Finnland und Estland

Mit dem Zug durch die Ostsee in die Zukunft

23:44 Minuten
Blick auf den Dom von Helsinki, im Vordergrund der Hafen in dem eine der großen Ostseefähren ankommt.
Noch muss man die Fähre nehmen, um von der estnischen Hauptstadt Tallinn nach Helsinki zu gelangen. Doch vielleicht gibt es bald eine Zugverbindung. © gettyimages / Moment Editorial / Treflyn Lloyd-Roberts
Von Christoph Kersting · 27.05.2020
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Der längste Eisenbahntunnel der Welt könnte die Verbindung zwischen den Hauptstädten Helsinki und Tallinn werden, unter der Ostsee hindurch. Er könnte den Startschuss für eine neue europäische Region mit eigener Identität bedeuten: den Ostseeraum.
10.30 Uhr, die "Megastar" legt ab im Hafen von Helsinki. Eine leichte Brise geht, der Himmel ist strahlend blau, die Wintersonne spiegelt sich auf der glatten Ostsee.
Es ist ein Freitagmorgen Anfang März, einige Tage, bevor die Coronakrise auch den Norden Europas erreicht, und zum Beginn des Wochenendes ist die Fähre wie immer voll mit Menschen, die von einer Hauptstadt in die andere fahren: von Helsinki nach Tallinn. Viele Touristen sind an Bord, einige tragen Mundschutz.
Auch Mia und ihre Freundin Saara sind heute an Bord. Die beiden Frauen studieren in Helsinki und nutzen die Fähre für einen Trip nach Tallinn. Zwei, drei Mal pro Jahr nehme sie die Fähre hinüber ins nahe Estland, erzählt Mia.
"I would not look at this as a switch from digital to infrastructure or something like this...."
Die Verbindung Helsinki-Tallinn ist auch für den Finnen Peter Vesterbacka seit einigen Jahren ein großes Thema, wenn auch nicht per Fähre, sondern per Eisenbahn. Versterbacka ist 52, zum Interviewtermin in einem Café im Zentrum von Helsinki erscheint er in Jeans, Turnschuhen und rotem Kapuzen-Pulli – so etwas wie sein Markenzeichen. Früher prangte meistens noch ein kugelrunder, grinsender Vogel auf seiner Brust: der "Mighty Eagle", der "mächtige Adler" aus dem weltweit bekannten Smartphone-Spiel "Angry Birds".

Spieleerfinder und Visionär Peter Vesterbacka

Vesterbacka hat das Spiel erfunden, war jahrelang Chef des finnischen Game-Entwicklers Rovio Entertainment. Seit 2016 aber will er den längsten Eisenbahntunnel der Welt bauen, eine direkte Verbindung zwischen den Hauptstädten Helsinki und Tallinn unter der Ostsee hindurch.
"Werfen wir doch einen Blick auf die Situation hier bei uns: Wir haben inzwischen mehr als zehn Millionen Fährpassagiere zwischen Helsinki und Tallinn jedes Jahr. Damit ist Helsinki der größte Passagierhafen weltweit, größer noch als Dover in England. Hinzu kommt: Die ganze Region ist sehr dynamisch und innovativ, eine Talentschmiede, wenn es um Start-ups und Digitalwirtschaft geht. Sechs Prozent aller Mobile Games z.B. kommen aus Finnland."
Und deshalb hat Vesterbacka 2016 die FinEstBay Area Group gegründet, eine Projektgesellschaft, die die Tunnel-Idee in die Tat umsetzen will. Schon in viereinhalb Jahren sollen die ersten Züge rollen. Im Prinzip finden sowohl Estland wie Finnland, dass man profitieren würde von dieser Eisenbahnverbindung. Dennoch klingen offizielle Stimmen hierzu eher verhalten. Besonders aus Estland. Und völlig ausgeklammert bleibt bislang Russlands Haltung zu einem Tunnel-Bau direkt vor der eigenen Haustür.

