Flüchtlinge in Nordgriechenland

"Eine Schande, die Familien so zu trennen"

Familienfoto
Immer dabei: die Bilder der vermissten Familienangehörigen. © Deutschlandradio / Salinia Stroux
Von Chrissi Wilkens · 09.01.2017
Die Kriege in Syrien oder Afghanistan haben Familien auseinandergerissen. In griechischen Massenlagern siechen Menschen vor sich hin, die Angehörige an anderen Orten in Europa haben. Dabei hätten viele das Recht auf Familienzusammenführung.
Später Nachmittag in einem Containerhaus im Flüchtlingslager im Ort Langadikia. Die kahlen Wände sind grau-weiss, das Licht grell. Eine Frau aus Syrien sitzt still auf dem Boden. Sie hält ihr kleines Kind im Arm, ihr elfjähriger Sohn spielt draußen. Ab und zu rüttelt sie wie unter Hypnose sanft an einem Spielzeug, um ihr Baby zum Lächeln zu bringen. Seit ein paar Tagen erst haben sie ein Dach über dem Kopf, nachdem sie zehn Monate in Zelten ausharren mussten: Vier Monate im Grenzort Idomeni und sechs im Lager.
"Mein Herz fühlt sich an wie tot. Ich kann nichts mehr empfinden, weil wir in Idomeni so viel Leid gesehen haben. Die Grenze wurde geschlossen und wir alle dachten, sie wird in zwei Monaten wieder öffnen. Jeden Tag haben wir darauf gewartet."
Die zarte Frau aus Aleppo ist seit anderthalb Jahren allein auf der Flucht mit ihren zwei Kindern. Ihr Mann befindet sich in Deutschland und hat bereits Asylstatus bekommen. Vor ein paar Tagen ist er nach Nordgriechenland gereist, um endlich seine Familie zu sehen.
Die Frau zeigt sehnsüchtig auf ein Foto auf dem Display ihres Smartphones, auf dem Vater Mutter und Baby zu sehen sind. Zum ersten Mal, denn ihre Wege trennten sich vor der Geburt. Jetzt befürchtet sie, dass es noch Monate dauern könnte, bis die Familie wieder zusammen leben wird. Erst im Juli gelang es ihr, sich für die Familienzusammenführung vorab zu registrieren. Der offizielle Termin der Registrierung soll irgendwann in diesen Tagen sein. "Wir wissen noch gar nicht, wann unser Interview stattfinden wird", sagt die junge Frau erschöpft. Nachts kann sie kaum schlafen.
"Wir wollen Griechenland endlich verlassen. Mein Mann hat einen deutschen Pass, er hat alle nötigen Papiere. Warum müssen wir hier weitere zehn Monate warten? Es ist eine Schande, die Familien so zu trennen."

Ein Mann versucht verzweifelt, seinen Sohn anzurufen

Auf einer verlassenen Landstraße vor einem der berüchtigtsten Zeltlager im Norden Griechenlands, etwa eine Stunde Fahrt von Thessaloniki entfernt, steht ein Mann aus Syrien am Straßenrand. Auf seinem Kopf trägt er eine Stirnleuchte, um sich den Weg durch Zelte und Bäume zu bahnen. Der Mann sucht verzweifelt nach einer Möglichkeit, seinen 12-jährigen Sohn in Deutschland anzurufen. Das Kind ist dort allein mit seiner kranken Großmutter. Die Frau des Mannes und die anderen drei Kinder sind noch in Syrien. Nur mit Mühe bewahrt er beim Sprechen die Fassung.
"Im Lager hat mir jemand das Handy gestohlen, mit dem ich mit meiner Familie Kontakt halte. Seit einem Monat habe ich meinen Sohn nicht gesprochen. Aber ich habe eine Nummer im Kopf, über die ich meine Mutter und somit auch ihn erreichen kann."
Seit mehreren Tagen hat der magere Mann nicht geduscht, weil es kein warmes Wasser und keine Heizung im Lager gibt. Sein Antrag auf Familienzusammenführung wird erst im Januar registriert. Einmal hat er bereits versucht mit der Hilfe von Schleppern über die Balkanroute Deutschland zu erreichen. Dabei Felder und Berge überquert bis er schließlich an der serbisch-ungarischen Grenze festgenommen und zurück nach Griechenland abgeschoben wurde. Aufgeben will er aber nicht.
"Ich muss nach Deutschland, weil meine Mutter und mein Sohn dort sind. Meine Mutter ist eine alte Frau und mein Sohn erst zwölf Jahre alt. Er braucht mich."

Nur ein paar Kilometer weiter, im Lager Diavata, schlüpft gerade eine Gruppe von afghanischen Flüchtlingen durch ein Loch im Zaun. Unter ihnen: ein 12-jähriges Mädchen. Ähnlich wie die junge Syrerin im Containerdorf Langadikia wartet das Mädchen zusammen mit seiner Mutter monatelang auf die Registrierung zur Familienzusammenführung. Und das unter lebensgefährlichen Bedingungen. Die Stimmung im Lager ist extrem angespannt. Einmal, erzählt sie, wurde unser Zelt angezündet. Ein anderes Mal wurde das Mädchen verprügelt und musste wochenlang ins Krankenhaus. Erst seit zwei Tagen leben sie und ihre Mutter in einem Container.
"Vorher im Zelt waren wir ungeschützt, hatten immer große Angst und meine Mutter konnte vor Sorge nachts nicht schlafen."
Das Zeltlager Diavata
Das Zeltlager Diavata © Deutschlandradio / Fatima Hassan

Repressive Stimmung gegen afghanische Flüchtlinge

Neben dem Mädchen steht ein Mann aus Afghanistan und hört ihr zu. Die Stadt, aus der er kommt, befindet sich in den Händen der Taliban. Auch seine Familie ist auseinandergerissen. Er hat einen minderjährigen Sohn in Schweden. Und das, was er hier von der repressiven Stimmung gegen afghanische Flüchtlinge in Europa mitbekommt, macht ihm Angst.
"Ich kenne persönlich Menschen, die nach Afghanistan abgeschoben wurden, und ihr Leben ist in Gefahr. Ich kenne ihre Geschichten. Es gibt viele im Lager, die ihre Ehemänner, ihre Söhne auf diesem Weg verloren haben. Wie sollen sie nach Afghanistan zurückgehen? Wo sollen sie denn hin? Sie haben doch nichts mehr. Wenn Europa wirklich ein Herz für die Flüchtlinge hat, darf es sie nicht in dieser Misere zurücklassen."