Flaubert vertont

Von Frieder Reininghaus · 30.09.2008
Gustave Flauberts "Salammbô" war das Ergebnis seiner nordafrikanischen Reiseerfahrungen. Den großen Roman, der Szenen eines farbenfrohen Kunst-Orients beschreibt, nahm sich der Komponist Ernest Reyer (1823 - 1909) als Grundlage für eine Oper. Sie wurde nun an der Opéra Marseille wiederaufgeführt.
1862 resümierte Gustave Flaubert mit "Salammbô" seine nordafrikanischen Reiseerfahrungen. In emphatischer Sprache aus exzessiven literarischen Bildern setzte er einer karthagischen Fürstentochter ein Denkmal, schuf erotisch lockende und blutig drohende Tableaus eines farbenfrohen Kunst-Orients. 1998 brachte Philippe Fénelon in Paris an der Opéra Bastille eine Oper nach Flauberts großem Roman heraus. Er war nicht der erste, den dieser Text faszinierte. Ernest Reyer (1823–1909), der als junger Mann nach einigen Dienstjahren in einer algerischen Regierungsbehörde bereits 1850 die Symphonie orientale "Le sélam" komponiert hatte, präsentierte 1890 am Théatre Royal de la Monnaie in Brüssel eine erste "Salammbô"-Vertonung. Die kehrte nun am Heimatort des Komponisten wieder – er wurde in Marseille als Louis Etienne Ernest Rey geboren (und starb nicht weit von dort in Le Lavandou bei Toulon).

Drei Jahrzehnte vergingen zwischen der Idee des Romanciers Flaubert, Reyer um Musik zu dem in Arbeit befindlichen "Salammbô"-Roman zu bitten, und der Uraufführung – 30 Jahre, in denen sich der Blick auf Nordafrika ebenso veränderte die Koordinaten des ästhetischen Exotismus: Wären Flaubert und Reyer unverzüglich zu Werk gegangen, dann hätten sie sogar Giacomo Meyerbeers "Afrikanerin" noch zuvorkommen können (der ersten großen exotistischen Oper). Flaubert entwarf mit glühenden Worten Bilder von den Begierden und Leiden eines bunten mediterranen Völkergemischs in der Zeit der Punischen Kriege. Aus ihnen ragen der Söldner und Kriegsheld Mâthò hervor sowie (natürlich!) die Tanit-Priesterin Salammbô, die Tochter des regierenden Fürsten Hamilkar.

Die schier unbeschreiblich schöne Jungfrau weckt die äußersten Begierden der Männer. Flaubert verwob ihr Bild mit dem religiös-erotischen Motiv eines Schleiers, der im Tanit-Kult und für die Kampfmoral der Karthager eine bedeutsame Rolle gespielt habe – für eine "Republik" mit einer Bevölkerung, derer ethnische Rivalitäten womöglich ebenso für die Niederlage in den Kriegen gegen das römische Imperium ausschlaggebend waren wie die Konflikte mit afrikanischen "Randvölkern" (diese werden im Roman und in der Oper u.a. vom numidischen König Narr’Havas repräsentiert). So wenig wie "L’Africaine" von Meyerbeer, in der ein Oberpriester des Brahma und ein Großinquisitor aufgeboten wurde, oder wie Verdis "Aida" kommt Reyers "Salammbô" ohne Hohen Priester aus.

Die Musik vermeidet alle hörbaren Anklänge an Richard Wagners Harmonik, Leitmotivtechnik und "unendliche Melodie" – dies ist bemerkenswert vor allem auch vor dem Hintergrund des Opfertods der Salammbô (ein Liebestod, zwar noch vor der Uraufführung von Richard Wagners "Tristan und Isolde" konzipiert, aber in der Endfassung erst in den 1880er Jahren ausgestaltet: die Titelheldin muss am Tag der zwangsweisen Verheiratung mit dem bündnistreuen Numider-König den von ihr geliebten Mâthò opfern, ersticht aber statt ihm sich – und er dann sich selbst).

Ernest Reyer knüpfte wieder an die vor-wagnersche Opern- und Oratorienschreibwiese an, hörbar an Werken wie dem "Elias" von Mendelssohn. Lawrence Foster sorgt für eine höchst intensive Wiedergabe der weithin von hochdramatischen Gesangspartien und einigen massiven Chorpassagen geprägten Partitur. Gilles Garon bestreitet seinen Tenor-Marathon mehr als respektabel. Die noch relativ junge und schlanke Kate Aldrich singt die Titelpartie vorzüglich, scheint aber zu viele Videos mit Anna Netrebko gesehen zu haben. Deren Sing- und Spielweise imitiert sie in fast anrührender Weise (sie kann all den Intendanten und Disponenten, die den Schwangerschaftsurlaub der russischen Medien-Primadonna mit einem adäquaten Ersatz überbrücken wollen, wärmstens empfohlen werden).

Der Regisseur Yves Coudray arrangierte die Tableaus der Schlacht-, Trink- und Liebes-Szenen vor einem leeren Horizont, in den auf die eine oder andere Weise zwei Säulen ragen (also ohne die von Reyer vorgesehenen Wechsel der exotischen Stadt- und Palastansichten). Die tonangebenden Herren trugen Fräcke, die Männer des Chors dunkle Alltagsanzüge, keine Uniformen, Rüstungen oder Waffen. Allerdings wurden häufig die bunten und exotischen Kostüm- und Bühnenbildentwürfe für die Uraufführung vor knapp 120 Jahren eingeblendet und so die Historizität und der originäre kulturgeschichtliche Horizont des Werks markiert.