Folgenreiche Schlacht von 1870

Das Städtchen Woerth und sein kriegerisches Erbe

10:33 Minuten
Ansicht von Woerth an der Sauer mit Fachwerkhäusern am Wasser
Das malerische Woerth war in der Zeit des deutschen Kaiserreiches eine Art preußisches Mekka. © imago images / Klaus Rose
Von Anne Françoise Weber · 02.09.2020
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Ein Ort mit Geschichte: Das elsässische Woerth – nach dem hierzulande Straßen und Plätze benannt sind - war vor 150 Jahren Schauplatz einer Schlacht im Deutsch-Französischen Krieg. Die Menschen dort halten die Erinnerung daran auch heute lebendig.
Eine Hochebene im nördlichen Elsass, oberhalb des kleinen Städtchens Woerth. Vor einem bunt angestrahlten Aussichtsturm haben sich am Abend des 6. August rund zweihundert Menschen jeden Alters versammelt. Manche von ihnen tragen Fackeln und sind schon, von Trommlern begleitet, einige Kilometer über das Gelände gegangen, das vor genau 150 Jahren ein blutiges Schlachtfeld war.
"Stellen Sie sich diesen Tag des 6. August 1870 vor", sagt einer der Teilnehmer. "45.000 Franzosen kämpften zehn Stunden lang gegen 85.000 Deutsche. Ein gigantisches Aufeinanderprallen, bei dem es 10.000 Tote auf jeder Seite gab. Stellen Sie sich den Lärm der 300 Kanonen, der Infanteriegewehre, die Schreie, die Militärtrompeten und den Galopp der Pferde vor. Stellen wir uns in dieser Feuerflut den Mut, die Opferbereitschaft, aber auch die Angst und das Leid dieser Soldaten vor."

Preußische Provokation, französische Kriegserklärung

Im Juli 1870 hatte Frankreich Preußen den Krieg erklärt – Anlass war ein Streit um die spanische Thronfolge. Den hatte auch der preußische Ministerpräsident Bismarck bewusst vorangetrieben, um Frankreich zu provozieren und mit den anderen deutschen Staaten zusammen in den Krieg zu ziehen.
Die Schlacht bei Woerth brachte einen der ersten großen Erfolge der deutschen Armeen – und aus dem deutschen Sieg folgte nicht nur die Gründung des Kaiserreichs, sondern auch die Annexion des Elsass und eines Teils von Lothringen.
Ein Mann geht über einen Schotterweg, vor ihm laufen Kinder, die Fahnen tragen.
Bei der offiziellen Gedenkfeier für die Schlacht folgt Benoît Sigrist fahnentragenden Kindern.© Anne Françoise Weber
Kein Wunder, dass man vor Ort an diese Schlacht erinnern will. Tagsüber fand schon eine Gedenkfeier statt, mit Reden und Kranzniederlegung. Mit der Abendveranstaltung will eine Theatertruppe nun ein breiteres Publikum erreichen – und Benoît Sigrist, der als lokaler Vertreter des Gedenkvereins Souvenir Français den offiziellen Teil koordiniert hat, ist sehr dankbar dafür.
"Da kamen Leute und haben einen Zugang zu Geschichte bekommen, obwohl sie eigentlich nur da waren, weil ein Fackelumzug an einem Sommerabend eine tolle Sache ist", sagt er. "Genau das wollte ich: Leute hierherbringen, die sich eigentlich nicht für dieses geschichtliche Ereignis interessieren. Ich finde diesen Fackelumzug großartig!"

