Forscher: Bewusstsein gibt es auch nach dem Tod

19.10.2009
Der niederländische Kardiologe und Nahtod-Forscher Pim van Lommel meint, dass Patienten mit Herzstillstand und ohne messbare Hirnströme offenbar nicht selten ein "erweitertes, sehr helles, sehr klares Bewusstsein" hätten.
Susanne Führer: Manche haben es erlebt, viele haben schon einmal davon gehört – Menschen, die an der Schwelle des Todes standen oder sogar schon für hirntot erklärt wurden, erzählen, nachdem sie dann wieder zu Bewusstsein gekommen waren, von erstaunlichen Erlebnissen: vom Entschweben aus dem eigenen Körper, von Licht und von Blumen und vor allem auch von einem starken Glücksgefühl. Der niederländische Kardiologe Pim van Lommel untersucht seit über 20 Jahren solche Nahtoderfahrungen. Er hat darüber ein Buch geschrieben, das soeben auf Deutsch erschienen ist, "Endloses Bewusstsein" heißt es, und er ist jetzt zu Gast bei uns im Funkhaus. Schön, dass Sie da sind, Herr van Lommel!

Pim van Lommel: Ja.

Führer: Sie sind Arzt, genauer gesagt Kardiologe. Sie haben lange Zeit in einer Klinik gearbeitet. Wann und wie haben Sie eigentlich zum ersten Mal von einer Nahtoderfahrung gehört?

van Lommel: Das war 1969 bei meiner Facharztausbildung als Kardiologe, das war die Beginnzeit der Wiederbelebung. Man vergisst, dass es nur vor 40 Jahren möglich ist, Patienten wiederzubeleben.

Führer: Nach einem Herzstillstand?

van Lommel: Ja, alle Patienten vorher waren gestorben. Und wir hatten eine Wiederbelebung von einem Patienten, und er hatte wieder Bewusstsein nach vier Minuten, und wir waren als Krankenschwester und Arzt sehr glücklich damit, dass das gelungen war. Und der Patient war sehr, sehr enttäuscht und erzählte uns über Licht, über Tunnel oder Musik oder Glücksgefühle. Und ich sagen Ihnen, ich habe das nie vergessen, aber nichts ausgemacht.

Führer: Das ist ja fast ein bisschen komisch, ja, also Sie sind froh und erwarten, dass der Mann dankbar ist, dass Sie ihn ins Leben zurückgeholt haben, und er ist ganz enttäuscht und sagt, es war so viel schöner da, wo ich jetzt gerade war. Ist eigentlich dieses Glücksgefühl, Herr van Lommel, ist das charakteristisch für alle Nahtoderfahrungen?

van Lommel: Meistens. Vielleicht ein oder zwei Prozent der Menschen haben eine Angsterfahrung, und ungefähr 50 Prozent der Patienten haben einen Angstmoment in einer glücklichen Erfahrung.

Führer: Und wie erklären Sie, dass eigentlich nur eine Minderheit derjenigen, die so einen – bleiben wir bei diesem Herzstillstand – erleidet oder hirntot erklärt worden, dass nur eine Minderheit so eine Nahtoderfahrung macht?

van Lommel: Wir haben eine Studie gemacht in den Niederlanden mit 344 aufeinander folgenden Patienten, die einen Herzstillstand überlebt haben, und 18 Prozent dieser Patienten hatten eine Nahtoderfahrung. Wir wissen nicht, warum nur 18 Prozent der Menschen eine Nahtoderfahrung haben. Keine wissenschaftliche Erklärung dafür.

Führer: Erzählen Sie noch ein bisschen, was gehört noch dazu außer dem Glückgefühl? Gibt es so Faktoren, die gleich sind?

van Lommel: Ja, das sind Elemente, die weltweit in allen Kulturen, allen Zeiten schon gemeldet sein, und das ist das Gefühl zu wissen, dass man tot ist. Daran kann man sehen und wahrnehmen, was geschieht in der Wiederbelebung, in einer Operation. Dann hat man die Tunnelerfahrung, man kommt in eine nicht-irdische Umgebung mit fantastischen Farben …

Führer: Also ein dunkler Tunnel, und man sieht das Licht am Ende des Tunnels …

van Lommel: Am Ende das Licht, ja. Und dann kann man Begegnungen haben mit verstorbenen Verwandten und man kann eine Lebensrückschau haben, dass man alles wieder erlebt, was man getan und gedacht hatte, jeder Gedanke ist immer da. Oder man kann auch eine Vorausschau haben für die Zukunft. Und dann am Ende können Patienten erzählen, wie sie eine bewusste Rückkehr haben in den Körper, was schrecklich ist für sie.

Führer: Darum die Enttäuschung des ersten Patienten.

van Lommel: Ja, ja, ja.

