Florian Werner liest Musik

Selbstmord auf Raten

Tabletten liegen vor einem Bett
Die Drogensucht der Mutter, ihr Leid und ihr Tod haben Sufja Stevens' neues Album inspiriert © picture alliance / dpa / Oliver Berg
Von Florian Werner · 02.04.2015
Der vielseitige Liedermacher Sufjan Stevens kehrt auf dem Album "Carrie & Lowell" zu seinen Folk-Wurzeln zurück. Florian Werner hat einen Song davon gelesen, der Text ist tieftraurig, der Musiker verarbeitet darin den Tod der tablettensüchtigen, depressiven Mutter.
Now that I fell into your arms
My only lover
Give out to give in
I search for the capsule I lost
Eine einfache Folk-Melodie, ein schwelgerischer Sänger, der einem geliebten Du in die Arme sinkt – ein klarer Fall, wie es scheint: Ein Liebeslied. Aber: Wer ist der angesungene lover? Ist es Sufjan Stevens' verstorbene Mutter, der das Album gewidmet ist und zu der sich der Sänger zurücksehnt? Ist es Morpheus, der Gott des allesumarmenden Schlafes? Oder handelt es sich um ein Opiat, das Kapsel für Kapsel chemischen Trost spendet?
Die Hölle der Sucht
Drag me to hell in the valley of The Dalles
Like my mother
Give wings to a stone
It's only the shadow of a cross
Vermutlich Letzteres: Der Sänger steigt hinab in das Tal von The Dalles im Bundesstaat Oregon, wo Stevens' Mutter Carrie prägende Jahre lebte − und zugleich in die Hölle der Sucht: in das "Valley of the Dolls", das Tal der Puppen, wie ein berühmter amerikanischer Roman über Tablettenabhängigkeit heißt. Indem er sich in diesen Abgrund begibt, wird der Sohn zu einem Wiedergänger seiner depressiven, drogenkranken Mutter. Zu einem Geist oder Vampir.
I'll drive that stake through the center of my heart
Lonely vampire
Inhaling its fire
I'm chasing the dragon too far
Ein bitteres Ende
Die Technik ist seit Bram Stokers Dracula allgemein bekannt: Um einen Wiedergänger zu töten, muss man ihm einen Pfahl durch das Herz rammen. Doch der Vampir, der hier spricht, ist so einsam, dass er sogar diese Aufgabe selbst übernehmen muss: Er nimmt sich das Halbleben, er inhaliert sein eigenes Feuer. Er "jagt den Drachen", wie ein gängiger Euphemismus für das Rauchen von Opiaten lautet. Selbstmord auf Raten.
There's blood on that blade
Fuck me, I'm falling apart
My assassin
Like Casper the ghost
There's no shade in the shadow of the cross
Der Name Sufjan ist persischen Ursprungs und bedeutet "Der mit dem Schwert kommt". Am Ende des Songs ist die Klinge dieser Waffe blutverschmiert: Der Sänger fällt auseinander, verletzt sich selbst, und auch sein christlicher Glaube kann ihn nicht mehr trösten: Das Kreuz spendet keinen Schatten. Nach all seinen Flucht- und Verdunkelungsversuchen – in den Schlaf, den Rausch, die Religion − muss sich der Sänger der helllichten Wahrheit stellen: dem Tod seiner Mutter.
Mehr zum Thema