EU-Studie: Eisenbahntunnel ist kein Hirngespinst

Immerhin gibt es inzwischen eine von der EU mitfinanzierte finnisch-estnische Machbarkeitsstudie. Ihr Fazit: Grundsätzlich ist ein solcher Tunnel unter der Ostsee machbar und kein Hirngespinst – vor allem, weil die neue Verbindung zu einem deutlichen Anstieg des Passagier- und Warenverkehrs führen würde, heißt es im Begleitvideo der Studie.
"Die neue Bahnverbindung unter der Ostsee, in Kombination mit Fähren, würde zu einem deutlichen Anstieg der Passagierzahlen zwischen Helsinki und Tallinn führen: bis zum Jahr 2050 auf geschätzt 23 Millionen Passagiere jährlich."
Dabei besteht der Eisenbahn-Tunnel genau genommen aus zwei parallel verlaufenden Röhren, die bis zu 250 Meter tief unter dem Finnischen Meerbusen verlaufen sollen. Und der bei den Grabungen anfallende Schutt soll zu einer künstlichen Insel mitten in der Ostsee aufgeschüttet werden, mit Wohnungen und Bürogebäuden drauf, zwölf Hektar groß, vergleichbar mit der Fläche von zwei großen Fußballstadien.
Porträtaufahme Peter Vesterback im roten Kapuzenpulli.
Schon in viereinhalb Jahren könnten die ersten Züge rollen, meint Peter Vesterbacka.© Christoph Kersting
Auch Verkehrsexperten und Zukunftsforscher sehen durchaus das Potenzial einer zusätzlichen Tunnel-Verbindung unter dem Golf von Finnland. Die Wissenschaftler der finnischen Denkfabrik "Demos" etwa haben schon 2009 ein Buch mit dem Titel "Talsinki-Hellina" veröffentlicht. Darin entwerfen sie ein Zukunftsszenario für die Metropolregion Helsinki-Tallinn, das auch weitere Kreise zieht: bis nach Stockholm im Westen und St. Petersburg im Osten. Jetzt hat das Demos-Team um den Wirtschaftsexperten Henrik Suikanen eine Art Update erstellt, eine Studie darüber, wie die Region sich bis 2040 entwickeln könnte. Ein zentraler Aspekt dabei: der Tunnel unter der Ostsee.
"Finnland und Estland liegen ja geografisch zwischen den boomenden Märkten in Asien, speziell China, und Westeuropa. Und wenn wir hier die richtigen Karten spielen, kann diese Metropolregion zu einem ganz wichtigen Tor, einer Brücke werden zwischen diesen beiden Kontinenten. Gleichzeitig ist aber Finnland nach wie vor eine Art Insel, und da könnte so eine Eisenbahnverbindung ganz neue Möglichkeiten schaffen in der Anbindung an Europa, auch weil Fliegen künftig unter Klimaschutz-Gesichtspunkten immer schwieriger werden dürfte. Um diese beiden Punkte geht es vor allem bei dem Tunnel-Projekt."

