Fluch oder Segen?

Von Jens Rosbach · 02.04.2010
Die Juden sind ein auserwähltes Volk. So steht es in den Überlieferungen der mosaischen Religion. Doch wer das heute hört, schüttelt schnell den Kopf: Das könne man doch nicht ernst nehmen – so die typische Reaktion. Anders sehen das die Juden selbst: Sie nehmen die Auserwähltheit durchaus ernst – allerdings in einem ganz anderen Sinne als vermutet. Denn im Judentum wird die göttliche Wahl nicht als Privileg, sondern als Verpflichtung verstanden.
"In unserer Liturgie, bei der Torah-Lesung, gibt es einen Satz: (hebr.….) Also: Gelobt seiest Du Gott, Du hast uns gewählt, indem Du uns Torah gegeben hast. Heißt: Du hast uns gewählt, indem Du uns einen Text, ein Gesetzbuch gegeben hast. Und das ist es, was uns auserwählt macht"

"Vielleicht würde ich das für mich privat dahingehend verstehen, natürlich dass man gewisse Verbote einhält, jüdische Gebote, aber vornehmlich im Sinne vielleicht einer Vorbildwirkung."

"Das ist mehr, was in den Leuten drin ist. Und nicht, dass sie das nach außen zeigen wollen und sagen: Ja, wir sind ausgewählt, wir können herrschen – das ist natürlich gar nicht so."

"Natürlich, es wird immer als Vorwurf gegen Juden benutzt, von Leuten, die neidisch sind: Wieso sind die Juden auserwählt, wir dachten, dass w i r auserwählt sind. Und das hat einen negativen Geschmack gegeben"

Für viele Juden ist ganz klar: Auserwähltheit heißt nicht Bevorzugung, sondern Pflicht zur Gesetzestreue. Und dies kann eine große Last sein - kennt das Judentum doch insgesamt 613 Gebote. Einige Juden verbinden mit Auserwähltheit allerdings auch einen Stolz. Der Israeli Yair Kannai begründet dieses Gefühl etwa mit den Errungenschaften der jüdischen Kultur, etwa dem Sabbat-Ruhetag.

"Die großen sozialen Ideen, dass man kann nicht sieben Tage 24 Stunden arbeiten. Ja, Sozialhilfe – alles diese Ideen sind jüdische Ideen, das vielleicht durch das Christentum die ganze Welt hat adoptiert. Ja, aber das sind unsere Ideen – macht mich sehr stolz."

Kannai, der in Berlin lebt, leitet aus den kulturellen Errungenschaften allerdings ein Aufgabe - also ebenfalls eine Verpflichtung ab.

"Ich war in der Ausländerbehörde vor zwei Monaten und habe gesehen ein großes Plakat von Amnesty. Und dort steht: Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt. Ich bin sicher, die meisten Leute, die bei Amnesty arbeiten, wissen nicht, das ist eine jüdische Sprache. Aber: Das macht mich stolz. Das ist die Verantwortung, das wir haben als Juden – die Welt zu einem besseren Platz zu machen. Und hat gar nichts zu tun mit einem Gefühl, dass wir sind besser als andere Nationen."

Was hat es mit der Idee der Auserwähltheit auf sich? Was steht in den heiligen Schriften dazu? Experten weisen auf Erstaunliches hin:

"Eigentlich das Wort Auserwähltheit kommt in der Bibel nicht vor."

So Francesca Albertini, Professorin für jüdische Religionsgeschichte. Nach Auskunft der Potsdamer Forscherin gibt es in der Bibel weder das Substantiv "Auserwähltheit" noch das Partizip "auserwählt". Vielmehr sprächen die hebräischen Texte davon, das Volk Israel sei "erwählt" oder "gewählt". Aber letztlich sei das Interpretationssache des jeweiligen Übersetzers.

"Es wird gesagt: Ich habe Euch ausgesucht. Das ist die Übersetzung, die ich benutzen würde. Also natürlich hat das mit einer Aussonderung zu tun. Aber es bedeutete nicht, dass dieses Volk vom Rest der Welt getrennt wird. Ganz im Gegenteil dazu."

Worum geht es bei Gottes Volks-Wahl? Um einen Vertrag der Juden mit ihm. Denn Gott hat das Volk Israel erwählt, einen "berit", einen Bund, mit ihm abzuschließen. Die Bibel kennt genau genommen zwei Verträge. Der erste wird in Genesis, im ersten Buch Mose, beschrieben. Hier verheißt Gott Abraham, dem Stammvater Israels, die Erkenntnis der Welt. Zudem verspricht er ihm das Land Kanaan. Wobei der "erwählte" Abraham nicht nur als Vater des jüdischen Volkes beschrieben wird. Wissenschaftlerin Albertini zitiert aus Genesis, Kapitel 17.

"'Ich sehe: Mein Bund ist mit Dir. Dass du werdest zum Vater einer Menge von Völkern. Und ich mache Dich fruchtbar über die Massen und lasse Dich werden zu Völkern und Könige sollen von Dir herkommen.' Also schon dieses Versprechen ist gerichtet nicht nur an das jüdische Volk, sondern an alle Völker der Erde."

Nach Auskunft der Expertin war das Ausgewählt- oder Erwähltsein damals - zwischen dem dritten und dem ersten Jahrtausend vor Christus - eine weit verbreitete Idee im Nahen Osten. Bei den benachbarten Assyrern und Hethitern etwa habe es diese religiöse Idee ebenfalls gegeben.

"Also das ist eine Besonderheit dieser geografischen Gegend."

