Flugzeugabsturz über West-Berlin

Die vergessenen Helden vom Stößensee

29:07 Minuten
Historische Aufnahme vom Stößensee in Berlin-Spandau mit dem Seeschloss.
In den Stößensee (historische Aufnahme) stürzte 1966 ein sowjetisches Militärflugzeug. © imago
Von Gesine Dornblüth und Thomas Franke · 20.03.2019
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Zu Hochzeiten des Kalten Krieges, 1966, verhinderten zwei sowjetische Piloten, dass ihr Flugzeug über einem Wohngebiet West-Berlins abstürzte: Sie lenkten es in einen See und bezahlten mit ihrem Leben. Sind sie Helden?
Der 6. April 1966 war ein Mittwoch und der Himmel über Berlin war trübe. Es war kurz vor Ostern, die Kinder bemalten Eier. Der Zweite Weltkrieg lag mittlerweile 21 Jahre zurück. Die Mauer teilte Berlin seit fast fünf Jahren. Die Menschen begannen, sich in dieser Welt des Kalten Krieges einzurichten.
Ruhig war diese Welt nicht. Regelmäßig donnerten sowjetische Düsenjäger über den Westteil Berlins, durchbrachen die Schallmauer. Fenster barsten.
"Abendschau": "Wenn die Alliierten das immer weiter mit ansehen, die Mauer haben sie mit angesehen, dann sollten sie aber wirklich bald mal was machen dagegen. Als einfacher Mensch weiß man nicht, was man machen soll, aber die sollen was machen. So kann es ja gar nicht weitergehen, immer nur die Nervenbelastung."
Karl-Heinz Bannasch, Jahrgang 1956, ist Stadtteilhistoriker im westlichsten Berliner Bezirk Spandau:

"Es hat zum Kalten-Krieg-Terror gehört, über Westberlin am Tag mehrmals Düsenflugzeuge in Schallgeschwindigkeit fliegen zu lassen und den Schallknall auslösen zu lassen, um die Bevölkerung, man kann wirklich sagen, zu terrorisieren."

Einer der Piloten dieser sowjetischen Düsenflugzeuge war Hauptmann Boris Wladimirowitsch Kapustin, stationiert in Finow in der DDR, rund 50 Kilometer nordöstlich von Berlin.

Ein Flugzeug vollgepackt mit geheimer Technik

Am Nachmittag dieses 6. April 1966 starteten er und sein Co-Pilot Oberleutnant Juri Nikolajewitsch Janow mit einer nagelneuen YAK28.
"Das YAK-Flugzeug ist ein Düsenflugzeug, das 1100 Stundenkilometer fliegen konnte, und es war auch befähigt, Atomwaffen mitzunehmen."
Doch das Ziel der Piloten war diesmal nicht, möglichst effektvoll die Schallmauer über Westberlin zu durchbrechen. Sie sollten die mit nagelneuer und selbstverständlich geheimer Technik vollgepackte YAK nach Köthen südwestlich von Berlin überführen.

"Abendschau"-Reporter: "Von dem abgestürzten Flugzeug ist nichts zu sehen. Die Polizei gab eben eine Meldung durch, dass das Rauchen in unmittelbarer Umgebung der Stößenseebrücke eingestellt werden soll, da Explosionsgefahr besteht. Meine Herren, Sie haben gesehen, wie das Flugzeug abgestürzt ist. Was konnten Sie beobachten?"
Ein Kajak und ein Hausboot unterwegs auf dem Wasser, zwischen Havel und Stößensee in Berlin-Spandau.
Wo früher die Flugzeuge rüber donnerten, herrscht nun wieder Ruhe: Havel beim Stößensee.© picture alliance / dpa / Rainer Jensen
Mann: "Wir konnten nur den Flug sehen, kam im Steilflug an und dann gab es einen Knall, und in dem Moment war er im See verschwunden."
Anderer Mann: "Ich habe es gesehen, der kam ungefähr dieselbe Höhe an, fing an zu trudeln, die Triebwerke liefen nur noch ganz leise, und dann hörte man nur noch einen dumpfen Aufknall. Ich war etwa 200 bis 300 Meter weg."
Die Triebwerke der YAK von Kapustin und Janow waren wenige Minuten nach dem Start ausgefallen. Was dann genau passierte, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Wahrscheinlich erhielten beide den Befehl, sich mit dem Schleudersitz herauszukatapultieren.