Führer: Über Nahtoderfahrungen und die Folgen für unser Verständnis von Leben und Tod spreche ich im Deutschlandradio Kultur mit dem niederländischen Kardiologen Pim van Lommel. Herr van Lommel, Berichte und Bücher über diese Nahtoderfahrung gibt’s ja doch nun inzwischen im Jahr 2009 so einige. Sie gehen aber noch mal einen eigenen, einen besonderen Weg, weil Sie aus dem Vorkommen von Nahtoderfahrungen schließen, dass unser Bewusstsein unabhängig von unserem Körper existiert. Wie sind Sie denn zu dieser gewagten Schlussfolgerung gekommen?

van Lommel: Weil die heutige Hypothese ist, dass das Bewusstsein ein Produkt ist von dem Gehirn. Und wenn das wahr sein sollte, dann muss das Gehirn die Funktion stoppen. Bei einem Herzstillstand, die Patienten sind bewusstlos, haben keinen Körperreflex, haben keine Hirnstammaktivitäten mehr, haben keinen Atem mehr, und in diesem Moment haben Patienten ein erweitertes, sehr helles Bewusstsein, sehr klares Bewusstsein, klarer und erweiterter als immer vorher. Und dass es unmöglich mit diesem Konzept, dass Bewusstsein ein Produkt ist des Gehirns. Und so ich glaube, dass das Bewusstsein einen nicht-lokalen oder endlosen Aspekt hat, und dass das wache Bewusstsein, was wir täglich erfahren, nur ein Aspekt und Element ist dieses endlosen Bewusstseins. Wenn Patienten einen Herzstillstand haben, dann haben sie kein waches Bewusstsein mehr, aber dieses endlose Bewusstsein in einer Dimension ohne Zeit und Raum. Alles ist da.

Führer: Das ist dann so etwas wie das ewige Leben, wenn man das Bewusstsein mit der Seele gleichsetzt?

van Lommel: Ja, das ist so, ist kein Beginn und kein Ende an das endlose Bewusstsein.

Führer: Was würde denn – mal angenommen, ich folge dieser Hypothese – was würde denn daraus folgen für uns alle?

van Lommel: Was für die Menschen mit den Nahtoderfahrungen, sie haben keine Angst mehr vor dem Tod, sie erzählen mir, dass tot war nicht tot, aber eine andere Lebensform. Sie erzählen mir, ich kann ohne meinen Körper sein, aber der Körper kann nicht ohne mich sein. Ich bin bewusst ohne meinen Körper. Sie haben eine andere Lebenseinstellung, sie haben eine Erfahrung gehabt von, wir können sagen Einheitserfahrung, dass alles mit allem verbunden ist. Man ist verbunden mit anderen Menschen, man ist verbunden mit der Natur und man hat als Drittes erweiterte, erhöhte, intuitive Sensibilität.

Führer: Ich finde ja sehr interessant, wie Sie auch beschreiben, wie sich Ihr eigenes Denken verändert hat, denn Sie waren mal ein ganz normaler Kardiologe, Naturwissenschaft …

van Lommel: Bin immer noch ein normaler Mensch, aber …

Führer: Ein normaler Mensch, aber kein normaler Kardiologe mehr, naturwissenschaftlich-materialistisch orientiert. Also es gibt ja die Schweizer-amerikanische Psychiaterin, Elisabeth Kübler-Ross, das ist so ein bisschen so eine ähnliche Geschichte. Die hat ja die Sterbeforschung gegründet, hat als eine der Ersten überhaupt mit Sterbenden gesprochen, um von ihnen zu erfahren, welche Bedürfnisse sie haben. Und interessanterweise war sie dann in ihren späten Jahren davon überzeugt, dass – ich habe hier mal ein Zitat: "… dass es ein Leben nach dem Tod gibt und dass der Tod, unser körperlicher Tod, einfach der Tod des Kokons ist, Bewusstsein und Seele leben auf einer anderen Ebene weiter." Und Sie vertreten ja eine ähnliche Position. Also man könnte fast meinen, dass das intensive Beschäftigen mit dem Sterben fast zwangsläufig dazu führt, dass man an ein ewiges Leben glaubt?

van Lommel: Nicht nur das ewige Leben, aber auch die andere Form von endlosem Bewusstsein ist hier und nun und jetzt, nicht nur, wenn der Körper stirbt, das ist eben … von Menschen, auch wie Meditation oder Isolation oder die Einheits- oder erleuchtete Erfahrung ist dasselbe wie eine Nahtoderfahrung. Und ich sage immer, die Menschen mit den Nahtoderfahrungen sind mir eine große Lehre gewesen, und ich hatte auch eine wissenschaftliche Neugier, wie man das erklären könnte, dass Menschen – das war für mich unmöglich – dass Menschen ein helles, klares Bewusstsein haben in der Periode, dass sie klinisch tot sind. So, das war die wissenschaftliche Neugier für mich, um darüber nachzudenken, Studien zu beginnen. Und ich habe mit Hunderten und Hunderten Menschen mit einer Nahtoderfahrung gesprochen, da habe ich viel von gelernt.

Führer: Nämlich vor allem? Ihr Leben zu ändern?

van Lommel: Mein Leben auch zu ändern, ja. Was ist bedeutsam in unserem Leben, wie wir miteinander umgehen und mit der Natur umgehen.

Führer: Der niederländische Kardiologe Pim van Lommel hat ein Buch über Nahtoderfahrungen geschrieben. Es heißt auf Deutsch "Endloses Bewusstsein" und ist im Patmos Verlag erschienen. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch hier, Herr van Lommel!

van Lommel: Vielen Dank!