Historische Bedeutung für ganz Europa

Auch Alain Fuchs, der Bürgermeister von Woerth, ist überzeugt: Franzosen wie Deutsche sollten sich mit diesem Erbe befassen.
"Diese Schlacht ist nicht nur wichtig für Woerth, sondern für die ganze Gegend", sagt er. "Ich bin in Morsbronn geboren, wo der berühmte Angriff der französischen Reitersoldaten stattfand. Das ist in jedem Einwohner hier tief verankert. Jedes Mal, wenn ich meine Großeltern besuche, erzählen sie davon. Die tiefen Erinnerungen in uns steigen hoch, wenn es Gedenkfeiern gibt. Deswegen muss man diese Feiern lebendig halten, denn es ist wichtig, dass den Leuten die Bedeutung dieser Schlacht für Frankreich, für Deutschland und für Europa bewusstwird."
In der französischen Erinnerung wurde diese Niederlage lange als heroischer Einsatz gegen einen zahlenmäßig weit überlegenen Feind gefeiert. Selbst ein Kinderlied wird dazu bis heute überliefert.
Der pensionierte Schulrat und begeisterte Hobbyhistoriker Bernard Weber führt durch die vor wenigen Jahren neu gestalteten Räume des Museums von Woerth. Er erläutert die Vorgeschichte des Krieges, zeigt zeitgenössische Gemälde und erklärt anhand eines großen Schaukastens mit 4000 winzigen Zinnsoldaten den Schlachtverlauf.
Im letzten Raum des Museums stehen in einer Vitrine Kaffeetassen, Kuchenteller und Zuckerdosen mit Goldrand, alle versehen mit dem Bild eines Kriegerdenkmals und den Worten "Andenken aus Wörth" - meistens auf Deutsch, bei wenigen Stücken auch auf Französisch. In den ersten Jahrzehnten nach der Schlacht war das Städtchen ein gut besuchter Ort.

Eine Art preußisches Mekka

"Der Gedenktourismus hat sich hier entwickelt, es wurden Postkarten gedruckt, Andenken produziert", erzählt Bernard Weber. "Und wenn man sich Fotos anschaut, dann sieht man, dass da einiges los war. 14 Hotel-Restaurants für 1400 Einwohner, das ist nicht wenig. Und jedes Hotel versuchte, in seinen Räumen eine kleine Sammlung zu haben, um die Veteranen zu sich zu holen und nicht der Konkurrenz zu überlassen."
Eine Art preußisches Mekka sei Woerth im Kaiserreich gewesen, sagt Bernard Weber, so viele Menschen pilgerten zu diesem Siegesort – die lokale Wirtschaft florierte.
Im benachbarten Morsbronn ist ebenfalls eine Ausstellung zur Schlacht von Woerth zu sehen. Die Postkartensammlung im Pfarrgarten zeigt französische und deutsche Denkmäler und Soldatengräber in allen Formen – bis heute gibt es über 80 auf dem Schlachtfeld. Auch die Anwohner wissen nicht immer, in welchem Wäldchen Kreuze, Statue, oder Gedenksteine heute versteckt sind.
Eine Besucherin betrachtet eine Karte mit einer imposanten Reiterstatue. Sie zeigt den späteren Kaiser Friedrich III. noch als Kronprinz und Armeeführer bei der Schlacht von Woerth.
"Ich komme aus Woerth", sagt sie. "Dort gab es das große Kaiser-Friedrich-Denkmal, das wurde zerstört – obwohl wir es heute gern noch sehen würden. Aber gut, man kann sich nicht in die Leute hineinversetzen, die damals lebten, die Franzosen, die nach dem Ersten Weltkrieg all das zerstört haben."
Blick in einen Schaukasten mit alten Postkarten
Die Kriegerdenkmäler von Woerth waren beliebte Postkartenmotive.© Anne Françoise Weber
Ein anderes Foto in der Ausstellung zeigt französische Bürger. Sie posieren stolz neben der gesprengten Statue – versehen mit dem Satz: Vive la République! Gemeint ist die Dritte Französische Republik. Als Kaiser Napoleon III. nach der verlorenen Schlacht von Sedan am 2. September 1870 in deutsche Gefangenschaft kam und offiziell abdankte, rief man in Paris eine neue Republik aus – und mobilisierte Männer in ganz Frankreich, um nicht mehr für den Kaiser, sondern für die Nation in den Krieg zu ziehen.