Flugzeug wäre wohl in ein Wohngebiet gerast

Die Maschine war bereits über Berlin und so niedrig, dass sie führungslos wahrscheinlich in ein Wohngebiet gerast wäre. Augenzeugen berichteten damals, dass die Maschine mehrfach auf und ab geflogen sei, was als Indiz gewertet wird, dass die Piloten den Befehl verweigert hätten, um Menschenleben zu retten. Ob mit Absicht oder nicht, die YAK mit Kapustin und Janow an Bord stürzte in den nahen Stößensee im britischen Sektor Berlins.

"Abendschau"-Reporter: "Ein amerikanischer Hubschrauber, die französsische Feuerwehr, selbstverständlich alle Züge der Berliner Feuerwachen, die hier in der Umgebung liegen, jetzt hier. Zwei Feuerwehrleute, mit einem konnte ich mich eben kurz unterhalten, versuchten, an das Wrack heranzukommen, die Rumpfnase, aber der Rumpf hat sich ganz steil und tiefen in den Modder hineingegraben."

"Dein Vater ist tot"

"Ich habe vor meiner Mutter erfahren, dass mein Vater umgekommen war."
Vladimir Kapustin ist der Sohn eines der beiden Piloten. Er lebt heute in Moskau.
"Einer meiner Mitschüler hatte irgendwie mitgehört, dass Kapustin verunglückt war mit Janow. Ich erinnere mich nicht, wie es genau war, es gab irgendwie einen Streit. Ich habe dem Jungen wohl irgendetwas Böses gesagt oder ihn geschubst, ich weiß nicht, jedenfalls sagte er, um sich zu verteidigen: Dein Vater ist tot."
Vladimir Kapustin ging damals in die erste Klasse.
"Auf einmal geht die Tür auf. Und da habe ich sofort begriffen. Schaue den Kommandeur an, ein zweifacher Held der Sowjetunion, und frage nur: Lebt er? Er schaut mich an und … hopp verlor ich das Bewusstsein."

Galina Andrejewna Kapustina, die Witwe des Piloten. Sie lebt heute in Rostow am Don in Südrussland. Die Witwe des Co-Piloten, Juri Janow, ist hingegen früh verstorben.
"Nun, die Vorsitzende des Frauenrates war eine sehr kämpferische Frau, Valentina, ich erinnere mich nur, dass ich vor Schmerzen zu mir kam, sie hatte mir nämlich auf die Wangen geschlagen. Sie führte mich zu meinem Sohn und meinte: Wem willst du ihn hinterlassen? Willst du einen zweiten Sarg? Das hat mich ernüchtert. Ein Sohn ist ein Sohn. Das hat mich in die Realität zurückgeholt."
Porträt von Galina Andrejewna Kapustina, die Witwe des Piloten
Natürlich ist für sie ihr Sohn ein Held: Galina Andrejewna Kapustina, die Witwe des Piloten.© Gesine Dornblüth

"Er rettet die Stadt, rettet die Menschen"

Willy Brandt, damals Regierender Bürgermeister von Berlin (West):
"Wir können davon ausgehen, dass die beiden in den entscheidenden Minuten die Gefahr eines Absturzes in dichtest besiedelte Wohngebiete erkannt und deshalb in Absprache mit ihrer Bodenstation die Maschine in den Stößensee gesteuert haben. Dies bedeutete den Verzicht auf die eigene Rettung. Ich sage das in dankbarer Anerkennung des Opfers, durch das eine Katastrophe vermieden wurde."
Woher Willy Brandt die Information nahm, die Piloten hätten in Absprache mit der Bodenstation gehandelt, ist schleierhaft. Im Nachhinein scheint es eher unwahrscheinlich, dass die sowjetische Militärführung in der Hochzeit des Kalten Krieges Rücksicht auf Zivilisten in der Frontstadt des Klassenfeindes nahm. Möglicherweise wollte Brandt die West-Berliner Bevölkerung beruhigen und in der angespannten Zeit Signale der Deeskalation an die sowjetische Führung senden.
Stadtteilhistoriker Bannasch verweist darauf, dass damals immer wieder Düsenflugzeuge abstürzten.
"Allemal kann man sagen, es ist ein glücklicher Umstand, dass 'leider' nur zwei zu Tode gekommen sind und nicht noch sehr viel mehr."
Für Kapustins Witwe war ihr Mann vom ersten Moment an ein Held.
"Ich werde gefragt: Wie ist das möglich, die Deutschen haben uns so viel Leid gebracht, und auf einmal rettet er die Stadt, rettet die Menschen! – Ja, mein Gott, die Menschen sind überall gleich. Es gibt die Politik, es gibt die Armee, aber das sind Menschen. Stellen Sie sich vor, die Explosion, Feuer, wie viele Menschen wären umgekommen. Und dann... Es hätte einen Krieg auslösen können. Einen Dritten Weltkrieg!"

