Flüchtlingsunterkunft Berlin-Lichtenberg

Zehn Etagen Toleranz

Flüchtlinge laufen am 27.08.2015 mit Koffern bepackt auf einem Weg einer Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Ingelheim (Rheinland-Pfalz) entlang.
Leben auf engstem Raum - in den Flüchtlingsunterkünften ist daher Toleranz gefragt. © picture alliance / dpa/ Christoph Schmidt
Von Adama Ulrich · 02.11.2015
Das Refugium Lichtenberg ist eine Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Berlin. Auf zehn Etagen leben dort etwa 350 Menschen aus allen Teilen der Welt. Wie tolerant müssen die Bewohner ihren Nachbarn gegenüber sein, um Streitigkeiten zu vermeiden?
Für Toleranz plädieren? Das wäre einfach, hat aber mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Schon lange gibt es Toleranz, die auch unterdrückt. Schon lange gibt es Liberale, die für Intoleranz plädieren. Selbst ernannte Verteidiger des Abendlandes predigen Intoleranz, obwohl doch Toleranz zu den Werten dieses Abendlandes gehört. Die "Zeitfragen" begeben sich mit einem Themenschwerpunkt in dieser Woche ins Dickicht aus Toleranz und Intoleranz, aus Erdulden, Anerkennen und Ablehnen.
Das Refugium Lichtenberg ist eine Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge, betrieben von der Arbeiterwohlfahrt Berlin. Auf zehn Etagen leben dort etwa 350 Menschen. Die meisten Bewohner kommen aus Serbien, Albanien, Syrien, Bosnien-Herzegowina, Afghanistan; die wenigsten aus Eritrea, Somalia oder Weißrussland. Sie alle können dort für ungefähr drei Monate wohnen, dann werden sie auf andere Gemeinschaftsunterkünfte verteilt. Neue Flüchtlinge ziehen ein. Wie lebt es sich so multikulturell, zum Teil traumatisiert, auf zehn Etagen? Wie tolerant müssen die Bewohner ihren Nachbarn gegenüber sein, um Streitigkeiten zu vermeiden?

Das Manuskript zum Nachlesen:
"Für mich und mein Baby war die erste Unterkunft, in der wir waren, schrecklich. Es war überfüllt und schmutzig. Die Schlafräume und Küchen wurden nicht geputzt. Zweimal hatten wir dadurch eine Infektion. Aber hier ist es schön."
"Refugium Lichtenberg", eine Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge der Berliner Arbeiterwohlfahrt. Die Einrichtung liegt inmitten einer tristen Plattenbausiedlung aus den 70er-Jahren an der Grenze zu Marzahn. Sie wurde im Rahmen des Wohnungsbauprogramms der DDR fertiggestellt. Zwischen der Landsberger Allee und der Allee der Kosmonauten dienten einige Gebäude bis 1989 auch als Unterkünfte für Vertragsarbeiter aus Vietnam. Das Refugium Lichtenberg ist in zwei dieser ehemaligen Wohnhäuser untergebracht. 2011 wurden sie zusammengelegt, umgebaut und teilsaniert. Die Eröffnung fand im Februar 2012 statt. Seitdem wohnen dort etwa 350 Menschen auf zweimal zehn Etagen.
Das Wort "Eingang" steht in acht Sprachen über der Tür. Die halbe Treppe bis ins Erdgeschoss können auch Rollstuhlfahrer, die auf dieser Etage wohnen, ohne Hilfe bewältigen, ab dort fährt ein Fahrstuhl. Die Etagen haben nicht nur Nummern, sondern auch Symbole: etwa einen Mond, einen Kreis oder einen Querstrich. Damit können sich auch Analphabeten im Haus orientieren. Die Flure sind verwinkelt, die Decken niedrig. Ein Flüchtlingslabyrinth.
Erdgeschoss, Mohamed Bardouz, Sicherheitsdienst.
"Ich kenne fast alle, und wenn die Probleme haben, kann ich auch übersetzen aus dem Arabischen. Ich bin Marokkaner. Das ist auch ein Vorteil für die Bewohner."
Mohamed Bardouz sitzt am Empfang. Von den Bewohnern wird er Momo genannt. Er ist einer von fünf Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes, die rund um die Uhr anwesend sind.