Helsinki soll Portal Richtung Asien werden

Tatsächlich geht es auch den Tunnel-Planern um Peter Vesterbacka nicht nur um eine schnellere Verbindung zwischen zwei nordischen Hauptstädten. Helsinki soll auch zu einem Portal in Richtung Asien ausgebaut werden. Und das Interesse ist nicht einseitig: der chinesische Fonds Touchstone Capital Partners werde den Tunnel mit 15 Milliarden Euro finanzieren, gab Versterbackas FinEstBay Area Group im Juli 2019 bekannt. Chinas Engagement auch in der europäischen Peripherie sei nur logisch, findet der Politologe Charly Salonius-Pasternak vom finnischen Institut für internationale Beziehungen:
"Ich hole in meinen Vorlesungen oft eine Karte heraus, wenn es um globale Machtverschiebungen geht. In Finnland reden wir immer viel davon, wie sich der Schiffsverkehr von Shanghai nach Rotterdam verzögert, weil die Frachtschiffe nicht die Nordroute durch das Eis der Arktis nehmen können. Das ist aber global gesehen nur ein kleiner Teil dessen, was als Seidenstraße 2.0 bezeichnet wird – dieses riesige, geplante globale Netz von Straßen, Häfen, Bahnverbindungen usw."
Und: Der Tunnel wäre indirekt auch Teil und quasi das logische Endstück eines anderen europäischen Verkehrsprojekts, der Rail Baltica. Bis 2026 soll die von der EU mit sechs Milliarden Euro finanzierte Hochgeschwindigkeits-Trasse fertig sein, auch wenn es immer wieder Querelen bei der Planung gibt. Anfang Mai etwa verkündete die in Estland an der Regierung beteiligte, stramm rechtsnationale Partei EKRE, das Projekt Rail Baltica sei quasi gestorben. Estlands Premier Jüri Ratas dementierte umgehend: Die Bahntrasse werde wie geplant weiter gebaut – und dann, wenn auch mit einigen Jahren Verspätung, schnelles Reisen per Bahn von Estland über Lettland und Litauen nach Warschau und Berlin ermöglichen. Denn bis heute ist in puncto Schnellzüge Schluss an der polnisch-litauischen Grenze, weil Züge auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion nach wie vor auf anderen Spurbreiten fahren. Der finnische Politologe Salonius-Pasternak ordnet das Ganze so ein:
"Wir haben da zwei Projekte. Das erste ist ein sehr formales, von den Behörden und der EU stark unterstütztes Projekt, und dann haben wir dieses zweite, das Tunnel-Projekt. Das ist wie ein Startup-Tesla, könnte man sagen, und das andere, die Rail Baltica, ist eher so der Mercedes Benz: lange geplant, viele Beteiligte etc. Aber zusammen genommen ist das doch sehr attraktiv und vergleichbar mit dem, was z.B. in Schweden und Dänemark mit der Öresund-Brücke geschaffen wurde: dass man in Malmö wohnt und zur Arbeit nach Kopenhagen pendelt oder umgekehrt."

Eisenbahntunnel auch für Estland wichtig

Noch aber hat Tunnel-Visionär Peter Vesterbacka nicht die notwendigen Genehmigungen der staatlichen Behörden in Helsinki und Tallinn in der Tasche. Offiziell heißt es, es fehlten noch diese oder jene Unterlagen, genaue Untersuchungsergebnisse zur Umweltverträglichkeit des Projekts etwa. Eher zurückhaltend äußert sich deshalb auch Tiit Oidjärv, im estnischen Finanzministerium zuständig für den Bereich Raumplanung und damit auch für das Tunnel-Projekt:
"Die estnische Regierung hat immer wieder betont, dass der Tunnel eine wichtige Sache ist für unser Land. Für eine Genehmigung fehlen uns aber einfach noch Informationen von den Planern. Zum Beispiel haben wir nachgefragt, was denn passiert, wenn der Businessplan zeitlich nicht funktioniert, wenn also der Tunnel nicht wie geplant schon 2024 fertig wird. Darauf haben wir aber bis jetzt keine Antwort bekommen."
Luftaufnahme von Booten vor St. Petersburg
Russland teilt mit Finnland eine 1300 Kilometer lange Grenze - und ist, etwa über den Hafen St. Petersburg, Teil der Ostseeregion.© imago images / Westend61
Und was sagt eigentlich Russland zu einem von Chinesen finanzierten Tunnel, der Moskau quasi vor die Nase gebaut würde? Eine Frage, die scheinbar nicht vorkommt in den bisherigen Planungen und Diskussionen. Dabei sitzt Russland in beiden Ländern, Finnland und Estland, innen- wie außenpolitisch irgendwie immer mit am Tisch. Finnland teilt eine über 1300 Kilometer lange Grenze mit dem östlichen Nachbarn. Bis heute sind die Finnen kein NATO-Mitglied, sicherlich auch ein Zugeständnis an den Kreml. Und Estland war 50 Jahre lang zwangsweise eine von 15 Sowjetrepubliken, nach wie vor hat ein Viertel der estnischen Bevölkerung russische Wurzeln, und Moskau wird in Estland stärker noch als in Finnland stets als konkrete Bedrohung gesehen.