Ein Glücksfall für die Westalliierten

Für die Westalliierten war die nagelneue YAK, die ihnen quasi in den Schoß gefallen war, ein Glücksfall. Gegen Abend, gut zweieinhalb Stunden nach dem Absturz, trafen vier sowjetische Offiziere an der Absturzstelle ein und forderten die Herausgabe des Wracks. Die Briten ließen sie nicht durch. Das sowjetische Militär befehligte kurzerhand die Wachablösung für das sowjetische Ehrenmal im Westberliner Tiergarten zum Stößensee. Auch sie wurden aufgehalten.
Die beiden Leichname wurden zwei Tage später, am Karfreitag, in aller Frühe übergeben, morgens um halb drei.
Stadtteilhistoriker Bannasch zeigt ein Foto aus einem alten Zeitungsartikel.
"Hier vorne, das ist die britische Delegation. Wenn man genau hinguckt, sieht man auch Deutsche, die bei der Übergabe, hier hinten sind die sowjetischen Vertreter, wenn man genau hinguckt, kann man sehen, dass dort der eine Sarg zu sehen ist. Das hat mit militärischen Ehren stattgefunden. Man sieht, wie die britischen Soldaten salutieren. Es hatte schon einen würdigen Aspekt gehabt."
Das Wrack zu bergen, dauerte länger. Die Briten holten Taucher aus Portsmouth. Das Flugzeug wurde ausgeschlachtet, die damals neueste Technik ausgebaut und gründlich untersucht: unter anderem ein Radargerät. Die Übergabe des Wracks an die Sowjetunion erfolgte erst Wochen nach dem Absturz.
"Die hat übrigens witzigerweise auf dem Wasser stattgefunden. Nämlich auf der Havel. Dort, wo die Demarkationslinie war. Von beiden Seiten sind Schiffe rangefahren. Und dann hat der eine Kran das auf das andere Schiff übergegeben. Also, es ist sehr speziell gewesen. Man muss ja auch immer überlegen, man war im Kalten Krieg und jeder Schritt wurde vorher, im wahrsten Sinne des Wortes, stundenlang vorher ausdiskutiert. Und dann minutiös beschlossen. Und von diesem Drehbuch hat man dann auch keinen Abstand genommen. Das wurde dann Realität."

"Er ist kein Held der Sowjetunion"

Ein Besuch in Rostow am Don, der Heimatstadt des abgestürzten Piloten Kapustin.
Reporterin: " Wissen Sie, wer Kapustin war?"
Taxifahrer: "Kapustin? Ehrlich gesagt, ich erinnere mich nicht, ein Held... meiner Meinung nach Held der Sowjetunion."
Rostow liegt im Südwesten Russlands. Etwas mehr als eine Million Menschen leben hier.
"Er ist kein Held der Sowjetunion. Breschnjew hat Kapustin diesen Ehrentitel verweigert, weil der sich einem Befehl widersetzt hat."
Anastasija Moisejeva studiert Geschichte und hat in Rostow eine patriotische Jugendorganisation gegründet.
"Der Befehl lautete, sich mit dem Schleudersitz zu retten. Das Flugzeug wäre dann auf die Stadt gefallen. Die Heldentat dieses Menschen besteht in Folgendem: Er hat mit seinem Copiloten Janow am 6. April 1966, schon nach dem Krieg, ein sowjetisches Flugzeug überführt, aus Finow nach Köthen. Dabei haben beide Motoren versag, und sie haben das eigene Leben geopfert und wie durch ein Wunder das Flugzeug von der Stadt abgewendet und sind bis zu einem Damm am Stößensee gekommen."
"Und sind gelandet?"
"Sie sind bis zum Damm gekommen und umgekommen. Sie haben den Schleudersitz nicht betätigt, weil ihnen klar war, dass das Flugzeug dann ins Trudeln kommen würde und unklar gewesen wäre, wohin es stürzt."