"Telefonate, weiterverbinden, Fragen beantworten auch für die Bewohner übersetzen oder Plan ausdrucken, weil, die kennen sich nicht gut aus. Wenn sie zum Sozialamt gehen sollen und sie wissen nicht wie, dann klären wir das und dann drucken wir das aus. Dann muss ich die Bewohner orientieren. Wo müssen sie hin hier im Haus? Zum Betreuer oder Sachbearbeiter oder Buchhaltung? Sie kommen gar nicht klar mit der Sprache."
Obwohl hier viele Nationalitäten aufeinandertreffen, gibt es nur selten Auseinandersetzungen unter den Bewohnern, erzählt der Sicherheitsexperte.
"Meist sind es Syrer mit Serben, die verstehen sich nicht. Aber man greift ein und es wird in ein paar Minuten geklärt."
7. Etage: Kerstin Kammer, stellvertretende Leiterin.
"Die Leute kommen hier als erstes an und müssen sich erstmal selber finden."
Normalerweise soll die Aufenthaltsdauer in einer Erstaufnahmeeinrichtung wie dem Refugium Lichtenberg maximal drei Monate betragen. Ende Oktober wurde sie im Rahmen des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes auf sechs Monate verlängert. Und Antragsteller aus einem sicheren Herkunftsland müssen demnach in der Erstaufnahmeeinrichtung bleiben, bis eine Entscheidung zu ihrem Asylantrag gefallen ist. Das neue Gesetz kommt allen Beteiligten zugute. Die Sozialarbeiter und –betreuer haben es nicht kurzfristig mit immer neuen Menschen zu tun. Es ist so nervenaufreibend wie zeitaufwendig, ständig alles neu zu erklären und zu organisieren. Und die Flüchtlinge haben den Vorteil, in ihrer gewohnten Umgebung bis auf weiteres bleiben zu können. Kinder brauchen nicht die Schule oder Kita wechseln, kurz nachdem sie sich eingelebt haben, Ärzte und Therapeuten müssen nicht so schnell gewechselt werden. Kerstin Kammer geht es vor allem erst mal darum, dass die Flüchtlinge zur Ruhe kommen.
"Uns ist es wichtig, den Leuten zu zeigen, hier sind sie angekommen. Wir wollen ihnen hier kein Zuhause aber wir wollen ihnen einen Raum schaffen, wo sie wissen, jetzt sind wir da, hier können wir einen Moment bleiben, hier müssen wir zurecht kommen, hier werden die Kinder in der Schule angemeldet und hier ist der Anfang eines neuen Lebens."
Kerstin Kammer hat schon in verschiedenen Flüchtlingseinrichtungen gearbeitet. Trotz spröder Plattenbauästhetik und verwinkelter Flure, die einen schnell die Orientierung verlieren lassen, findet sie diesen Gebäudekomplex für den vorgesehenen Zweck völlig in Ordnung.
"Das Haus hat viele Ecken und Kanten, aber dadurch wird viel unterbrochen und man fühlt sich so in seinem kleinen Bereich. Die Bewohner sehen es genauso und fühlen sich wohler als in Wohnheimen mit langen Fluren und überall gehen die Zimmer ab. Am Ende des Flurs ist dann die Toilette oder Küche. Das ist hier alles besser."
Im Oktober 2015 lebten 14 Nationalitäten im Refugium Lichtenberg. Die meisten Flüchtlinge, 134, kamen aus Syrien, gefolgt von 45 Albanern und 41 Serben. Aus Moldau stammten 31 Menschen, 24 aus dem Irak, 18 aus Afghanistan. Aus der Ukraine, Turkmenistan, Jugoslawien und Bangladesch kam jeweils ein Flüchtling. In 21 Fällen war die Herkunft ungeklärt.
"Es gibt so verschiedene Kulturkreise, wie den arabischen Kulturkreis mit Syrien, Irak, Libanon, den persischen Kulturkreis Iran, Afghanistan, dann den russischen mit allen möglichen Tschtschenien, Turkmenistan, Moldawien, Ukraine und dann eben die Balkanstaaten, die sich auch unterscheiden: Albanien, Kosovo, Serbien, Bosnien, Mazedonien alles, was dazu gehört. Das ist natürlich schwierig, alle Leute auf so engem Raum bei Laune zu halten."
Sind bei so großer Vielfalt Konflikte nicht vorprogrammiert?
"Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, es gibt keine Konflikte und keine Probleme. Unsere Probleme beziehen sich mehr auf Ordnung, Sauberkeit, das Zusammenleben im Wohnheim, auf Lautstärke, auf Nachtruhe. Die Menschen leben hier auf engstem Raum. Sie leben mit vier Personen in einem Zimmer. Da wird gegessen, geschlafen, gespielt. Das spielt sich alles ab in einem Zimmer. Religiöse Konflikte gibt es eigentlich gar nicht. Jedenfalls nicht so sichtbar, dass wir sie wahrnehmen würden."
"Den Leuten respektvoll gegenübertreten"
Kerstin Kammer arbeitet seit mehr als 20 Jahren als Sozialbetreuerin in Flüchtlingseinrichtungen. Sie weiß, worauf es ankommt, um ein möglichst friedliches Miteinander zu gewährleisten.
"Für uns ist es ganz wichtig, den Leuten respektvoll gegenüberzutreten, sie höflich zu behandeln, ihnen zu zeigen, dass wir auf Augenhöhe mit ihnen reden. Und ich glaube, wenn die Leute merken, dass wir sie respektvoll behandeln, und dass wir auch keine Unterschiede machen, ob sie aus einem Kriegsgebiet kommen oder ob sie aus den Balkanstaaten kommen. Wir fragen nicht, wo kommt ihr her. Wir werten das nicht. Das ist wirklich ein Anliegen aller Mitarbeiter. Wenn die Leute merken, hier wird nicht gewertet, ich bin hier einfach nur der Mensch, der ich bin, dann kriegen sie das auch untereinander gut hin."
Und noch etwas trägt im Refugium Lichtenberg zu einer weitestgehend entspannten Atmosphäre bei, betont Kerstin Kammer.
"Jede Etage hat ein Büro. So dass wirklich in jeder Etage ein Ansprechpartner da ist. Das ist uns auch wichtig. Dass die Leute genau wissen, wer ist für mich zuständig, wen kann ich ansprechen. Wir haben das so gelöst, dass immer drei Etagen einen Sozialbetreuer haben und den dazugehörigen Sozialarbeiter und dass wir in kleinen Teams drei Etagen betreuen."
6. Etage: Natalija Schönbrodt, Sozialarbeiterin.
"Did you go to the doctor?"
"Yes, yesterday I did."
Seit 2013 ist Natalija Schönbrodt hier als Sozialarbeiterin tätig. Zu ihren Aufgaben gehört es, Flüchtlinge in sozial- und aufenthaltsrechtlichen Fragen zu beraten und Termine bei Ämtern und Ärzten zu koordinieren.
"Ich muss ihnen zwei Dinge sagen: Ich kann ein Fax ans BAMF senden und sie bitten, uns eine Kopie der Kopie zu schicken. Aber auch die Kopie der Kopie benötigt einen speziellen Stempel. Mit dieser Kopie können sie zum Standesamt gehen und dann bekommen sie die Geburtsurkunde. Das Zweite ist, jetzt können sie vom Standesamt einen 'Auszug aus dem Geburtenregister' erhalten. Das ist wichtig, damit wir das Baby hier registrieren können."
In dem kleinen Büro von Natalija Schönbrodt sitzt Nadja aus Belgrad. Seit zwei Monaten wohnt sie mit ihrem Baby im Refugium Lichtenberg. Sie benötigt eine Geburtsurkunde und Arzttermine für ihr Kind.
"Gestern war ich beim Arzt. Jetzt brauche ich Termine für einen Therapeuten für mein Baby."
"Für einen Physiotherapeuten. Aber sie wissen, dass sie dafür eine Überweisung von ihrem Arzt benötigen?"
"Das hier?"
"Ja genau, das ist sie. Gut, ich werde einen Physiotherapeuten raussuchen und einen Termin vereinbaren. Dann sage ich Ihnen Bescheid."
"Ja, ja, ja."
"Wir sehen uns Montag. Dann können sie auch erzählen, wie es auf dem Standesamt war. Bis dann."
Natalija Schönbrodt ist eine von drei Sozialarbeitern im Refugium Lichtenberg. Sie ist für das Erdgeschoss sowie für die vierte, fünfte, sechste und siebte Etage zuständig. Da sie aus Lettland kommt und russisch spricht, betreut sie auch viele russischsprachigen Flüchtlinge.
