Flüchtlingsdiskurs

Guter Flüchtling - schlechter Flüchtling?

Ein syrischer Dreijähriger, der auf der Flucht ertrunken ist, wurde an einem türkischen Strand angespült
Ein syrischer Dreijähriger, der auf der Flucht ertrunken ist, wurde an einem türkischen Strand angespült © dpa / picture alliance / Andy Rain
Margarete Jäger im Gespräch mit Dieter Kassel · 04.09.2015
Welle, Flut, Strom – in der Flüchtlingsdiskussion werden häufig Bilder heraufbeschworen, die Bedrohungsgefühle auslösen, kritisiert Margarete Jäger. Ein Unterschied zu den Debatten in den 90er-Jahren bestehe aber darin, dass häufiger Einzelschicksale in den Vordergrund gestellt würden.
Häufig ist in diesen Tagen von Flüchtlingsströmen oder -wellen die Rede. Margarete Jäger, Leiterin des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung, warnt vor dem inflationären Gebrauch solcher Begriffe.
"Die Leute fliehen, die Leute reisen aus, die Leute reisen ein, es gibt möglicherweise sogar einen Andrang. Ich will auch gar nicht sagen, dass man ab und zu auch mal von einer Welle sprechen kann", so die Sprachwissenschaftlerin. Aber es komme darauf an, solche Bilder nicht ständig einzusetzen.
Keine amorphe Masse, sondern Einzelschicksale
Allerdings habe sich der Umgang der Medien mit dem Thema Flucht gegenüber der Asyldebatte der 90er-Jahre inzwischen geändert: "Das ist auch ein Unterschied gegenüber früher. Da wurden die Flüchtlinge als amorphe Masse dargestellt, gar nicht erkennbar die Einzelnen." Heute hingegen achteten die Medien darauf, dass einzelne Schicksale in den Vordergrund gestellt würden.
Begrüßenswert sei auch, dass heute nicht mehr von Asylanten die Rede sei, sondern fast ausnahmslos von Flüchtlingen. Aber es werde dabei unterschieden zwischen "schutzwürdigen" Flüchtlingen und anderen, "die nicht schutzbedürftig sind oder die keinen Schutz verdienen", sagt Jäger. "Das ist aber das Gefährliche, dass diese Gruppe der Flüchtlinge, die aus bedrohlichen Situation heraus ihr Land verlassen müssen, dass die aufgeteilt werden."

Dieter Kassel: Als Vizekanzler Sigmar Gabriel Menschen, die vor Flüchtlingsunterkünften mit rassistischen Parolen protestieren oder gar Unterkünfte in Brand setzen, als Pack bezeichnet hat, da bekam er kurzfristig Applaus, zumindest von einigen, am Ende aber überwog die Kritik an einer Verrohung der Sprache, wie das viele empfanden. Nun kann man Menschen, die Gabriel meinte, auch ganz einfach als Rassisten bezeichnen. Aber nicht immer ist es ganz einfach im Zusammenhang mit dem großen Thema Flüchtlinge, das uns täglich beschäftigt, die richtigen Worte zu finden – viel leichter findet man die falschen. Margarete Jäger beschäftigt sich damit nicht erst seit Neuestem, sie ist schon seit 28 Jahren die Leiterin des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung. Morgen, Frau Jäger!
Margarete Jäger: Guten Morgen!
Kassel: Pack, Rassisten, Neonazis – diese Deutlichkeit kam ja jetzt erst später. Ganz am Anfang war auch in den Medien oft von Asylgegnern oder Asylkritikern die Rede. Was halten Sie von solchen Begriffen?