"Wir wollen ein Denkmal für ihn bauen"

"Deshalb habe ich gedacht, dass er ein Held der Sowjetunion ist... Also hat er die Auszeichnung nicht bekommen."
"Aber eine Medaille."
Er hat postum den Rotbannerorden bekommen.
"Wir wollen noch, dass er postum den Titel Held Russlands bekommt."
"Und? Schaffen Sie das?"
"Klasse... das ist klasse!"
"Und wir wollen ein Denkmal für ihn bauen auf der Kapustinstraße, die ja nach ihm benannt ist."
"Zu meinem Geburtstag wünschen meine Freunde mir schon das zweite Jahr, dass ich es schaffe, dass das Denkmal kommt."
Das Taxi hält an einem Friedhof.
"So, das Grab Kapustins. Wir können näher heran."

Ein Lied für die Piloten und ein Wald, den es nicht gibt

Die Grabstelle ist mit einem niedrigen Metallzäunchen eingefriedet. In der Mitte ragt eine dünne helle Steinplatte in die Höhe, darauf das Profil von Boris Kapustin und ein stilisierter Düsenjäger. Sein Co-Pilot, Juri Janow, erhielt ein ähnliches Grabmal in seiner Heimatstadt Wjasma im Westen Russlands.
"Gleich nach der Heldentat gab es eine landesweite Bewegung, damals wurden patriotische Abteilungen gegründet, und viele trugen den Namen Kapustins. Das Lied 'Ogromnoe nebo' wurde von vielen gesungen. Wir haben kürzlich ein Interview mit einem Duma-Abgeordneten gemacht, und er erinnert sich daran, wie er während der Sommerferien zu Feldarbeiten fuhr und sie dieses Lied sangen. Das Lied war auch eine Erinnerung an die Heldentat."
"Ogromnoe nebo" – "Der riesige Himmel". Die sowjetische Chansonette Edita Pjecha besang die Heldentat von den Freunden am Himmel, der Schicksalsentscheidung, von Tausenden geretteten Leben.

Im Lied rasen sie auf einen Birkenwald zu. Den sucht man am Stößensee vergeblich. Am Ende liegen die ausgezeichneten Burschen eines ausgezeichneten Landes im Grab, und der riesige Himmel schaut feierlich auf sie herab.
"Der Rostower Kapustin ist ein sehr würdiges Vorbild, dem die junge Generation nacheifern sollte: Seine gesunde Lebensweise, seine Gelehrtheit, sein Streben nach Wissen, das Vermögen, anderen die Hand zur Hilfe auszustrecken. Als Bilanz seines ganzen Lebens ist so eine große Entscheidung gefallen, zum Nutzen der Menschheit und der Rettung friedlicher Menschenleben."
Anastasija Moisejeva am Grab von Boris Wladimirowitsch Kapustin
Will die Erinnerung an die Piloten hochhalten: Anastasija Moisejeva am Grab von Boris Wladimirowitsch Kapustin© Gesine Dornblüth

