Flucht in eine schönere Zeit

03.03.2012
Er hatte ein langes und erfülltes Leben, doch dann setzt eine Nervenkrankheit sein gesamte Motorik außer Kraft. Mithilfe von Sprechwerkzeugen sinnt sich der Historiker Tony Judt zurück in die Kindheit - und erklärt dabei die Fehler in der Welt.
Erinnerung und Gedächtnis sind die Rettung des schwer erkrankten Tony Judt. Nacht für Nacht flüchtet sich der 1948 in London geborene jüdische Historiker aus seinem Körpergefängnis in die Vergangenheit. Ein Schweizer Chalet, in dem er als Kind unbeschwerte Skiferien verbrachte, hilft ihm bei der Gedächtnisübung. Wie von den Mnemotechnikern der Antike empfohlen, wandert er im Geist von Raum zu Raum und verknüpft mit den Treppen, Zimmern und Möbelstücken immer neue Geschichten, die er am folgenden Morgen diktieren kann.

Judt, der im August 2010 verstarb, litt unter "Amyotropher Lateralsklerose", die bei vollem Bewusstsein sein Nervensystem und damit die gesamte Motorik außer Gefecht setzte. Als "Das Chalet der Erinnerungen" entsteht, ist er bereits vollständig gelähmt, kann aber Kopf und Kiefer noch bewegen und seine Sprechwerkzeuge benutzen. Beeindruckend ist die stoische Haltung, mit der er die Einschränkungen in Kauf nimmt. Seine Erkrankung sei eine Herausforderung, sagt er eingangs.

In kurzen, elegant formulierten Texten behandelt Judt die Stationen seiner Kindheit, Jugend und des Erwachsenenalters. Sein Blick fällt auf Alltägliches wie die Autos seines Vaters, den heimeligen Londoner Wohnbezirk Putney, der bürgerlich, ländlich und nüchtern zugleich war, die grünen Busse mit den zischenden Falttüren, in denen Judt als Heranwachsender die Umgebung erkundete. Eindringlich vergegenwärtigt er das graue Nachkriegsengland: In den frühen 50ern habe eine allgemeine "austerity", Sparsamkeit, geherrscht, erklärt er.

Zusammengeschweißt durch den Krieg, übte sich das gesamte Land in Bescheidenheit, die sich äußerlich in einfacher Kleidung und geringem Konsum ausdrückte, sich aber auch in moralischen Prinzipien zeigte. Ein "Ethos der Verantwortung" bewog Labour-Politiker wie Clement Attlee zu umfassenden bürgerlichen Reformen. Sein jugendlicher Marxismus wurde Judt im Kibbuz in Israel ausgetrieben. Anfang der 80er-Jahre entkam Judt einer Midlife-Crisis, indem er Tschechisch lernte und die belebende Welt der osteuropäischen Opposition entdeckte.

Ohne die Errungenschaften des 20. Jahrhunderts infrage zu stellen, konstatiert der Historiker in vielen Bereichen einen Niedergang: Statt Gemeinsinn regiere heute die Konsumgemeinschaft, öffentliche Bildungseinrichtungen, die seiner Generation den gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichten, hätten aus falsch verstandenen demokratischen Überzeugungen ihre Ansprüche gesenkt, die Intellektuellen seien viel zu anpassungsbereit. Er beanstandet modische Schlampigkeit in mündlichem und schriftlichem Ausdruck: Gedankliche Trennschärfe verlange eine präzise Form. Sprache und Wortschatz seien Teil des öffentlichen Raums und dürften nicht verkommen.

"Das Chalet der Erinnerungen" ist eine besondere Variante der Gelehrten-Biographie, bestechend in ihrer Prägnanz, anrührend wegen des Schicksals des Verfassers. Tony Judt verkörpert den Geist der Kritik: Ohne defätistisch zu sein oder einer nostalgischen Verklärung der Vergangenheit aufzusitzen, benennt er Schwächen in unserer Gesellschaft. Eine Rückbesinnung auf intellektuelle Tugenden dieser Art ist überfällig.

Besprochen von Maike Albath

Tony Judt: Das Chalet der Erinnerungen
Aus dem Englischen übersetzt von Matthias Fienbork
Carl Hanser Verlag, München 2012
224 Seiten, 18, 90 Euro
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