Flüchtlinge

Warum Helfen nicht glücklicher macht

Eine Frau und ein Kind sitzen auf einem Berliner Bürgersteig und betteln; Aufnahme vom Juli 2015
Eine Frau und ein Kind sitzen auf einem Berliner Bürgersteig und betteln. © Foto: Paul Zinken / dpa
Von Dilek Güngör · 06.10.2015
Sie konnte die Bilder von Krieg und Flucht nicht mehr ertragen. "Ich habe gehofft, ich würde mich besser fühlen, wenn ich Deutschkurse für Flüchtlinge gäbe", schreibt unsere Autorin Dilek Güngör. Doch das Helfen hilft ihr nicht. Denn die Not scheint unendlich zu sein.
Seit knapp drei Monaten unterrichte ich Deutsch in einem Verein, er heißt "Flüchtlingspaten Syrien". Unsere Schülerinnen und Schüler kommen aus Aleppo, aus Qamischli, aus Damaskus und anderen syrischen Städten, aus denen jeder flieht, dem es nur möglich ist.
Einige der Schüler sprechen Englisch, manche haben sich mit Youtube-Videos und Google Translate selbst schon ein wenig Deutsch beigebracht, andere müssen erst noch die lateinischen Buchstaben lernen. Von uns ehrenamtlichen Lehrern – man muss sagen, Lehrerinnen, wir sind fast ausschließlich Frauen – spricht niemand Kurdisch oder Arabisch. Wir verständigen uns mit Bildern: Wir malen Trauben und Äpfel an die Tafel, wir schneiden Hosen aus Modemagazinen aus, schauen uns Möbelkataloge an oder wir tun so, als würden wir Teller abwaschen und kreisen mit der Hand in der Luft. Es funktioniert.
Inzwischen können auch schon die Anfänger sagen, woher sie kommen, wie sie heißen, wie es ihnen heute geht, was sie gerne essen. Sie können zählen und die Uhrzeit sagen.
Wir geben Deutschstunden, weil wir – wen wundert’s – helfen wollen. Weil wir die Bilder nicht mehr sehen können, von Menschen, die in Bahnhofshallen auf dem Boden schlafen, die auf Zugschienen sitzen und darauf warten, dass sie weiterkommen, von Menschen in Schwimmwesten, dicht an dicht in einem Schlauchboot. Und schon gar nicht die von Verletzten und Ertrunkenen.
In Damaskus kann auch keiner die Bilder wegschalten
Ich kann sie nicht mehr sehen und doch sehe ich sie mir an, jeden Tag, denn in Damaskus, denke ich, kann auch keiner die Bilder wegschalten und sich einen Kaffee kochen gehen, wenn er die Schüsse nicht mehr aushält. Niemandem ist geholfen, wenn ich mir noch mehr Bilder von Menschen auf der Flucht ansehe. Noch mehr lese. Noch mehr höre.
Also schalte ich aus, aber in meinem Kopf geht es auch ohne Bilder weiter: Was wird aus denen, die in syrischen Krankenhäusern liegen, ohne Medikamente und ohne Strom, und denen, die vielleicht nie fliehen werden? Was wird aus denen in den Lagern in der Türkei, was, aus den Menschen aus Afghanistan, die auch auf der Flucht sind? Oder aus denen, die wissen, dass die Behörden alles daran setzen, dass sie so bald wie möglich wieder zurückfahren, in ihre sogenannten sicheren Herkunftsstaaten? Und was ist mit dem Mann, der tagein tagaus vor dem Supermarkt in meinem Viertel sitzt? Noch nie habe ich ihm eine Straßenzeitung abgekauft. Ist er nicht in Not?
Die Not ist überall, und das ist sie nicht erst seit diesem Sommer, aber neuerdings kennt meine Empfänglichkeit für das Leid der Welt keine Grenzen.
Helfen hilft, dachte ich. Nicht nur denen, denen geholfen wird. Sondern auch denen, die helfen. Ich habe gehofft, ich würde mich besser fühlen, wenn ich Deutschkurse gäbe. Die Bilder und Nachrichten würden mich nicht mehr ängstigen, nicht mehr lähmen, wenn ich mit anpackte. Aber ich habe mich getäuscht. Ich fahre zwar zum Deutschkurs und freue mich, dass eine der Schülerinnen, die kein Wort Deutsch konnte, fünfstellige Zahlen lesen kann. Oder ihr Dreijähriger an meiner Hand zieht und "Komm mit! Spielplatz!" sagt. Die Freude hält aber nicht an.
Auf dem Heimweg steigen Straßenmusiker in die S-Bahn. Ein Junge geht mit einem Pappbecher durch den Waggon. Ich lasse ein paar Münzen in den Becher fallen, und denke, noch einer, den du vorher nicht wahrgenommen hast. Wo wird er heute Nacht schlafen?
Dilek Güngör, 1972 in Schwäbisch Gmünd geboren, absolvierte ein Übersetzerstudium für Englisch und Spanisch und begann ein Aufbaustudium am Journalistischen Seminar in Mainz. Von 1998 bis 2003 arbeitete sie als Journalistin bei der "Berliner Zeitung". Im Sommer 2004 schloss sie an der University of Warwick in England ein Masterstudium in Race and Ethnic Studies ab. 2007/08 war sie Stipendiatin der Drehbuchwerkstatt an der Hochschule für Fernsehen und Film München. Ihre Kolumne "Unter uns" erschien zunächst in der "Berliner Zeitung", später in der "Stuttgarter Zeitung". Bisher veröffentlichte sie zwei Kolumnenbände und einen Roman ("Das Geheimnis meiner türkischen Großmutter". Piper, 2007.) Bis zum Sommer 2014 schrieb sie für die "Berliner Zeitung" die Kolumne "Weltstadt". Das Singspiel "Türkisch für Liebhaber", zu dem sie das Libretto geschrieben hat, wurde im Dezember 2008/Januar 2009 in der Neuköllner Oper in Berlin aufgeführt. Dilek Güngör lebt in Berlin.
Dilek Güngör
Dilek Güngör© Foto: privat
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