Für das Denkmal fehlt bisher das Geld

Ein paar Tage später ist Anastasija in Moskau. Dort studiert sie, und sie besucht den jungen Bildhauer Andrej Korobzow.
Er arbeitet gerade an der Skulptur eines großen Soldaten. Sie wird mehrere Meter hoch und soll am 9. Mai 2020, dem 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs eingeweiht werden. Ein Staatsauftrag.
Für einen Moment verschwindet Korobzow in einer Abstellkammer und kommt mit einem etwa fünfzig Zentimeter hohen Modell wieder. Es ist ein wenig eingestaubt.
"Das steht schon ziemlich lange hier rum."
"Zwei Jahre wohl."
Die Skulptur zeigt zwei Männer mit flott nach hinten gekämmten Scheiteln. Sie tragen Fliegerjacken, Stiefel. Ihr Blick ist entschlossen nach vorn gerichtet, einer der beiden hebt die rechter Hand, als würde er beim Blick in die lichte Zukunft der UdSSR von der Sonne geblendet. Es sind Kapustin und Janow.
"Man soll sich ja nicht selbst loben, aber es gefällt mir wirklich. Man spürt die damalige Zeit. Ich weiß nicht, wie mir das gelungen ist. Aber mir scheint, es ist wie eine Zeitmaschine, man schaut direkt in die Sowjetunion."
"Andrej hat die Pose gut getroffen, der erhobene Arm, der zielgerichtete Blick in die Ferne, das drückt etwas Lebensbejahendes aus. Hier fühlt man das Leben, nicht die Trauer. Der Mensch hat mit der Heldentat sein Leben verlängert. Man erinnert sich an ihn. Man sagt, ein Mensch lebt so lange, wie man sich an ihn erinnert. "
Der Bildhauer Andrej Korobzow hat vor einigen Jahren zufällig vom Schicksal der beiden Piloten erfahren. Es hat ihn bewegt.

Zum Entwurf gehört noch eine Granitplatte: Der Flügel des Flugzeugs mit einer Landkarte Berlins darauf. Ein Platz für das Denkmal in Rostow ist bereits mit den lokalen Behörden abgestimmt. Es soll in einem Park am Wasser stehen. Doch die Umsetzung hakt. Es ist kein Geld da.
"Hier ist die Initiative von unten entstanden, die Bewohner von Rostow, besonders die jungen Leute, mit denen wir arbeiten, wollen das Denkmal. Und auf der Basis suchen wir Geldgeber für eine schon fertige Idee. Das finden einige finanziell vielleicht nicht attraktiv. Aber ich denke, wir schaffen das. Die Situation in der Provinz ist nicht vergleichbar mit der in Moskau. Es ist schwer, einen Sponsor zu finden. Normal findet man erst einen Sponsor, und der gibt dann nach seinen Vorstellungen einen Entwurf in Auftrag."
In Russland gehört oft dazu, einen überhöhten Preis anzusetzen, um, wenn ein Vorhaben öffentlich finanziert wird, Staatsgelder in private Kassen fließen zu lassen. Eine Weisung aus Moskau würde helfen, das Projekt in Rostow zu beschleunigen. Doch Kapustin ist nicht wichtig genug.
Bildhauer Andrej Korobzow mit dem Denkmalentwurf für die beiden Piloten Kapustin und Janow.
"Gut getroffen" - Bildhauer Andrej Korobzow mit dem Denkmalentwurf für die beiden Piloten.© Gesine Dornblüth
Als hingegen Oleg Popow 2016 während einer Tournee zufällig in Rostow das Zeitliche segnete, ging das mit dem Denkmal erstaunlich schnell. Nach wenigen Monaten saß der berühmteste Clown der Welt in Bronze gegossen auf einer Bank im Stadtzentrum.

Eine unauffällige Gedenktafel am Absturzort

Der Unfallort im Frühjahr 2019. Auf fünf Spuren rauscht der Verkehr zwischen dem Zentrum Berlins und Spandau am Nachmittag über die Brücke am Stößensee. Die Bäume des Grunewalds sind noch kahl. Das Wasser der Havel ist so grau wie auf den alten Schwarz-Weiß-Bildern vom Tag des Absturzes der YAK. Durch das Geäst der Bäume sind Hochhäuser zu sehen. Nur wenige hundert Meter von hier sind Wohngebiete und das Zentrum von Spandau. Am Geländer der Brücke prangt eine unauffällige Gedenktafel.
"Am 6. April 1966 steuerten die sowjetischen Piloten Hauptmann Boris Wladimirowitsch Kapustin und Oberleutnant Juri Nikolajewitsch Janow ihr defektes Kampfflugzeug in den Stößensee und verloren dabei ihr Leben. Durch ihren selbstlosen Einsatz vermieden sie eine unabsehbare Katastrophe im nahen Wohngebiet. Diese Tafel gilt dem Gedenken an das Opfer der sowjetischen Soldaten als ein Zeichen der Menschlichkeit in Zeiten des Kalten Krieges."
Jemand hat zwei frische Nelken vor die Tafel gelegt.

