Brexit-Abstimmung

Kampagne der Pro-Europäer läuft schleppend

Der Vorsitzende der britischen Labour Party, Jeremy Corbyn, hält am 02. Juni 2016 in London eine Rede für ein Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union. Die Briten werden sich am 23. Juni 2016 entweder für einen Verbleib oder einen Rückzug aus der EU entscheiden.
Der Vorsitzende der britischen Labour Party, Jeremy Corbyn, kämpft für den Verbleib seines Landes in der Europäischen Union. © picture alliance / dpa / Will Oliver
Von Korbinian Frenzel · 13.06.2016
Ende Mai kippten die Umfragen: Erstmals gab es auch Mehrheiten für den Brexit. Und das, obwohl eine breite Allianz für das Gegenteil kämpft. Ihr zentrales Argument für den Verbleibt Großbritanniens in der Europäischen Union: die Wirtschaft.
Sie wirken wie zwei Freunde - oder zumindest wie zwei Parteifreunde: routiniert im gemeinsamen Auftritt. Doch die beiden Männer, die im Londoner Südwesten gemeinsam mit Schwung vor die Studenten der Roehampton Universität treten, erleben eine Premiere.
Sadiq Khan, Londons neuer Labour-Bürgermeister, tritt mit David Cameron auf - noch vor Wochen undenkbar. Da hatte der Premier den Labour-Kandidaten schwer angegriffen, den Sohn pakistanischer Eltern in die Nähe des IS gestellt. Jetzt: Shakehands.
Es ist die wahrscheinlich am meisten überaschende Allianz der Referendumsdebatte. Der zurzeit wichtigste Labour-Mann in der britischen Politik Seite an Seite mit dem konservativen Premierminister: eine Allianz aus der Not geboren.

Drohende Rezession als Argument für EU-Mitgliedschaft

Ende Mai: Die Umfragen kippen, erstmals Mehrheiten für den Brexit. Und das, obwohl eine breite Allianz für das Gegenteil kämpft. David Cameron vor den Studenten:
"Gewerkschaften, die Wirtschaft, die 'Labour Party', die Grünen, die Liberalen, die konservative Regierung: Es ist eine unglaublich breite Koalition, die sagt, uns wird es besser gehen, wir werden stärker sei, wenn wir drin bleiben, in einer erneuerten Europäischen Union."
Applaus hier, im Südwesten Londons - und doch: Diese breite Koalition, versammelt unter dem Motto "Britain stronger in", die der Premierminister beschwört, kommt nur schleppend in Gang.
Ihr zentrales Argument: die Wirtschaft. Unsicherheit durch den Brexit, die eine Rezession auslösen würde. Hundertausende Jobs, die verloren gingen. Das Geschäft mit der EU, immerhin 50 Prozent des Außenhandles der Briten, in Gefahr. Ein Bild, das die Banker in der City of London gerne mitzeichnen. Und doch, es verfängt nur bedingt, sagt Susi Dennison vom "European Council on Foreign Relations":
"Beide Seite nutzen die Wirtschaft als Argument, mit sehr unterschiedlichen Zahlen und Erzählungen, die dahinterstecken. Es ist letztlich eine Glaubensfrage, keine Seite kann dieses Argument für sich verbuchen. Und dabei wird die Frage, welche Auswirkungen ein Brexit auf die Wirtschaft hätte, positive oder negative, wahrscheinlich die sein, die den Ausgang des Referendums bestimmt."
Ortswechsel: ein dunkler Saal im Museum of London, nicht weit entfernt von St. Paul's Cathedral, gebaut in dem Jahr, als die Briten schon einmal über ihre Mitgliedschaft im europäischen Projekt abgestimmt haben, 1975. Damals gab es eine klare Mehrheit: 67 Prozent für den Verbleib in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Und fast das gleiche Ergebnis gibt es an diesem Abend, als das Gresham College zur öffentlichen Debatte lädt.

"Die Bürger müssen diese Entscheidung selbst treffen"

Etwa 150 Leute sind gekommen, am Eingang Abstimmungszettel, das Ergebnis, bevor die Diskussion beginnt: 71 Prozent wollen in der EU bleiben, 17 Prozent wollen den Brexit - und jeder zehnte hat sich noch nicht entschieden. Auf dem Podium der Tory-Abgeordnete Dominic Grieve. Er sagt Ja zur EU, auch wenn er die Verunsicherung spürt.
"Die Bürger müssen diese Entscheidung selbst treffen, ohne dass die Parteien klare Orientierungen und Antworten geben. Das mag viele verängstigen. Aber ich glaube, dass es unserem politischen System guttut, dass wir diese Debatte endlich einmal führen."
Dominic Grieve gehört zur Mehrheit der konservativen Fraktion in Westminster, die den Kurs des Premierministers stützt. 131 Abgeordnete wollen den Brexit, 168 Tories sind fürs Verbleiben in der EU. Und sie, sagt Grieve, müssen sich jetzt endlich einmal bekennen.
"Tiefsitzende Grundüberzeugungen kommen jetzt, wo wir den Deckel lüften, endlich einmal zum Vorschein. Wir, die wir für die EU sind, müssen uns fragen, ob wir nicht viel früher offensiv über die Vorzüge der EU hätten sprechen müssen."

David Cameron versus Boris Johnson

Es ist die Warnung vor der Unsicherheit, die ein Brexit mit sich brächte, die auch Grieve ins Zentrum stellt, vor dem geneigtem Londoner Publikum; und der Appell, die Weltoffenheit der Insel nicht aufs Spiel zu setzen.
"Wenn wir austreten, wären wir wirklich außen vor. Wir wären Außenseiter - und das widerspricht wirklich unserer Tradition."
Es sind die großen Linien, die EU-Befürworter wie Grieve gerne bemühen, die aber eines kaum verdecken können: Das Referendum, dessen Ausgang - in dem Punkt sind sich beide Seiten ausnahmsweise einig - den Lauf der Geschichte für die die Briten massiv beeinflussen wird, ist auch zu einem Karriere-Kampf zweier Männer geworden: David Cameron versus Boris Johnson.
"Die große Frage hinter der Frage 'Ja oder Nein zur EU' ist die, ob David Cameron weitermachen kann, wenn er das Referendum verliert - und ob dann Boris Johnson sein Nachfolger wird",
sagt Susi Dennison vom "European Council on Foreign Relations". Es wäre nicht das erste Mal, dass eine große europäische Frage zur Geisel parteipolitischer Ränkespiele wird.
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