Flüchtlingskrise

Unterwegs mit Hamburgs Flüchtlingskoordinator

Flüchtlinge auf der Straße in Hamburg.
Flüchtlinge auf der Straße in Hamburg. © Daniel Bockwoldt
Von Axel Schröder · 24.11.2015
18.000 Flüchtlinge leben derzeit in den völlig überfüllten Erstaufnahmeeinrichtungen Hamburgs. Täglich kommen rund 350 dazu. Für ihre Unterbringung zuständig ist Anselm Sprandel, seit vier Wochen Flüchtlingskoordinator der Hansestadt. Axel Schröder hat ihn begleitet.
Seit vier Wochen ist Anselm Sprandel Hamburgs erster Flüchtlingskoordinator. Abends um sechs ist er unterwegs zu einem nicht ganz einfachen Termin. Eine Bürgerversammlung in Hamburg-Rissen. Für Anselm Sprandel ist es die erste Veranstaltung dieser Art.
"In Rissen geht es darum, dass ein großes Areal mit Wohnungen bebaut werden soll, die zunächst einmal Unterkunft für Flüchtlinge werden sollen. Und dann, im Laufe der Jahre, in normalen sozialen Wohnungsbau übergehen sollen. Da geht das um 3.600, 3.700 Menschen, die da Unterkunft finden sollen."
Anselm Sprandel geht noch mal die Statistiken durch. Hinten in seinem Dienstwagen überfliegt er die neuesten Zahlen: Rund 350 Flüchtlinge kommen täglich in Hamburg an. Über 18.000 leben zurzeit in völlig überfüllten Erstaufnahmeeinrichtungen. Vorn im Wagen: Sprandels Fahrer und eine Mitarbeiterin. Die ihn kurz brieft für die anstehende Bürgerversammlung.
Das Chaos bei der Flüchtlingsunterbringung in den Griff kriegen
Vor seinem Job als Krisenmanager war Anselm Sprandel Verwaltungsleiter in der Sozialbehörde. Jetzt soll er zusammen mit seinen mittlerweile 70 Mitarbeitern das Chaos bei der Flüchtlingsunterbringung in den Griff kriegen, Integration vorantreiben oder die Zusammenarbeit mit ehrenamtlichen Initiativen verbessern. Es geht darum, wie Sprandel es ausdrückt, endlich wieder "vor die Lage zu kommen":
"Das heißt, dass man in der Planung so weit voraus ist, dass man nicht mehr überrascht wird von der Entwicklung. Sondern dass man auf jede Entwicklung eine Antwort parat hat. Das heißt, dass ich nicht mehr in die Situation komme, morgens nicht zu wissen, wo ich abends die Menschen unterbringe, die im Laufe des Tages kommen. Diese Situation hatten wir manchmal. Und wir stehen immer noch wieder vor der Bedrohung, dass wir in diese Situation reinrutschen. Und ich möchte gern, dass wir so viele Einrichtungen und so viele Belegungsmöglichkeiten im Voraus haben, dass wir aus diesem Not-Modus herauskommen."
Werben um das Vertrauen der Bürger
Ankunft in Rissen, vor der Schulaula, in der schon rund 500 Anwohner warten. Die Bezirksamtsleiterin ist da, der Altonaer Stadtplaner, ein Vertreter der Schulbehörde und die zuständigen Bezirkspolitiker. Anselm Sprandel spricht als einer der ersten. Steht auf, schlichter grauer Anzug, weißes Hemd, Krawatte. Sprandel wirbt um Vertrauen, erklärt die Powerpoint-Präsentation, die roten und blauen Balken hinter ihm an der Wand:
"Deswegen bin ich ja heute hier, um ihnen die Rahmenbedingungen in der Flüchtlingsthematik zu erläutern, die man kennen und berücksichtigen muss, wenn man über das Bebauungsvorhaben, um das es hier heute Abend geht, berät. – Die roten Balken, die zeigen sehr deutlich den Problemdruck. Sie zeigen, wie das Problem gewachsen ist, wie stark es gewachsen ist. Wir haben zuletzt 10.000, über 10.000 Menschen pro Monat, die zu uns gekommen sind. Und die erst einmal versorgt werden mussten. Vielen Dank!"
