroskopie oder so etwas, wo man dann in die Ameisenhaufen reinschauen kann.

Also ich denke, man wird vermutlich sehr, sehr lange vor Terrarien rumhängen, in denen sich die Ameisen nach und nach ihren Staat aufbauen, und wahrscheinlich versinkt man ziemlich in diesem Ameisendenken und identifiziert sich irgendwann auch damit.

Timm: Soweit die Fantasie. Herr Wehner, was macht ein Ameisenforscher wirklich?

Wehner: Also vieles von dem stimmt. Ich bin allerdings noch keine Ameise, insoweit versenke ich mich nicht in die Ameisen hinein. Aber der eine Aspekt betraf die Anatomie, die Sektion von diesen Tieren. Und in der Tat, wir sezieren natürlich die Gehirne sehr genau, untersuchen sie mit verschiedenen mikroskopischen Verfahren, Elektrodenmikroskopie, Lichtmikroskopie, betreiben also Hirnforschung, wie man sie auch bei Mäusen zum Beispiel betreibt. Insofern stimmt es. Dass meine Füße allerdings in einem Ameisenhaufen stehen, das trifft nicht zu, denn diese Wüstenameisen, die leben in weiten Gebieten der Sahara, sind alle unterirdisch, also bilden keinen Ameisenhaufen wie unsere Waldameisen. Nur eine kleine Öffnung an der Oberfläche des Wüstenbodens zeigt, dass da im Untergrund eine Ameisenkolonie von einigen Hundert bis einigen Tausend Individuen nur besteht. Und was wir untersuchen, ist halt, dann die Ameisen, sobald sie das Nest verlassen haben – jedes Tier geht individuell allein auf Beutesuche –, diese Tiere zu verfolgen, ihnen mit gewissen optischen Instrumentarien das Himmelslicht, nach dem sie sich in erster Linie orientieren, zu verändern und auf diese Weise im Verhalten herauszufinden, welche Reize am Himmel sie für ihre Navigation einsetzen.

Timm: Lassen Sie uns mal bleiben beim Hirn der Wüstenameise – das muss ja winzig klein sein –, und Sie lernen praktisch als Forscher die Navigationsmechanismen, den Bordcomputer, wie meine Kollegin vorhin sagte, der Wüstenameise kennen. Warum interessiert Sie der so sehr?

Wehner: Also in der Tat, wir untersuchen diesen Bordcomputer, das Gehirn, wie Sie sagten, sehr klein, 0,1 mg. Und was uns interessiert, ist, dass eine sehr komplexe Aufgabe dieser Navigation, zum Beispiel sich über Hunderte von Metern in gewundenem Lauf über den Wüstenboden zu bewegen und dann gradlinig die kürzeste Verbindung zum Netz wieder einzuschlagen. Das ist eine hochkomplexe Leistung, für die sich zum Beispiel die Künstliche-Intelligenz-Forschung, die Komplexitätsforschung, Kognitionsforschung und so weiter interessieren, gewissermaßen das GPS in dem Ameisenhirn, also eine Megaleistung mit einem Minihirn zu lösen. Das ist eine Frage, die uns interessiert und die die Künstliche-Intelligenz-Forschung interessiert. Wir selbst haben kleine Roboter gebaut, die nach dem Prinzip der Ameisen, die sind sehr relativ einfach gebaut und trotzdem können sie einige Aspekte, zumindest diese Navigationsleistung der Ameisen, nachvollziehen.

Timm: Was denn zum Beispiel, was hat sich bei den Robotern verändert, wenn man die Wüstenameise kennt?

Wehner: Wenn man zum Beispiel das polarisierte Himmelslicht, das ist dieser physikalische Aspekt des Himmelslichtes, den wir untersuchen und den die Ameise in erster Linie verwendet, und wenn man dann mit nur einem kleinen Himmelsfleck trotzdem navigieren will, dann wäre das physikalisch gesehen eine hochkomplexe Leistung. Da müsste man mehrere Rechenoperationen durchführen, Messungen am Himmel und so weiter. Und die Ameise macht das mit einem relativ einfachen Trick, den ich jetzt hier im Detail nicht beschreiben kann, der aber, wie vorhin gesagt, in der Mehrzahl der Fälle zum Erfolg führt. Ein robustes System, wie das die Informatiker nennen.

Timm: Herr Wehner, ich muss mal zu dem kleinen Vieh selbst noch mal zurück. Die Wüstenameise, das ist ein sehr flinkes, kleines Tier, und Sie rennen ihr seit 35 Jahren hinterher. Wie ist es eigentlich zu dieser schicksalhaften Begegnung gekommen?

Wehner: Ja, im Grunde war das, wenn ich da zurückblicke, Liebe auf den ersten Blick, und zwar nicht nur des schönen Namens Cataglyphis wegen, sondern vor allen Dingen wegen dieser immensen Leistung. Ich habe im Süden Tunesiens in einem großen Salzsee (..) diese Ameise gesehen und beobachtet, wie sie diese riesenhaften Entfernungen zurücklegt und nicht auf demselben Weg zurückkehrt, sondern eben die kürzeste Strecke einschlägt. Und das hat mich natürlich fasziniert: Wie kann es diese Leistung vollbringen?

