Flucht in den Islam

Rezensiert von Abdul-Ahmad Rashid · 18.05.2006
Samir Kassir war einer der prominentesten Journalisten des Libanons. Im Juni 2005 wurde er durch eine Autoexplosion getötet. Die Hintergründe sind bislang ungeklärt. Sein letztes Buch "Das arabische Unglück" ist jetzt auf Deutsch erschienen. Darin macht er Analphabetentum und die gewaltigen sozialen Unterschiede für die Flucht in den politischen Islam verantwortlich.
"Araber zu sein macht heutzutage keine Freude. Manche fühlen sich verfolgt, andere hassen sich selbst. Das existenzielle Unbehagen ist die in der arabischen Welt am weitesten verbreitete Erscheinung. Selbst die, die sich lange in Sicherheit gewiegt hatten, dominante Saudis und wohlhabende Kuwaiter, können sich diesem Gefühl seit dem verhängnisvollen 11. September nicht entziehen."

Das Gefühl der Ohnmacht - so schreibt der libanesische Journalist und Historiker Samir Kassir gleich auf den ersten Seiten seines Buches - sei der Inbegriff des arabischen Unglücks. Dabei manifestiert sich dieser lähmende Zustand vor allem darin, nichts für die eigene Zukunft tun zu können. So schreibt er:

"…die arabische Region (ist) jene Region, die einem Mann gegenwärtig die geringsten Entwicklungschancen bietet. Und einer Frau noch weniger."

Analphabetentum, Armut, das krasse Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich sind die Hauptübel, die die arabische Welt in ihrem Würgegriff halten. Und so jede Veränderung, jede notwendige Modernisierung unmöglich machen. Schonungslos benennt Samir Kassir die Schwachstellen der arabischen Region. Einer Region, die wie er schreibt, mittlerweile selbst von Asien und Lateinamerika politisch als auch wirtschaftlich überholt worden sind. In seiner knapp hundertseitigen, gut lesbaren Bestandsaufnahme der politischen sowie sozialen Situation aller arabischen Staaten attestiert er diesen Ländern vor allem das Unvermögen, demokratische Strukturen entstehen zu lassen:

"Die arabische Welt ist der einzige 'Kontinent', auf dem das Demokratiedefizit alle Bereiche umfasst, und sie ist daher auch der einzige, auf dem sich das Fehlen der Demokratie mit einer ausländischen Vorherrschaft verbindet. Diese wird meistens indirekt und manchmal nur auf wirtschaftlichem Gebiet ausgeübt, doch in den extremsten Fällen – denen Palästinas und nun des Iraks – kommt sie auch einem neuen Kolonialismus gleich. Darum geht das allgemeine Gefühl der Ohnmacht – das von dieser Herrschaft bewirkt wird und das noch unüberwindlicher ist, weil das arabische Unterbewusstsein sie mit der Sehnsucht nach einem vergessenen und stets herbei geträumten Ruhm vergleicht – mit der Ohnmacht der Staatsbürger einher."

Es sind zwei Faktoren, die die Krise in der arabischen Welt untermauern, so der Autor. Erstens: Der als Bedrohung empfundene Einfluss des Westens. Und zweitens: Die autoritären Strukturen in den arabischen Ländern, die die Entstehung einer demokratischen Zivilgesellschaft verhindern. Wobei sich beides auf unheilsame Weise miteinander verwebt: Schließlich dient die Berufung auf eben jene westliche Bedrohung vielen arabischen Machthabern als Vorwand, einen permanenten politischen Ausnahmezustand auszurufen. Eine ausweglose Situation entsteht, aus der - wie Samir Kassir eindrucksvoll belegt - viele Araber über eine extreme Hinwendung zum Islam zu fliehen versuchen. Denn für Samir Kassir bedeutet ...

"das Vordringen des Islam eine Re-Islamisierung der Gesellschaft und zwar … als Reaktion auf Staatsordnungen, die als unzulänglich und ungerecht … angesehen werden."

Die Flucht in den Islam wird damit zum hochstilisierten Ausdruck der anfangs beschriebenen Ohnmacht. Und wird zugleich auch wieder als Machtinstrument missbraucht, mit dem die Masse der Gläubigen gelenkt wird. Gerade in diesem Punkt lässt Samir Kassir es an kritischen Worten nicht fehlen: Schonungslos setzt er den politischen Islam in seiner Ablehnung aller Fortschrittsideologien deshalb auch mit dem Faschismus gleich und betrachtet die Übermächtigkeit des religiösen Denkens als einen fatalen Rückschritt in der arabischen Geschichte. Einzig die Rückbesinnung auf die "Nahda", eine einst sehr populäre Strömung innerhalb der arabischen Geistesgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts, könne diesen Rückschritt stoppen. Mit der "Nahda", auf Deutsch "Wiedergeburt" ...

"findet die arabische Kultur eine neue Grundlage, indem sie von der Entdeckung des Anderen - des europäischen Anderen - ausgeht."

Denn anders als heute wurde unter der "Nahda" das Zusammentreffen von Tradition und Moderne durchaus nicht als Widerspruch begriffen, sondern als Zugewinn für die eigene gesellschaftliche Entwicklung. Im Zuge der "Nahda" wurden Universitäten gegründet, erste arabischsprachige Zeitungen erschienen und in der Literatur, der Malerei und dem Theater wurden westliche Kunstformen eingeführt. Die europäische Idee eines Nationalstaates beeinflusste die Intellektuellen. Sie entwickelten die Idee eines einheitlichen arabischen Staates. Eine neue, nie zuvor da gewesene arabische Identität entstand. Allerdings dauerte diese "arabische Renaissance" nur kurz: Durch den Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und die Wirren des 1. Weltkrieges verlor sich die Idee der "Nahda". Mehr noch: Die Islamisten von heute versuchten, so Samir Kassir, sie in Verruf zu bringen. Doch gerade in der Wiederbesinnung auf diese geistige Epoche sieht Kassir die große Chance einer konstruktiven Begegnung mit der Gegenwart. Zwänge sie doch die Araber, selbst neue Perspektiven zu entwickeln, anstatt in der beschriebenen Ohnmacht zu verharren.

Dieser Ansatz von Samir Kassir ist neu und höchst interessant. In der arabischen Welt könnte diese Rückbesinnung auf die eigenen, längst vergessenen Traditionen zu einem neuen Selbstbewusstsein führen und, als Alternative zu dem radikalen Islamismus, eine positive Entwicklung in der Region in Gang setzen. Vor dem Hintergrund seines tragischen Todes wirkt das essayistisch verfasste Buch "Das arabische Unglück" wie ein unabsichtlich gehaltenes Vermächtnis von Samir Kassir an seine arabischen Landsleute.

Samir Kassir: Das arabische Unglück
Übersetzt von Ulrich Kunzmann
Schiler Verlag; April 2006
92 Seiten