Die Tafel wurde 1993 angebracht. Es war die Zeit der Öffnung, der Dankbarkeit für die Deutsche Einheit und des Mitgefühls mit den Menschen in Russland. Auch in Spandau sammelten die Menschen für notleidende Russen. Doch die Dankbarkeit den beiden sowjetischen Piloten gegenüber blieb halbherzig:
"Das Rathaus kneift: Russen waren nicht erwünscht", titelte das Spandauer "Volksblatt" nach der Einweihung der Gedenktafel am Stößensee und unterstrich die Schlagzeile rot.
"Peinlich, peinlich: Bei der Einweihung der Gedenktafel für die beiden sowjetischen Piloten, die 1966 ihr Leben für die Spandauer opferten, fehlten die Vertreter des neuen Russland. Das Rathaus hatte sie nicht eingeladen. Absichtlich nicht!"
Auf Seite zwei des "Volksblatt" ein Kommentar:
"Spandaus Kommunalpolitiker haben Courage gezeigt, als sie auch gegen kritische Stimmen die Anbringung der Gedenktafel für die beiden russischen Piloten an der Stößenseebrücke beschlossen. Denn tobte 1966 auch der Kalte Krieg, sollten die Berliner damals durch Überschallflüge über dem Stadtgebiet 'mürbe' gemacht werden, so war die Heldentat der beiden Offiziere, die ihre Maschine auch einfach hätten per Fallschirm verlassen können, ein Akt der Menschlichkeit. Umso kleinkarierter war die Entscheidung im Spandauer Rathaus, auf eine Einladung russischer Militärvertreter zu verzichten. Eine 'Ehrung zweiter Klasse' haben Hauptmann Kapustin und Oberleutnant Janow aber nicht verdient."

Gedenktafel und Gedenkveranstaltung war umstritten

Zu der Gedenktafel kam es unter anderem auf Initiative eines Ehepaares aus Westberlin. Der mittlerweile verstorbene Konrad Michael Tybus war als jüdisches Kind evakuiert und in den 50er-Jahren zurück nach Berlin gekommen.
Er war Hobbymaler. 25 Jahre nach dem Flugzeugabsturz, die Mauer war gerade gefallen und Deutschland wiedervereinigt, malte er, inspiriert von der mutmaßlichen Heldentat, ein Aquarell und überreichte es der Sowjetischen Botschaft. Der Oberbefehlshaber der Westgruppe lud ihn und seine Frau daraufhin ins Hauptquartier ein. Das ging durch die Lokalpresse.

Auch Tybus kritisierte die Art und Weise, mit der der beiden Piloten in Westberlin gedacht wurde.
"In der vergangenen Woche habe ich zufällig erfahren, dass die Plakette, die an den Tod der zwei Piloten erinnert, die sich und ihr Flugzeug in den Stößensee stürzten, montiert wurde", schrieb er in einem offenen Brief an den Bürgermeister von Spandau.
"Dass die Einweihung quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit geschah, dokumentiert m. E., dass die Ausführenden nicht hinter dem standen, was sie taten."

Es folgte ein weiterer Leserbrief. Er sehe es nicht als Skandal, dass zur Enthüllung der Gedenktafel keine Vertreter Russlands eingeladen waren, schrieb ein Spandauer.
"Ich finde es vielmehr zumindest geschmacklos, diese Tafel überhaupt angebracht zu haben. Diejenigen, die sich nun für die Ehrung der beiden Piloten aussprechen, müssen wohl entweder zu junge Leute sein, um sich an die Schallmauer-Terroraktionen überhaupt erinnern zu können oder es sind Menschen, deren Wohngebiet damals von der Knallerei ausgespart wurde. Diese beiden Piloten waren bejahende Befehlsempfänger. Unter Deutschen und Russen gibt es gute und böse Exemplare, eine Binsenweisheit. Diese beiden Piloten gehörten m. E. nicht zu jenen Menschen, die man in dieser Weise ehren müsste."
Historiker Karl-Heinz Bannasch erklärt solche Kritik mit der Grundstimmung in Westberlin in der Zeit der Teilung. Sie sitze tief, auch Jahre nach der Vereinigung.
Die Berliner Mauer.
Das geteilte Berlin: Zentrum des Kalten Krieges.© dpa