Timm: Der Wüstenboden, über den diese Ameise Cataglyphis läuft, der wird bis zu 70 Grad heiß, das heißt, die Feldforschung ist nicht immer die reine Freude?

Wehner: Die ist nicht die reine Freude. Von meinen Mitarbeitern, die im Feld gearbeitet haben, gibt es nur zwei Gruppen: diejenigen, die die Wüste lieben, und die, die sie hassen, also nie mehr wieder mitkommen.

Timm: Zu welcher Gruppe gehören Sie?

Wehner: Ja, zweifellos zur ersten. Meine Frau auch, denn sie ist auch Biologin und begleitet mich auf allen diesen Exkursionen.

Timm: Wie oft schauen Sie sich denn noch Cataglyphis in der realen Umgebung an und nicht im Labor?

Wehner: Also zurzeit gehe ich vielleicht drei Wochen im Jahr in die Sahara, in das Gebiet, mit meiner Forschergruppe, drei Monate lang, denn nur drei Monate sind diese Wüstenameisen aktiv. Nur im Sommer, nur zu den heißesten Stunden des Tages und in den heißesten Tagen des Jahres. Denn diese Tiere sind thermophil, wie man das nennen könnte, Hitze liebend. Sie leben von den Hitzeleichen, die andere Insekten hinterlassen haben, die also nicht ein so hohe Thermotoleranz haben, dann dem Hitzetod erliegen. Und diese Hitzeleichen, wie wir sie grob nennen können, werden dann von diesen Wüstenameisen eingesammelt.

Timm: Denn untersuchen Sie in der Wüste die Ameisen, und dann kommt so ein ganzer Ameisenstaat nach Zürich?

Wehner: Wir nehmen den ganzen Staat mit. Die Tiere, die wir im Freiland selbst untersucht haben, die können wir nicht mitnehmen, denn die sterben im Allgemeinen nach sechs Tagen. Die Tiere leben vier Wochen unterirdisch, und dann sind sie nur während etwa sechs Tagen lang diese Außendienst-Navigatoren.

Timm: Und wie transportiert man einen Ameisenstaat?

Wehner: In Plastikboxen, das ist kein Problem.

Timm: Sie sind jetzt seit 35 Jahren dabei, wie weit sind Sie denn gerade und was wollen Sie in Ihrem Forscherleben unbedingt noch klären?

Wehner: Man hat so das Gefühl, dass man so gerade die Anfangsprobleme überwunden hat und jetzt eigentlich voll anfangen müsste und in den weiteren 35 Jahren dann vielleicht zum Erfolg kommt.

Timm: Was macht der Neurobiologe Rüdiger Wehner eigentlich, wenn er nicht Ameisen erforscht?

Wehner: Wenn man so lange mit diesem Wüstentier zusammen ist, dann interessiert man sich mit der Zeit für die Landschaft, für den kulturellen Hintergrund des Gebietes, in dem man lebt. Also das ist eins der Interessengebiete. Sonst haben wir ganz andere Gebiete außer der Zoologie generell. Ich habe ja ein (...) Buch geschrieben, muss ich mich also mit weiten Gebieten der Zoologie befassen. Aber was uns sonst interessiert, meine Frau und mich, ist vor allem modernes Theater, Literatur und wir sammeln auch etwas moderne Kunst, soweit wir’s uns leisten können. Aber trotzdem ist auch jetzt, in meiner jetzigen Altersphase, Cataglyphis noch der Mittelpunkt meiner Forschung.

Timm: Herr Wehner, es gibt viele, viele, viele Ameisen und viele, viele Ameisensorten, aber es gibt nur sehr wenige Ameisenforscher. Hat Ihre Profession eigentlich Nachwuchsprobleme?

Wehner: Diejenigen, die sich mit der Soziobiologie, dem Sozialverhalten der Ameisen befassen, das ist ein Gebiet, das sehr blüht. Da gibt es in Amerika, England, Deutschland zahlreiche Gruppen, die sich damit befassen.

Timm: Gibt es eigentlich irgendwas, was der Mensch von diesen kleinen Tierchen lernen kann?

Wehner: Ich meine, es werden ja sehr oft Parallelen gezogen zum Sozialverhalten der Ameisen und des Menschen, da muss man sehr kritisch sein natürlich. Was man lernen kann, sind die Selbstorganisationsprinzipien, wie die Wirtschaft, in der es ja auch keine lenkende Hand gibt, obwohl alles so aussieht, als sei da eine lenkende Hand im Spiel, so ist auch das Ameisen-Sozialleben organisiert. Es sieht so aus, als sei da eine Königin am Werk, die alle Aufgaben dirigiert, dass dann der Eindruck entsteht, alles ist zum Besten gefügt, alles wird gewissermaßen von einer unsichtbaren Hand gelenkt.

Timm: Also ein bisschen was vom Ameisenleben würde man sich im Menschenleben manchmal durchaus wünschen. – Rüdiger Wehner, der Direktor des Zoologischen Instituts Zürich, war mein Gesprächsgast. Er beschäftigt sich sein ganzes Forscherleben lang mit der Wüstenameise Cataglyphis. Vielen herzlichen Dank fürs Gespräch!

Wehner: Danke Ihnen auch!