Jäger: Ich halte da überhaupt nichts von. Dass jetzt mittlerweile nicht mehr von Asylkritikern oder Asylgegnern die Rede ist, halte ich auch für richtig – man muss die Leute beziehungsweise die Haltungen, die dahinter sich verbergen, schon auch deutlich benennen. Gleichzeitig habe ich aber auch Verständnis dafür, dass Sigmar Gabriel kritisiert worden ist, wenn er diese Personen als Pack bezeichnet, weil damit grenzt er sie sozusagen aus der Gesellschaft aus und versucht das Problem, was dahinter steht, nämlich dass wir es mit einem massiven Rassismusproblem in Deutschland zu tun haben, versucht er sozusagen an die Ränder zu schieben, und das ist nicht der Fall. Es kann nicht darum gehen, diese Leute zu Nicht-Menschen zu entpersonalisieren, sondern es geht darum, dass man sich mit den Inhalten und mit den inhumanen Vorstellungen, die sie transportieren, auseinandersetzt und das auch offensiv macht. Das vermisse ich auch.
"Schutzbedürftige" und "nicht schutzbedürftige" Flüchtlinge?
Kassel: Kann man denn überhaupt in diesem Zusammenhang Worte benutzen, die völlig ohne Weltanschauung und neutral beschreiben oder hört man nicht immer doch die Einstellung mit, die dahinter steckt?
Jäger: Nein, das kann man sicherlich nicht, weil die Sprache natürlich das zum Ausdruck bringt, was man sagen will und das ist natürlich auch, in Anführungsstrichen, "ideologisch" geprägt. Das ist auch gar nicht schlimm, nur muss man aufpassen, dass man eben den Leuten nicht den Subjektstatus, also dass sie Subjekte sind, aberkennt, und diese Gefahr besteht. Die sehe ich aber weniger, muss ich Ihnen ehrlich sagen, bei den Leuten, die jetzt rassistische Gewalt ausüben, sondern mehr bei dem, wie die Flüchtlinge, um die es ja geht, behandelt werden. Das, was im Augenblick an Zuständen in den Asylunterkünften herrscht, da ist alles andere als menschenwürdig.
Kassel: Dann nehmen wir doch mal ein ganz aktuelles Beispiel, was Formulierungen angeht, die möglicherweise nicht böse gemeint sind, aber auch nicht geschickt, wie ich finde: Innenminister de Maizière hat gerade erst von schutzbedürftigen Flüchtlingen gesprochen, das ist ja erstmal schlicht eine Tautologie, weil ein Flüchtling ist ja immer schutzbedürftig –,
Jäger: Genau.
Kassel: – aber ist es noch mehr als das?
Jäger: Ja, es ist noch mehr als das. Ich kann da auch Ihnen sehr schön einen Unterschied einerseits und eine Gemeinsamkeit des Sprechens über Flüchtlinge gegenüber dem, wie wir in den 1990er-Jahren gesprochen haben: Damals wurde von Asylanten gesprochen, die gegenüber den Flüchtlingen herausgestellt wurden. Ich kann mich noch sehr gut an ein "Spiegel"-Cover erinnern, da stand "Flüchtlinge, Ausländer, Asylanten: Ansturm der Armen". Das heißt, da wurden also Flüchtlinge den Asylanten gegenübergestellt. Das passiert heute auch noch, nur dass nicht mehr der Begriff des Asylanten genutzt wird, was ich sehr begrüße, was ich gut finde, sondern es wird in der Debatte fast ausnahmslos von Flüchtlingen gesprochen.
Es wird allerdings dabei – und das hat der Thomas de Maizière in diesem Interview auch gemacht –, es wird dabei weiterhin unterschieden zwischen denen, die einen Grund haben zu kommen, die alle schutzbedürftig sind und diejenigen, die eben nicht schutzbedürftig sind oder die keinen Schutz verdienen, so wird es auch manchmal genannt. Das ist aber das Gefährliche, dass diese Gruppe der Flüchtlinge, die aus bedrohlichen Situationen heraus ihr Land verlassen müssen, dass die aufgeteilt werden, und da kann dann eben auch greifen, dass diejenigen, die diesen Schutz angeblich nicht verdienen, auch schnell wieder zurückgeführt werden. Es wird auch kaum noch von Abschiebung gesprochen, sondern es wird von Rückführung gesprochen. Das heißt, die Politiker sind sich schon darüber im Klaren, dass das eine ganz heikle Geschichte ist und versuchen, das ein wenig in neue Worte zu gießen.