Im zweiten Buch Mose, im Buch Exodus, wird schließlich der nächste Bund geschlossen: Gott übergibt Moses die Gesetzestafeln. Auf den ersten Blick bevorzugt Gott das jüdische Volk. So heißt es in Exodus 19:

Wenn Ihr gut auf mich hört und meinen Bund haltet, dann werdet Ihr mein liebstes Volks sein, denn mir gehört die ganze Welt. Ihr sollt ein Königreich der Priester und ein heiliges Volk sein. Sagt diese Worte den Kindern Israels.

Allerdings ist in späteren rabbinischen Schriften davon die Rede, dass sich Gott nicht nur an die Juden gewandt hat. Der liberale Rabbiner Walter Rothschild erklärt die Legende – mit einem Augenzwinkern.

"Gott bietet anderen Völkern auch die Gebote an und die fragen: Was ist drin? Und er sagt: kein Ehebruch. Oh, nein, nein, das wollen wir nicht haben! Am Ende bleibt nur Israel. Und er bietet es Israel an. Und die sagen: Wir werden es tun und dann werden wir zuhören, was das ist. Ist gefährlich heutzutage, man soll einen Vertrag natürlich sorgfältig zu Ende lesen, bevor man unterschreibt. Aber das wird auch als Zeichen von großer Glauben, Vertrauen, der Israeliten in Gott."

Also: Erwählt durch die Verträge mit Gott, aber ohne jeden Vorteil, ohne Privilegien. Religionswissenschaftlerin Albertini bilanziert für den gläubigen Juden:

"Du bist auserwählt worden, damit du ein Modell und ein Vermittler zwischen Gott und der Schöpfung für alle Bevölkerungen auf Erden sein kannst. Das ist eigentlich die große ethische Pflicht, die das moderne Judentum in der Auserwähltheit sieht."

Und ein Vermittler, ein Priester, muss natürlich in besonderer Weise die Gesetze einhalten. Der orthodoxe Rabbi Yitzhak Ehrenberg schüttelt deshalb oft den Kopf über Menschen, die zum jüdischen Glauben konvertieren wollen.

"Jeder, wenn er will, kann ausgewählt sein. Aber ist nicht leicht. Ich sag alle Leute: Was willst Du? Du willst schweres Leben haben, du bist ein Masochist! Viele Juden wollen davon rausgehen ja!"

Außerhalb der jüdischen Gemeinschaft wird das Prinzip der Auserwähltheit allerdings häufig missverstanden. In vielen Internetforen etwa gilt der Begriff als "heißes Eisen". Zitat aus einem Diskussions-Blog:

Was ich hier interessant finde ist, dass der Ausdruck "auserwähltes Volk" immer von bestimmten Menschen aus dem Zusammenhang gerissen wird und als etwas Rassistisches hingestellt wird, um alle Juden als schlechte Menschen hinzustellen. Man kann den Menschen, die die Bezeichnung "auserwähltes Volk" aus dem Zusammenhang reißen, bestimmt Antisemitismus vorwerfen.

Prompt folgen auf den Online-Eintrag Gegenmeinung – und Gegen-Gegenmeinung.

Warum in drei Teufelsnamen ist man gleich Antisemit? Gibt es ein ungeschriebenes Gesetz, dass man das Judentum nicht hinterfragen darf? Die allermeisten Juden erkennen Jesus Christus noch nicht mal als den Endzeit-Messias an. Und Mohammed ist ein Niemand für sie, nur weil er nicht aus dem Volke Israel stammt. Wenn das mal nicht rassistisch ist.

Moment mal. Nur, weil sie Mohammed und Christus nicht verehren, bedeutet das noch lange nicht, dass sie rassistisch sind. Die jüdische Bevölkerung Israels - zumindestens in ihrer ganz großen Mehrheit - fühlt sich nicht als AUSERWAEHLTES VOLK. Genau so wenig wie das deutsche Volk sich als HERRENVOLK fühlt.

Oft enden die Debatten, ob im Internet oder auf der Straße, beim Nahostkonflikt. Etwa bei Vorwürfen, Israels Militärpolitik sei Ausdruck einer überzogenen Auserwähltheits-Phantasie. Viele Juden weisen solche Interpretation entschieden zurück. Andere räumen ein, dass die Idee vom auserwählten Volk durchaus eine Rolle spiele in der Politik. Die Berliner Jüdin Maria Rozova hat dies bei ihren Besuchen in Israel erfahren. Die 24-jährige Studentin erklärt, eine Auserwähltheit könne etwa – ganz persönlich - Mut machen.

"Ich denke, dieser Gedanke hilft auch genau bei den Konflikten, bei den Nahostkonflikten, dass dadurch der Glaube auch an das eigene Land und an den Sieg sozusagen unterstützt wird. Dafür muss man jetzt nicht wirklich arrogant so schreien: Ich bin Jude, deswegen bin ich besser. Nein, dazu wird es nicht verwendet. Aber als innere Sicherheit sozusagen. Das ist wirklich eine religiöse Unterstützung."

Religionsprofessorin Francesca Albertini beobachtet allerdings, dass die Überlieferung von der Auserwähltheit mitunter auch politisch missbraucht wird in Israel. So fühlten sich etwa radikale Siedler von Gott "auserwählt", für das jüdische Volk heiliges Land zu besetzen. Die Bibel-Expertin spricht von einer Fehlinterpretation der jüdischen Quellen: Hier werde die Auserwähltheit nicht als biblische Verpflichtung verstanden, sondern als biblischer Anspruch, als Privileg.

"Was ich beobachte, ist natürlich eine ideologisch orientierte Interpretation der Bibel – egal für welche Zwecke. Aber das ist auch ein Problem, das leider nicht nur das Judentum betrifft."