Die USA waren Schutzmacht Nummer eins

Spätestens seit der Berlinblockade und der Luftbrücke waren die Sympathien der Westberliner klar verteilt. Die USA waren die Schutzmacht.
"Dann kamen die Briten. Und dann mit einem leichten Abstand kamen dann auch die Franzosen. Also mit den Franzosen ist man auch so nicht warm geworden. Das liegt auch zum Beispiel daran, dass die Briten und die Amerikaner versucht haben, viel stärker mit der Bevölkerung in Kontakt zu treten, wo die Franzosen es auf ihre Volksfeste und ähnliche Dinge haben bewenden lassen. Und das ist natürlich klar, wenn es diese persönlichen Kontakte nicht gab, also wir hier in Spandau wussten, Straßenzüge-Weise sind die Britten in deutsche Kneipen gegangen. Da konnte man sie antreffen."

Die Sowjetsoldaten hingegen blieben fremd.
"Deswegen war der Blick auf die Russen immer negativ, schon auch dadurch, dass wir hier in Spandau dicht an der innerdeutschen Grenze wohnten und wir selbstverständlich Verwandte im Umland hatten, die wir die erste Zeit gar nicht besuchen konnten. Und dafür haben wir nicht nur die DDR verantwortlich gemacht, natürlich auch die Sowjetunion."

"Von Heldentum keine Spur"

"Auch in Russland veränderte sich in den 90er-Jahren die Sicht auf Menschen wie Kapustin und Janow. Die 'Komsomolskaja Prawda' begann, die Heldenverklärung der Sowjetunion zu demontieren. 1997 druckte das Boulevardblatt einen Artikel über den Flugzeugabsturz, in dem es hieß, Kapustin habe die Tragödie selbst verschuldet, indem er waghalsige Flugmanöver geflogen sei. Von Heldentum keine Spur."
Galina Kapustina, die Witwe, ist empört.
"Russland habe niemals irgendwelche Helden hervorgebracht, das sei alles ausgedacht und so weiter und so fort. Als mein Sohn und ich das gelesen haben, hat mich das so erzürnt, so erzürnt! Ich bin nach Moskau gefahren, wir haben eine Anwaltskanzlei gefunden, ein extrem teures Büro, sie ließen sich in Dollar bezahlen für jede Arbeitsstunde, aber mir haben sie gesagt: Diese Anwälte werden auf jeden Fall die Wahrheit durchsetzen. Ich habe mich darauf eingelassen und gedacht, notfalls verkaufe ich meine Wohnung."
Ihr Sohn bereitete sich minutiös auf den Prozess vor, beantragte Einsicht in die Militärakten, wälzte Archivmaterial. Eine Kommission hatte sich detailliert mit dem Absturz beschäftigt.
"Ich habe damals auch gedacht: Was mache ich, wenn auf einmal doch herauskommt, dass man damals nur so getan hat, als sei es eine Heldentat gewesen? Der betreffende Mensch war ja tot und konnte nicht mehr gefragt werden. Wenn sie sich dachten: Wir schaffen virtuell ein Idol, und auf der Basis erziehen wir die nächste Generation, halten ihnen eine angebliche Heldentat vor Augen. Das dachte ich. Aber als ich die Akten gelesen habe, habe ich begriffen, dass all meine Zweifel unbegründet waren. Dass es wirklich so war, wie geschrieben wurde."
Kapustin erfuhr aus den Akten, dass ein technischer Fehler zum Absturz der YAK geführt habe.
"Der Zivilprozess dauerte ungefähr anderthalb Jahre, wir haben gewonnen: Tausend Rubel Schmerzensgeld und eine winzige Gegendarstellung auf der letzten Seite."