"Die Frau kommt aus Moldau. Es gibt sehr viele Flüchtlinge momentan aus Moldau. Was für eine Krise es dort gibt, kann ich so nicht wirklich sagen. Aber auf jeden Fall schon sehr viel Armut, ja, vielleicht ein bisschen auch politische Unruhen wegen des Konflikts in der Ukraine momentan. Kann auch sein. Die Leute wollen doch irgendwie eine Perspektive auch aufbauen, die Möglichkeit haben, irgendwie was zu lernen, aus ihrem Leben was zu machen. Ich denke, dass sie das momentan hier in Deutschland auch sehen. Sie wollen auch gleich die Kinder in der Schule unterbringen oder Kinder in der Kita."
Natalija Schönbrodt wendet sich jedem Flüchtling mit derselben Aufmerksamkeit zu und erklärt ihm geduldig komplizierte bürokratische Abläufe. Dabei spielt es keine Rolle, wie die Bleibeperspektive des jeweiligen Flüchtlings aussieht, ob also jemand voraussichtlich in Deutschland bleiben darf oder nicht. Ihre Ausbildung als Mediatorin kommt ihr bei ihrer Arbeit sehr zugute, denn meist sind die Ursachen für Auseinandersetzungen ganz praktischer Natur.
"Öfter gibt es auch kleine Konflikte zwischen Menschen hier. Sind sehr verschiedene, unterschiedliche Kulturen. Dadurch entstehen Konflikte. Ich versuche den Leuten zu helfen, diese Konflikte zu lösen. Also zum Beispiel öfter sind hier Badezimmer geteilt - zwei Familien teilen sich ein Badezimmer und natürlich nach der Benutzung der Badezimmer muss dann jeder putzen. Und es kommen öfter Leute und beschweren sich, ja, diese Familie hat heute die Toilette benutzt, aber sie haben nicht geputzt. Ja, und der Konflikt wächst dann, weil sie halt dann nicht miteinander kommunizieren können. Oder vielleicht, der Ton macht die Musik, vielleicht gestaltet sich Kommunikation ein bisschen auf dem aggressiven Weg."
Darum weist Natalija Schönbrodt die Bewohner von Anfang an darauf hin, dass sie schon bei kleinen Vorfällen oder Ärgernissen mit Nachbarn ihren Sozialarbeiter oder Sozialbetreuer aufsuchen sollen, damit die Situation nicht eskaliert.
4. Etage, Armando Pinela, Sozialbetreuer.
Im Unterschied zu Sozialarbeitern wie Natalija Schönbrodt, kümmert sich Armando Pinela um die internen Angelegenheiten der Bewohner. Er schildert einen Fall.
"lch habe gestern zwei Personen bekommen hier. Eine Mutter mit ihrem Sohn. Und die sitzt im Rollstuhl, also ist behindert. Der Sohn ist auch krank. Sie wohnen bei uns Parterre, das ist unser geschützter Bereich, also Behindertenbereich. Die hatten noch keine Hygieneartikel bekommen. Und die waren dann unterwegs und sind gerade gekommen als die Essenausgabe schon zu war. Und das sie noch, weil sie so viele Medikamente hat, einen kleinen Tisch bräuchte. Und, ja, und das war dann eben meine Aufgabe, das alles zu besorgen."
Das Refugium Lichtenberg ist eine Erstaufnahmeeinrichtung für erwachsene Flüchtlinge im Sachleistungsbezug. Das heißt, sie bekommen drei Mahlzeiten, Hygieneartikel und Wäsche gestellt. Die Aufnahme der Flüchtlinge erfolgt durch Zuweisung des Landes Berlin, also durch das zuständige Sozialamt. Schon bei der Vergabe der Zimmer versuchen Armando Pinela und seine Kollegen etwaigen Konflikten vorzubeugen.
"Gott sei Dank, haben wir eigentlich hier noch nie so richtigSpannungen wegen Religion gehabt. Aber, ja, wir gucken schon, so ein bisschen. - Wir haben zum Beispiel, die 10er-Zimmer und 12er-Zimmer sind gegenüber und teilweise abgeschlossen so am Ende. Wir achten schon darauf, wenns da eine arabische Familie gibt, dass auch gegenüber eigentlich immer eine arabische Familie hinkommt. Aber das ist nicht immer von uns abhängig. Weil, wenn jemand aus einem Zimmer abreist und wir melden das Zimmer frei und das Sozialamt schickt uns eine Familie aus Mazedonien oder aus Serbien, das können wir dann natürlich auch nicht ändern. Dann muss die Familie da erst mal hin, weil wir nichts anderes frei haben. Aber in der Regel, wie gesagt, die Bewohner vertragen sich ganz gut. Notfalls können wir dann helfen, später mit einem Umzug, dass die Familie dann in irgendeine Etage, wo wieder eine anderes Zimmer frei geworden ist, zieht. Also wir versuchen schon, nach Sprachen zu sortieren, wenn's geht. Also Serbien, Bosnien Balkan die passen zusammen von der Sprache her. Weil die fast alle, bis auf Albanisch, Serbo-Kroatisch sprechen. Und eh, die Araber sowieso, die können auch ganz gut, ob es Syrier sind, Iraker sind oder andere Länder. Die Sprache verbindet, und die können dann auch miteinander in der Regel."