Nach dem Krieg ist vor dem Krieg

Erst im Mai 1871 kam es zum Frankfurter Frieden zwischen dem deutschen Kaiserreich und der Dritten Französische Republik. Nach rund 200 Jahren Zugehörigkeit zu Frankreich wurde aus Elsass und Ostlothringen deutsches Reichsland. Die Revanche folgte nicht einmal 50 Jahre später mit dem Ersten Weltkrieg, an dessen Ende der Versailler Vertrag beide Gebiete wieder zurück nach Frankreich brachte.
Denkmalstürmer konnten in Woerth ans Werk gehen und sprengten die Reiterstatue Friedrichs III. und andere Denkmäler in die Luft. Die Bronzestatue des Kronprinzen wurde – bis auf den Kopf - zu Glocken umgeschmolzen. Bis heute läuten sie im Turm der evangelischen Kirche von Woerth.
Doch die wechselhafte Geschichte für das Elsass und Teile Lothringens ist noch nicht zu Ende. 1940 nahm Deutschland beide Gebiete wieder ein. Jetzt waren es die Deutschen, die die Denkmäler der Franzosen beseitigten. Unter anderem auch ein französisches Mausoleum.
Außerdem hatten sie es noch auf ein besonderes Denkmal abgesehen, wie Hobbyhistoriker Bernard Weber bei einer Führung über das Schlachtfeld erklärt: "Es war ein Denkmal, das den Afrikanern gewidmet war. Warum die Nazis dieses Denkmal zerstört haben, ist klar, wenn man den Rassismus im Nationalsozialismus bedenkt."
Unter den französischen Truppen, die 1870 bei Woerth kämpften, stammte ungefähr jeder vierte Soldat aus Algerien, damals eine Kolonie Frankreichs. Wegen ihrer orientalisch anmutenden Uniform wurden diese Fußsoldaten Turkos genannt.
Viele von ihnen kamen ums Leben, als sie der französischen Armee den Rückzug vom Schlachtfeld ermöglichten. Daran erinnert heute ein Wanderweg am Ortsausgang von Woerth. Schüler der benachbarten Oberschule, die nach dem französischen Heerführer Patrice de Mac-Mahon benannt ist, haben die Erläuterungstafeln mitgestaltet.
"Auch wenn die Oberschule nach Mac-Mahon benannt ist, kommen nur sehr wenige Klassen hierher, um das Museum zu besuchen", beklagt sich Roland Hoyndorf vom Freundesverein des Woerther Museums.

Verkleinertes Programm wegen Corona

Gerade jetzt, zum 150. Jahrestag der Schlacht hatte sich der Verein viele jüngere und ältere Besucher erhofft und gemeinsam mit Kultureinrichtungen und Kommunen ein umfangreiches Programm ausgearbeitet. Doch wegen der Corona-Pandemie musste manches abgesagt oder verschoben werden, anderes konnte nur in kleinerer Form stattfinden.
Wichtig war für Hoyndorf aber, dass bei den offiziellen Gedenkfeierlichkeiten am 6. August auch ein deutscher Vertreter da war: der Bürgermeister von Kandel. "Es war sehr bewegend, weil er sagte, es sei das erste Mal, dass eine deutsche Persönlichkeit eingeladen sei: Ich darf kommen, das ist ganz wichtig, und ich darf sprechen", erzählt Roland Hoyndorf.
Für Bernard Weber, der an diesem Gedenktag Besucher durch das Museum und übers Schlachtfeld führt, geht es bei der Geschichtsvermittlung in Woerth noch um etwas anderes.
"Man sieht, was passiert ist und wie sie damals gekämpft haben", sagt er. "Wir feiern hier den 150. Jahrestag eines Krieges – es waren von 1870 bis 1945 75 Jahre Krieg. Seit 75 Jahren, von 1945 bis heute erleben wir hier vor Ort Frieden. Das ist ein Glück, das wir manchmal nicht zu schätzen wissen. Und das treibt mich an."
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