Flüchtlinge

Fehlende Behandlung bei Traumatisierungen

Ein Flüchtlingskind sitzt in Berlin auf dem Gelände des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) auf einem Bordstein.
Ein Flüchtlingskind sitzt in Berlin auf dem Gelände des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) auf einem Bordstein. © picture alliance / dpa / Paul Zinken
Von Lydia Heller · 13.08.2015
Ärzte in Deutschland verzeichnen eine wachsende Zahl schwer traumatisierter Flüchtlinge, doch an Konzepten, diese Patienten angemessen zu versorgen, mangelt es. Behandlungsmethoden - die häufig auf Gesprächen basieren - können bei Migranten nicht eins zu eins übernommen werden.
"Ich hab mein Land, Kamerun, 2004 verlassen und bin 2014 in Deutschland angekommen."
Tresor, Gründer der Flüchtlingsinitiative Voix de Migrants, war zehn Jahre auf der Flucht.
"Ich hab schreckliche Dinge gesehen."
"Da geht's um Morde, körperliche Gewalt, Massenvergewaltigungen oder dass Erschießungen vor Augen der Betroffenen stattfinden – furchtbarste Dinge."
Meryan Schouler-Ocak betreut Flüchtlinge in der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im Sankt Hedwig-Krankenhaus in Berlin:
"Dann kann es passieren, dass sie im Laufe der Migration Erpressungen erleben, dass sie hungern müssen, dass sie Durst haben etc."
300.000 bis 500.000 Flüchtlinge werden Schätzungen zufolge 2015 in Deutschland ankommen. Etwa 40 Prozent von ihnen leiden erfahrungsgemäß an einer posttraumatischen Belastungsstörung. In letzter Zeit allerdings, so Mechthild Wenk-Ansohn vom Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer, verzeichnen Ärzte eine Zunahme der Fälle:
"Es ist so, dass die sehr, sehr belastet im Moment einreisen. Unsere Patienten, die wir aufnehmen, haben 90 Prozent eine posttraumatische Belastungsstörung, gleichzeitig schwere Depressionen."
Ohnmachtsgefühle und Antriebslosigkeit
Den Betroffenen fehlt das Gefühl der Sicherheit und Kontrolle, bestimmte Geräusche oder Ereignisse können sie blitzartig in die belastende Situation zurückversetzen - quietschende Autoreifen zum Beispiel oder laute Stimmen. Die Folgen: Ohnmachtsgefühle und Antriebslosigkeit, Erstarrungen, Ängste, Aggressionen.
"Konzentrationsstörungen können vorhanden sein, Erinnerungslücken, dass sie nicht immer im Hier und Jetzt sind. Sie können nicht so schnell die Sprache lernen, können nicht so schnell Kontakte knüpfen, ihre Aufnahmefähigkeit - all das verändert sich in diesen Zuständen. Wenn sie traumatisiert sind, haben sie nicht mehr Zugang zu all ihren Kompetenzen, die sie zur Integration brauchen."
Aus Unkenntnis der verschiedenen psychischen Folgen von Traumatisierungen wird das Verhalten von Flüchtlingen jedoch oft missverstanden, kritisiert Meryam Schouler-Ocak. Den Betroffenen würden mangelnde Glaubwürdigkeit oder Integrationsverweigerung unterstellt - mit Konsequenzen bis hin zur Ablehnung des Asylantrags und Abschiebung. Eine präzise Diagnose von Traumafolgestörungen ist daher unabdingbar. Allerdings:
"Testinstrumente sind in der Regel nicht so ganz einfach einzusetzen, weil die kulturellen Bedeutungen von bestimmten Konzepten sehr unterschiedlich sein können. Es kann Vorstellungen geben, dass man vom Dschinn besessen ist und deshalb Beschwerden hat, dass da Nachbarn etwas gemacht haben. Da würden wir denken: 'Hm? Paranoide Vorstellungen?' Aber wir verstehen unter Gesundheit etwas anderes als andere Menschen."
Krankenkassen weigern sich oft, die Kosten zu übernehmen
Ähnlich ist es mit der Beschreibung von Emotionen wie Trauer, Wut und Erregung oder mit Scham, Ehre oder Nacktheit. Mit muslimischen Frauen aus traditionell lebenden Familien etwa über Vergewaltigungen zu reden ist nicht einfach möglich, schon gar nicht im Beisein der Ehemänner. Psychotherapeutische Behandlungsmethoden - die häufig auf Gesprächen basieren - können daher bei Migranten nicht eins zu eins übernommen werden. Qualifizierte Dolmetscher, die in solchen Fällen als Kulturvermittler agieren können, sind rar; wie man sie effizient in interkulturellen Psychotherapien einsetzt, ist kaum erforscht - und Krankenkassen weigern sich meist, die Kosten dafür zu übernehmen.
Zudem: Der Fokus auf die Arbeit am Trauma - durch Gesprächs-, Expositions- oder EMDR-Therapien, bei denen Erinnerungen und Emotionen neu verknüpft werden - ist auch bei schwer traumatisierten Migranten oft gar nicht hilfreich. Mechthild Wenk-Ansohn:
"Bei diesen Menschen, die frisch eingereist sind, ist das Trauma nicht abgeschlossen. Dadurch, dass ihr Aufenthalt unsicher ist, viele sollen nach Italien oder Ungarn zurück, wo sie zum Teil Gewalt erlebt haben, durch Grenzbeamte. Die haben gar keinen Bedarf, ihr Trauma zu bearbeiten, sondern Bedarf, mit der Situation klarzukommen. Das ist der Fokus."
Verschiedene Studien haben in den letzten Jahren darauf hingewiesen, dass Migranten stärker unter posttraumatischen Belastungen, Ängsten und Depressionen leiden, wenn sie im Exil sozial ausgegrenzt werden. Erhalten sie einen sicheren Aufenthaltsstatus, gelingt die Aufarbeitung der Traumata besser. Bevor sie spezifische Therapien in Angriff nehmen, versuchen Trauma-Therapeuten bei Geflüchteten daher stabilisierend zu wirken: Wissen über die Symptome von Traumafolgestörungen zu vermitteln - und Methoden, um diese einordnen – und bewältigen zu können. Und: zusammen mit Anwälten, Behörden und Anlaufstellen für Geflüchtete schlicht: ein verlässliches soziales Netz zu knüpfen.
"Als ich in Europa angekommen bin, hab ich gehofft, dass ich in einem sicheren Hafen bin. Aber ich hab gemerkt: wir kommen ins Gefängnis, wir sind isoliert, es ist Chaos."
"Wenn wir in Deutschland Flüchtlinge aufnehmen und wir behandeln sie nicht richtig, dann ist das wirklich schwierig auch für die Zukunft. Weil es ja auch eine transgenerationale Weitergabe von Traumatisierungen gibt, das heißt, die Kinder, Enkelkinder, die in dem System nicht ankommen werden. Wir werden schwerkranke Menschen immer wieder probieren zu integrieren, aber wir werden es nicht hinkriegen."
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