5. Etage, Kantine.
Die Bewohner bekommen hier drei Mahlzeiten am Tag. Frühstück, Mittagessen und Abendbrot. Selbst gekocht wird nicht. Das Essen wird von einer Großküche angeliefert. Mittags, zwischen 12 und 14 Uhr, gibt es immer zwei Wahlessen. Heute stehen Geflügelwurst mit Sauerkraut und Rindergulasch mit Reis auf dem Speiseplan.
Ruhige Stimmung bei der Essensausgabe
An der Essenausgabe hat sich eine Schlange gebildet. In dem hellen Raum stehen ein paar Tische und Stühle. Doch die meisten Bewohner nehmen ihr in Aluminium-Assietten verpacktes Essen mit aufs Zimmer. Es herrscht eine ruhige, gedämpfte Stimmung.
"Ja, ehrlich gesagt, so ruhig finde ich es gar nicht, weil man einfach permanent irgendwie beschäftigt ist und nicht zur Ruhe kommt. Aber es ist einigermaßen gut organisiert. Deswegen wirkt es vielleicht ruhig."
Renate Oetter arbeitet seit einem Jahr in der Hauswirtschaftsabteilung im Refugium Lichtenberg. Sie kennt inzwischen viele Bewohner persönlich und hat sogar angefangen, Arabisch zu lernen.
"Es gab Konflikte mit arabischen Familien, weil ich das Gefühl hatte, die stehen total unter Druck. Und ich hatte das Gefühl, wenn ich ein paar Worte Arabisch spreche, öffnet das ein bisschen die Situation. Und deswegen habe ich das angefangen zu lernen, und das macht Spaß. Und man kriegt auch was zurück. Das ist ganz nett."
Durch die Beschäftigung mit der Sprache und der damit einhergehenden Kommunikation mit einigen Flüchtlingen hat Renate Oetter auch tiefere Einblicke in deren Lebensumstände erlangt.
"Es gibt Unterschiede zwischen Stadt und Land. Also Leute, die aus Damaskus kommen, sind anders drauf als Leute, die vom Land kommen in Syrien. Oder es gibt kurdische Syrier und es gibt verschiedene Regionen auch innerhalb von Syrien. Da gibt es Unterschiede. Dann gibt es Leute aus Ägypten, die sprechen arabisch, aber sind dann zum Teil Christen und kommen deshalb. Da gibts dann auch nochmal Unterschiede."
Trotz all der Unterschiede und den schwierigen Situationen, aus denen die Flüchtlinge kommen, verhalten sie sich erstaunlich tolerant, findet Renate Oetter:
"Also die Leute haben tatsächlich buchstäblich zum Teil nichts. Das finde ich wirklich schlagend. Also sie kommen wirklich teilweise und haben nicht viel mehr als die Klamotten, die sie am Leib tragen. Das find ich wirklich irre. Und dafür find ich, sind sie noch relativ glücklich und zufrieden, wenn sie sich hier im Haus bewegen."
8. Etage, Mustafa Akel, Flüchtling.
"Das Gebäude ist sehr gut. Vielen Dank! Das Essen ist gut, die Getränke auch - Wasser und Milch und Saft. Die Nachbarn sind auch gut. Wir reden nicht viel mit den Nachbarn. Wir wollen Deutsch lernen und denken an die Zukunft. Manchmal gehen wir auch raus, weil wir Berlin kennenlernen wollen."
Mustafa lebt seit einem Monat im Refugium Lichtenberg. Er ist mit seiner Frau und der einjährigen Tochter aus Syrien geflohen.
"Ich bin durch Damaskus gelaufen und habe viele Bomben gesehen. Sechs Kinder starben vor meinen Augen. Wir sind hergekommen, weil hier keine Bomben fallen und wir hier leben können."