Medien und Politik geben den Deutungsrahmen vor
Kassel: Wie entscheidend ist es denn überhaupt, welche Formulierung Politiker wählen, Journalisten und andere, die öffentlich sprechen? Wie entscheidend ist das am Ende dafür, wie auch die Sprache der anderen Menschen ist, die das nur hören und dann weitergeben?
Jäger: Ich glaube, dass das ganz entscheidend ist, weil die Medien ... Sagen wir mal so, das, was in den Medien transportiert wird, auch über Politik, die bringen ja sozusagen den Deutungsrahmen hervor. Die geben das vor, in welchem Rahmen über Probleme und jetzt in diesem Fall über das Problem von Flucht, nachgedacht und argumentiert wird. Und diese Deutungsmuster, die sind nicht vom Himmel gefallen, sondern die sind eben schon lange im Diskurs vorhanden und werden immer wieder in anderen Formulierungen aufgenommen. Es gibt allerdings – da will ich einen Unterschied machen –, es gibt gegenüber der verheerenden Situation in den 1990er-Jahren in der Bevölkerung eine große Hilfsbereitschaft. Es gibt also auch ein anderes Deutschland, das bereit ist, aufzunehmen und zu integrieren, und das sollte man auch viel stärker in den Mittelpunkt stellen.
Kassel: Wie kann man denn den Menschen, die nicht werten wollen, aber die vielleicht in einem konkreten Punkt – da geht es mir ähnlich – Probleme haben, helfen? Nehmen wir Begriffe wie Flüchtlingsflut, Flüchtlingsstrom, Flüchtlingswelle. Wenn ich Sie bis jetzt richtig verstanden habe, finden Sie diese Begriffe, vorsichtig ausgedrückt, nicht ideal.
Jäger: Nein.
Kassel: Aber fällt Ihnen ein anderes Wort ein, das kurz und bündig beschreibt, dass einfach im Moment sehr viel mehr Menschen zu uns kommen wollen als bisher?
Jäger: Ja, das kann man ja dann so sagen, genau wie Sie es gerade sagen!
Flüchtlinge als Individuen darstellen
Kassel: Das ist ein ganzer Satz, ich will ja ein Wort! Wir brauchen immer was Kurzes, wir Journalisten.
Jäger: Ja, aber das lässt sich nicht auf kurze Formeln bringen. Die Leute fliehen, die Leute reisen aus, die Leute reisen ein, es gibt möglicherweise sogar einen Andrang. Ich will auch gar nicht sagen, dass man ab und zu auch mal von einer Welle sprechen kann. Es kommt ja darauf an, dass diese Bilder, die so Bedrohungsgefühle aufrufen, dass die nicht massiv eingesetzt werden und nicht ständig eingesetzt werden. Und wenn ich das noch hinzufügen darf: Das passiert medial, also vor allen Dingen in den TV-Medien, im Augenblick auch dadurch, dass die Flüchtlinge selber auch als Individuen dargestellt werden. Das ist auch ein Unterschied gegenüber früher, da wurden die Flüchtlinge als amorphe Masse dargestellt, gar nicht erkennbar die Einzelnen, und das hat sich auch geändert. Da achten die Medien schon drauf, und die Politiker können es ja dann nicht so, aber die Medien schon, dass das einzelne Schicksale, das einzelne Porträt auch in den Vordergrund gestellt wird.
Kassel: Margarete Jäger, die Leiterin des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung über die richtigen und die falschen Begriffe im Zusammenhang – Achtung, Frau Jäger, ich habe was gelernt –, im Zusammenhang mit den vielen Menschen, die zurzeit versuchen nach Europa und nach Deutschland zu kommen.
Jäger: Gut!
Kassel: Ja! Also mindestens einen haben Sie überzeugt an dieser Stelle, aber ich bin mir ziemlich sicher, nicht nur einen! Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch! Tschüss nach Duisburg!
Jäger: Danke, Tschüß!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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