Bei den Anwohnern überwiegt die Skepsis
Der kurze Applaus für Anselm Sprandels Appell, die Pläne für die Neubauten in Rissen im Planungsgebiet Surheide mitzutragen, heißt nicht, dass damit alle damit einverstanden wären. Die meisten tragen ihre Argumente gegen die Pläne zwar sachlich vor, die meisten haben nichts gegen eine neue Flüchtlingsunterkunft in ihrer Nachbarschaft. Aber bitte nicht in der vom Bezirk favorisierten Größe.
"Man ist sich, denke ich mal, unisono einig, dass diese Großunterkünfte Probleme für die nächsten 50 Jahre verursachen. Und wir einen solchen Problembereich natürlich nicht vor der Tür haben wollen, sondern wir wollen die Politik des Senats vom Kopf auf die Füße stellen. Das heißt: Vorrang für Integration und dann schauen wir, wie wir durch bestmögliche Dezentralisierung und Durchmischung eine Integration langfristig sicherstellen."
"Hut ab" vor dieser Riesenherausforderung
Eine Bürgerin findet die Pläne regelrecht unfair. Immerhin hätten sie und ihr Mann viel, sehr viel Geld für ihr Haus ausgegeben. Ein älterer Herr warnt: Die Flüchtlinge seien Invasoren, vor denen man sich schützen müsse. Kopfschütteln im Publikum und Zwischenrufe. Applaus für den Versammlungsleiter, als er dem Verschwörungstheoretiker das Wort entzieht. Anselm Sprandel bleibt bis zum Schluss. Er kann zwar längst nicht alle Rissener überzeugen. Aber immerhin klar machen, was für eine schwierige Mission er hat:
(Bürgerin): "Ich denke, dass der Herr Sprandel eine riesengroße Herausforderung zu bewältigen hat. Und dass die Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung stehen, wirklich sehr begrenzt sind. Hut ab vor dem, was er zu tun hat. Ich wünsche ihm viel Glück bei seiner Riesen-Aufgabe."
Um kurz nach zehn sitzen Hamburgs Flüchtlingskoordinator und seine Mitarbeiterin wieder hinten im Dienstwagen. Seit fünfzehn Stunden ist Anselm Sprandel an diesem Tag im Einsatz. Er atmet tief durch, beeindruckt vom Gegenwind auf der Rissener Bürgerversammlung:
"Sie war schon anstrengend. Das muss ich schon sagen. Ich habe schon damit gerechnet, dass dort kritische Stimmen geäußert werden. Aber dass sie so massiv auftreten, das war ein Stück... dann eine eigene Erfahrung."
Dezentrale Unterbringung der Flüchtlinge scheitert an den praktischen Möglichkeiten
Verstehen kann er die Menschen ja, betont Sprandel. Und auch die Idee der besseren Integration von Flüchtlingen durch die Unterbringung in vielen dezentralen, kleinen, über die ganze Stadt verteilten Siedlungen, diese Idee sei zwar gut. In der Theorie, aber nicht in der Praxis, so Anselm Sprandel.
"Und auch die Vorstellung, die es gibt, das ganz gleichmäßig über die Stadtteile zu verteilen, das ist eine sehr theoretische Vorstellung. Praktisch gibt es eben hier eine Fläche und dort. Aber es gibt nicht überall Flächen, die man verwenden kann. Und deswegen kommen wir nicht umhin, die zu nehmen, die wir haben. Und wenn jemand noch eine andere Fläche weiß, soll er sie gerne nennen. Wir nehmen sie gerne, wir brauchen sie zusätzlich."
Um halb elf setzt Sprandels Fahrer seinen Chef zuhause ab. Morgen früh, pünktlich um 7.15 Uhr wird er ihn wieder abholen.
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