Mustafa und seine Frau sind protestantische Christen. In Damaskus haben sie in der Sonntagsschule ihrer Kirche die Kinder betreut. Als seine Frau nur knapp einem Säureattentat entging, weil sie als Christin kein Kopftuch trug, haben sie sich endgültig entschlossen, Syrien zu verlassen. Die Kirchengemeinde hat Geld für die Flucht gesammelt.
"Ich vermisse die Gärten, die Straßen und die Geschäfte von Damaskus, aber das alles gibt es gar nicht mehr. Alles ist zerstört. Damaskus und Syrien trage ich in meinem Herzen. Aber jetzt leben meine Frau und ich in Berlin. Zukünftig werde ich vielleicht Deutschland in meinem Herzen tragen."
Keller, Hauswirtschaft.
In einem flachen Raum stehen elf Waschmaschinen und zehn Trockner. An der Eingangstür zum Waschraum wartet eine Frau mit einem Korb voller schmutziger Wäsche. Doch einfach auf gut Glück Wäsche waschen zu wollen, das geht bei 350 Bewohnern nicht.
"Sie hatte vorgestern einen Termin und möchte aber jetzt waschen. Wir sind voll. Wenn alle kommen, dann können wir ihr keine Waschmaschine geben, weil die anderen einen Termin haben. Wenn aber eine Familie nicht kommt, dann kann ich sie reinschieben."
Michelle Irmler absolviert eine Ausbildung als Sozialassistentin. Im Refugium Lichtenberg hilft sie als ehrenamtliche Praktikantin. Trotz der vorgeschriebenen und notwendigen Terminvergabe, bemüht sie sich, so flexibel wie möglich zu sein.
"Man versucht es den Bewohnern auch so angenehm wie möglich hier zu machen. Man versucht dann, immer irgendwas, auch wenn sie jetzt den Termin verpasst haben, versucht man es trotzdem ihnen möglich zu machen."
Die Frau mit der schmutzigen Wäsche hat Glück. Ein bestellter Termin wurde nicht wahrgenommen, so dass sie jetzt die beiden Maschinen benutzen kann.
"Ich war beim Sozialamt um 5 Uhr früh, da konnte ich nicht kommen."
Ashtar Hussein kommt aus dem Irak. Sie gehört der religiösen Minderheit der Jesiden an. Früher hat sie mit ihrem Mann, einem Mathematiklehrer, und ihren vier Kindern ein gutes Leben geführt. Doch seitdem der Islamische Staat in ihrer Heimat wütet und brutal gegen alle Minderheiten vorgeht, sind Ashtar und ihre Familie auf der Flucht. Vor zwei Monaten ist sie dann endlich mit ihren Kindern in Deutschland angekommen.
"In Deutschland gefällt es mir sehr gut. Meine Kinder gehen jetzt zur Schule. Es ist sehr schön. Ich habe vier Kinder. Ich möchte hier bleiben. Mein Mann ist aber noch im Irak. Ich möchte, dass er auch kommt. Das Geld hat nicht gereicht, um ihn mitzunehmen. Wir haben unser Haus verkauft und mein Auto. Ich bin mit den Kindern gekommen, aber er konnte uns nicht begleiten."
Ein paar Türen weiter befinden sich die Hygieneartikel- und die Wäscheausgabe. Auch hier hat alles seine Ordnung.
"Hier ist eine Laufkarte. Hier ist dein Name, deine Zimmernummer. Hier kannst du Wäsche tauschen. Bringst du alles runter, dann kriegst du alles sauber zurück. Okay? Und hier hast du Waschmaschinentermin, morgen früh um acht."
Alle 14 Tage können die Bewohner Bettwäsche und Handtücher tauschen. Trotz sorgfältiger Buchführung gerät doch immer mal wieder etwas durcheinander.
"Jetzt habe ich es verstanden. Sie hätte vier haben können, hat aber nur zwei genommen. Jetzt möchte sie vier haben."
"Du musst nächstes Mal aufschreiben, wie viel ich genommen habe. Jetzt denken, ich zappzerapp..."
Gleich nebenan werden die Hygieneartikel ausgegeben: Cremes, Duschbäder, Haarwaschmittel, Zahnpasta. Auch hier wird penibel Liste geführt, wer wann was erhält.
"Entschuldigung, darf ich etwas fragen: Für die Kleine kann ich bitte Hautcreme für unten bekommen?"
"Creme hat er dir gar nicht gegeben. Warte mal. Du hast Zahnpasta, Zahnbürste für die Kinder, aber Creme haste nicht. Du hast recht."
