Florian Werner liest Musik

Einsam und vernagelt

Der Musiker und Schriftsteller Sven Regener vor einer weißen Wand mit roten Streifen
Musikalischer Kopf von Element of Crime: Sven Regener © Picture Alliance / dpa / Erwin Elsner
25.09.2014
Am 26. September erscheint das neue Studioalbum von Element of Crime: "Lieblingsfarben und Tiere" heißt es. Florian Werner hat sich die Platte angehört und stellt seinen Lieblingssong "Immer so weiter" vor.
Draußen die Sonne, drinnen der Staub, und keiner, der sagt, wieso
Ich an diesem Tag überhaupt aufsteh'n und später sogar noch aufs Klo
Und aufs Amt gehen soll, wo sie wissen woll'n, ob man noch lebt,
Auf dass das immer so weiter, immer so weiter geht.
"Immer so weiter" heißt dieser Song, aber er beginnt mit absolutem Stillstand: Der Sänger liegt im Bett, blickt nach draußen und empfindet angesichts der dort auf ihn wartenden Welt eine ungeheure Schwere - selbst ein Stuhlgang scheint ihn zu überfordern, von einem Ämtergang ganz zu schweigen. Doch es ist mehr als Morgenmuffeligkeit, die ihn ans Bett fesselt: Es ist das Gefühl, dass alle Verrichtungen ganz sinnlos sind; die Erfahrung des Absurden, die daraus resultiert, so Albert Camus, dass der Mensch fragt und die Welt "vernunftwidrig schweigt".
Schlimm ist die Farbe vom Haus gegenüber und schlimm auch noch das Gelärm
Der Autos der Pendlerbrigade, die in endloser Schlange verhärmt
Und unausgeschlafen der Frühschicht entgegen strebt,
Auf dass das immer so weiter, immer so weiter geht.
Über den Lärm, den Werktätige auf dem Weg zur Arbeit machen, haben sich schon viele sensible Künstlerseelen beklagt. Doch die Empfindsamkeit dieses Sängers gilt nicht nur akustischen, sondern auch optischen Reize: Vor allem die 'laute' Farbe des gegenüberliegenden Gebäudes beleidigt seine Sehnerven. Tatsächlich ist, wie sich herausstellt, das Haus das geheime Leitmotiv dieses Songs. Waren die ersten zwei Strophen von dem Kontrast bestimmt zwischen der Außenwelt, die sich dreht, und dem Sänger, der bewegungslos liegt oder steht, so setzt er sich in der dritten Strophe überraschenderweise doch in Bewegung:
Immer der letzte Fuß hinter dem nächsten und 500 Schritt gradeaus,
Dann mit freundlich grüßenden Gesten linksherum bis zu dem Haus
Das zur Beleidigung aller Statik immer noch steht,
Auf dass das immer so weiter, immer so weiter geht.
Ein mysteriöses, baufälliges Haus - der Leser klassischer Schauerliteratur wird sich an die berühmte Kurzgeschichte "Der Untergang des Hauses Usher" von Edgar Allan Poe erinnert fühlen: In ihr wird der psychische und soziale Niedergang der titelgebenden Familie durch die mangelhafte Statik und den schließlichen Untergang ihres Familienstammsitzes gespiegelt. Ganz so übel ergeht es dem Sänger in "Immer so weiter" zwar nicht – doch auch er erkennt sich in dem verfallenden Gemäuer, das vor ihm steht, wieder.
Dort will ich warten, in der Ruine, in die sich keiner mehr traut,
Wo die Fenster lang schon vernagelt und die Türen lang schon verbaut
Sind, wo genau wie in mir drinnen schon lang nichts mehr lebt
Und doch alles immer so weiter, immer so weiter geht.
"Die einzig typische, d.h. regelmäßige Darstellung der Person als Ganzes ist die als Haus", heißt es in einer Vorlesung Sigmund Freuds zur "Symbolik im Traum": Indem er die Ruine betritt, ja selbst zum Gebäude wird, überwindet der Sänger endlich seine Unbehaustheit - ja möglicherweise findet er sogar so etwas wie Frieden inmitten einer sinnlos 'immer weiter' gehenden Welt. Doch der Preis, den er dafür zu zahlen hat, ist hoch: Er ist genau so einsam und vernagelt wie das Haus.
Mehr zum Thema