Als die Menschen Freunde und Brüder waren

Obwohl Kapustin Zeit und Mühe investiert hat, um das Ansehen seines Vaters zu retten, sieht er die Bemühungen der patriotischen Jugend von Rostow, ihn postum mit dem höchsten Orden des Landes, Held Russlands, auszuzeichnen, mit gemischten Gefühlen. Breschnew habe Gründe gehabt, Boris Kapustin nicht den höchsten Ehrentitel, Held der Sowjetunion, zu verleihen. Es sei Abwägungssache.
"Ich weiß nicht, wie es im Fall meines Vaters wirklich war. Aber möglicherweise haben sie überlegt, wieviel Geld der Staat durch den Absturz in den Stößensee verloren hat. In das Flugzeug wurden große Hoffnungen gesetzt, man hätte damit in der Rüstung einen Schritt weiter gehen können, aber weil es in die Hände des Feindes gelangte, war es nicht mehr aktuell. Wenn man das in Geld bemisst, dann kommt da eine unglaubliche Summe heraus! Wenn das Flugzeug dagegen beim Aufprall explodiert wäre, in Schrauben und Splitter zerschellt wäre, dann hätte es keinen finanziellen Verlust gegeben, sondern nur Beileidsbezeugungen der sowjetischen Machthaber gegenüber der Bevölkerung. Wenn man das so betrachtet, aus der Perspektive der politischen Führung, dann musste sie ohne Emotionen und herzlos entscheiden, was das Wert war: einen Rotbannerorden, den Orden des Roten Sterns, was noch niedriger ist, oder sogar nur einen Orden für den Dienst beim Militär, das ist das niedrigste, den hat fast jeder gekriegt... Aber Held der Sowjetunion?"
Auszeichnungen spielten in der sowjetischen Gesellschaft eine wichtige Rolle. Und Helden der Sowjetunion gelten auch im heutigen Russland wieder etwas. Nicht nur Angehörige ziehen Selbstvertrauen aus der Glorifizierung der Vergangenheit. Patriotische Jugendorganisationen wie die von Anastasija bauen darauf.
"Die Sowjetunion war nicht nur eine Etappe in der gesetzmäßigen Entwicklung unserer Geschichte, sondern eines der hellen Ereignisse. Dass viele jetzt die Sowjetunion als rotes, totalitäres, hartes Regime darstellen, kann ich nicht teilen. Weil diese Zeit viele bekannte Gelehrte hervorgebracht hat, viele bekannte Entdeckungen. Es war die Zeit, als die Menschen einander Freunde und Brüder waren, die Menschen haben im Kommunismus wirklich mit einem anderen Wertesystem gelebt, da standen freundschaftliche Beziehungen im Vordergrund. Für mich ist das eine heldenhafte, zwar komplizierte, nicht in allen Momenten positive, aber dennoch unsere Geschichte, eine andere haben wir nicht, deshalb achte ich auch die sowjetischen Führer und lasse nicht zu, dass die Geschichte umgedeutet wird."

In Deutschland weitgehend vergessen

In Deutschland ist der Absturz der beiden Piloten 1966 weitgehend vergessen. Hin und wieder wird er in Dokumentationen über die 60er-Jahre in Berlin erwähnt, ebenso im Film "Der Himmel über Berlin". Um die Konfrontation der Supermächte zwischen Ost und West zu veranschaulichen, ist die Berlin-Blockade besser geeignet, ebenso die Konfrontation der Panzer am Grenzübergang in der Friedrichstraße.
Galina Kapustina, die Witwe des Piloten, geht jedoch fest davon aus, dass jedes Berliner Kind von der Heldentat ihres Mannes gehört hat. In ihrer Fantasie sind die Deutschen Boris Kapustin bis heute dankbar.
"Mein Sohn lebt seit 20 Jahren in Moskau, besitzt aber keine eigene Wohnung. Irgendwie wurde Angela Merkel berichtet, dass der Sohn Kapustins keine Wohnung hat. Sie begann in ihrem Büro herumzugehen, regte sich auf: Wie kann das sein, der Sohn Kapustins hat 20 Jahre keine Wohnung? Wie kann das sein? Dann machen wir das so: Ich werde die russische Führung anrufen. Wenn sie dem Sohn Kapustins innerhalb eines Monats keine Wohnung geben, dann werde ich persönlich ihm eine Wohnung im Zentrum Moskaus kaufen, von meinem Geld, aber davon wird die ganze Welt erfahren! Das stand sogar in den Zeitungen. Und, was glauben Sie? Zwei Wochen später ruft mein Sohn mich an: Mama, ich habe eine schöne Wohnung bekommen! Das heißt, Merkel hat ihm die Wohnung verschafft."
Noch mehr als der offizielle Blick auf Helden verschiebt sich in den Jahren auch das persönliche Erinnern.
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