"Dankeschön. Tschüss!"
Neben dem Waschraum und der Hygieneartikel- und Wäscheabgabestelle liegt noch die Kleiderstube im Keller. Die Regale sind gefüllt mit gespendeten Schuhen, Hosen, Röcken, Mänteln und Jacken.
"Wir bekommen sehr viel Spenden. Da muss ich aber gleich dazu sagen, dass Schuhe fehlen. Wir bräuchten viel mehr Schuhe, Winterschuhe! Aber der Platz ist auch recht begrenzt."
Elke Boigk arbeitet hier ehrenamtlich. Sie tut das gern, nur mit dem Standort der Kleiderstube ist sie nicht so ganz zufrieden.
"Wir würden auch gerne aus dem Keller rausziehen. Das hat bis jetzt noch nicht geklappt. Das ist angedacht, aber da gibt es noch ein paar Probleme zu lösen. Die Leute kommen nicht gern in den Keller, das ist auch manchen unangenehm. Und, ja, ich möchte auch nicht, dass die Kinder in den Keller kommen, weil es hier auch immer staubig ist, das kriegen wir auch nicht alles weg, vom Bau her schon. Ansonsten hab ich jetzt Helfer gefunden, das ist sehr schön, da gehts jetzt voran. Und ich hab auch Helfer aus dem Heim, aus dem Wohnheim. Die tragen sich immer ein, zwei Mal, zwei Mann immer. Und die kommen, und, ja, sind fleißig, das klappt ganz gut."
Flüchtlinge suchen Kleider - und das Gespräch
Nicht alle, die in die Kleiderstube kommen werden fündig, manche kommen auch aus ganz anderen Gründen zu Elke Boigk.
"Neben der Kleidung suchen sie auch das Gespräch. Was ein bisschen schwierig ist durch diese vielen unterschiedlichen Sprachen. Aber sie suchen manchmal auch jemanden, der zuhört. Selbst wenn ich zum Beispiel die Sprache nicht verstehe, aber ich kann trotzdem zuhören. Und ich habe den Eindruck, dass das manchen gut tut. Auch mal streicheln und so."
Elke Boigk wohnt nicht weit entfernt vom Refugium Lichtenberg. Bevor sie anfing sich dort zu engagieren, hat sie sich oft gefragt, wer diese fremden Menschen wohl seien und was sie hier wollen.
"Ich habe ja hier die Gelegenheit, diese 'Fremden' kennenzulernen. Und ich hab eben eine positive Erfahrungen gemacht. Und das könnte jeder andere auch mal probieren. Ja. Und dann kann man ja sehen, dass das alles ganz normale Leute sind. Ja. Viele mit einem schweren Schicksal."
4. Etage, Natalija Schönbrodt, Sozialarbeiterin.
"Guten Tag. Ist jemand zu Hause? Hier ist Natalia Schönbrodt, die Sozialarbeiterin."
Die Sozialarbeiterin ist jetzt zusammen mit einer Dolmetscherin im Refugium Lichtenberg unterwegs. Sie leistet sogenannte aufsuchende Hilfe.
"Die Bewohner sind momentan nicht da, wahrscheinlich sind sie im Moment bei der zentralen Aufnahmestelle. Deshalb hänge ich hier so einen Zettel an die Tür. Hier steht Info auf Farsi auch, wann die Beratungszeiten bei mir stattfinden, an welchem Tag, von wann bis wann, und in welchem Zimmer, ja, damit die Bewohner schon informiert sind."
In der 7. Etage trifft Natalija Schönbrodt eine Familie aus Albanien an.
"Ich hab einen Sohn der fünf Jahre alt ist, da könnte ich Hilfe gebrauchen. Er macht eine Therapie im Klinikum Friedrichshain. Es geht ihm nicht so gut. Er hat psychische Probleme. Und die Frage ist jetzt, gibt es eine Möglichkeit, dass er einen Kindergarten besuchen kann?"
"Es bestehen die Möglichkeiten, aber meine Kollegin aus dem Kinder- und Jugendbereich und ich, wir müssen ihn kennenlernen."
Erdgeschoss, Kinderbetreuung.
In zwei bunt bemalten Räumen toben etwa 15 Kinder. Ina Talut aus Kasachstan arbeitet hier als Erzieherin. Sie spricht Deutsch und Russisch. Mit den anderen Kindern kann sie sich auch verständigen.
"Wir haben Hände, Füße und Augen, nicht nur die Sprache. Das ist ja Ausstrahlung, Körpersprache."
Im Oktober dieses Jahres wohnten 155 Kinder und Jugendliche im Refugium Lichtenberg, davon waren 58 zwischen zwei und sechs Jahre alt. Einige von ihnen haben große Probleme.
"Es gibt sehr aggressive Kinder, traumatisierte Kinder. Da muss man wirklich aufpassen, dass sie nicht schlagen, sich nicht weh tun. Aber es sind auch liebe Kinder dabei, aber die sitzen dann in der Ecke und weinen. Da muss man immer ein bisschen aufpassen. Und laut ist es hier."
Für die Eltern, die viele Behördengänge zu erledigen haben und oft stundenlang warten müssen, ist die Kinderbetreuung eine große Hilfe.
1. Etage, Jugendzimmer.
15 Mädchen und Jungen sitzen um einen Tisch. Sie bekleben Luftballons mit Zeitungspapier. Daraus sollen Lampen entstehen. Die Beschäftigung dient nicht nur dem Zeitvertreib. Sie lenkt die Jugendlichen auch von den Problemen ab, die ihre Eltern zur Flucht gezwungen haben.
"Ich mag es. Es ist sehr, sehr gut, besser als Albanien. Ich bin hier mit meiner Familie. Meine Mama und mein Vater haben Probleme. Mein Vater hat einen kaputten Arm und meine Mutter hat Probleme mit der Hüfte."
Für den Jugendbereich ist Sadaf Kayanor zuständig. Die angehende Sozialarbeiterin mit afghanischen Wurzeln organisiert Projekte und wird bei Bedarf auch als Persisch-Übersetzerin eingesetzt.
"Wir haben einen wöchentlichen Stundenplan. Es gibt ein musikalisches Angebot, ein Theaterangebot, künstlerische Angebote. In den Ferien machen wir mehr. Es gibt eine Ferienschule. Jeden Tag von 10 bis 16 Uhr treffen wir uns in diesem Raum. Wir frühstücken zusammen und bereiten etwas aus jedem Land. Die Jugendlichen kaufen ein und bereiten es zu. Danach lernen wir zusammen Deutsch. Am Nachmittag machen wir dann Projektarbeit. Jetzt gerade geht es darum, aus Müll Gegenstände, also Skulpturen oder Lampen zu bauen."
Die meisten Jugendlichen kommen gern hierher. Trotzdem ist die Arbeit mit ihnen nicht immer leicht.
"Es gibt Grenzen. Alleine durch die verschiedenen Sprachen, Kulturen. Da hat man auch in dieser Phase, wir sind eine Erstaufnahmeeinrichtung, genug mit sich selber zu tun, mit den eigenen Bedürfnissen, da ist eigentlich schon kein Raum mehr für andere. Die hier geben sich verdammt viel Mühe, gemeinsam was zu machen. Das hat aber auch ein bisschen gebraucht. Wir brauchen auch länger, uns kennenzulernen, es zuzulassen, dass manche zu einer gewissen Zeit beten gehen, die andern aber anders sind. Untereinander ist schon ganz schön viel, was zu beachten ist, um Toleranz zu gestalten."
Sadaf geht es bei ihrer Arbeit vor allem darum, dass die Jugendlichen hier selbstbestimmt handeln können. Sie haben auch das Jugendzimmer selbst gestaltet. Es ist ein geschützter Raum, sagt Sadaf Kayanor.
"Die können hier rein wann sie wollen, sie können selber mitgestalten, welche Angebote es gibt. Was sie in ihrem Alltag nicht haben. In ihrem Alltag in der Erstaufnahme ist vom Essen, Kleidung, alles, alle Dinge sind fremdbestimmt. Sie kriegen ein Deo gestellt, ein Essen vorgesetzt. Da ist wenig Selbstbestimmung da. Da geht es mir dann hier darum, mindestens innerhalb dieser vier Wände."
6. Etage, Natalija Schönbrodt, Sozialarbeiterin.
In ihrem Büro fasst Natalija Schönbrodt ihre Erfahrungen zusammen, die sie in ihrer langjährigen Tätigkeit als Sozialarbeiterin und als Mediatorin gemacht hat:
"Ich finde, man muss wirklich sehr tolerant sein. Es ist eine der wichtigsten Eigenschaften in der Flüchtlingsarbeit, Toleranz auch gegenseitig sich zu zeigen."
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