Russland: kein wirtschaftlicher Nutzen des Tunnels

Russland hält sich bislang bedeckt beim Tunnel-Thema. Offizielle Stellungnahmen gibt es nicht, lediglich der Wirtschaftsexperte Wassili Koltaschow vom Moskauer Institut für Globalisierung und soziale Bewegungen hat das Tunnel-Projekt im Kreml-nahen Nachrichtenportal Sputnik kommentiert. Wirtschaftlich mache das Ganze keinen Sinn, es müsse also andere strategische Interessen geben hinter der Tunnel-Idee, mutmaßte er. Noch deutlicher kritisierte der russische Botschafter in Lettland, Jewgeni Lukjanow, Anfang 2019 die angeblichen Gründe für den Bau der Rail Baltica: Die NATO könne so ihre Panzer schneller in Richtung Russland transportieren, erklärte der Diplomat in Riga. Der finnische Politologe Charly Salonius-Pasternak muss da schmunzeln:
"Das ganze Militär-Thema im Baltikum ist ja für die USA und die Nato erst in den letzten fünf, sechs Jahren aktuell geworden. Die Rail-Baltica-Pläne sind aber viel älter, und diese Schnellzugverbindung sollte ja auch längst fertig sein. Natürlich kann man damit theoretisch auch militärische Ausrüstung transportieren. Wir sehen aber auch keine Panzer, die mit französischen TGV-Zügen durch die Gegend fahren. Wir sind ja nicht mehr im Ersten Weltkrieg! Mich wundert diese Aussage eines russischen Diplomaten aber nicht. Ein Expresszug, der über Nacht von Tallinn nach Berlin fährt, richtet doch den wirtschaftlichen Blick der ganzen Region noch stärker gen Westen und weg von Moskau. Geopolitisch betrachtet, ist die ablehnende Haltung Russlands hier also nachvollziehbar."
Und auch beim Tunnel-Thema werde Russland bislang viel zu wenig berücksichtigt, findet Wolfgang Drechsler. Der Politologe und Staatswissenschaftler lehrt an verschiedenen Universitäten, unter anderem in Tallinn und Harvard. Ich erreiche ihn wegen der Coronakrise im Homeoffice in seiner Heimatstadt Marburg.
"So wichtig das Russen-Thema sonst ist, aber dass der Vesterbacka-Tunnel irgendwie ein Problem für die Russen sein könnte, ist nicht Teil des Packages. Der Tunnel impliziert ja eine Insel. Das heißt, das kann ja eine Seefestung sein, die sich gewaschen hat. Und dennoch haben Sie eine Direktverbindung, die gewisserweise einen Riegel darstellt, nicht so sehr zwischen Tallinn und Helsinki, sondern einen Riegel, der St. Petersburg abriegelt und diesen ganzen klassischen eisfreien Zugang der Russen nach Europa. Es fällt mir relativ schwer, mir den Vesterbacka-Tunnel real vorzustellen, ohne dass er die Russen stören würde."

Tolle Chance für Esten, die in Finnland arbeiten

Zurück auf der Morgenfähre von Helsinki nach Tallinn. Das Schiff wird pünktlich gegen halb eins mittags den Hafen der estnischen Hauptstadt erreichen. Vor allem freitags sind die Fähren Richtung Estland auch voll mit Menschen, die in Finnland arbeiten und am Wochenende heimfahren zu ihren Familien in Tallinn, Tartu oder Narva. Über 100.000 Estinnen und Esten arbeiten in Finnland in der Krankenpflege, auf Baustellen oder als Feuerwehrleute, weil die Löhne dort deutlich höher sind als in Estland.
Jan Aas und Märt Kuusk, Mitte 30, kommen von der größten estnischen Insel Saaremaa im Westen des Landes und arbeiten als Installateure auf finnischen Baustellen im Großraum Helsinki. Die Tunnel-Idee? Eine feine Sache, findet der Este Jan Aas:
"Wir müssen ja schon die Fähre nehmen, um von Saaremaa aufs Festland zu kommen, dann weiter mit dem Auto nach Tallinn. Das dauert. Wenn wir dort in einen Zug steigen könnten und eine halbe Stunde später in Helsinki wären, klasse! Definitiv würde ich das der Fähre vorziehen."
Peter Vesterbacka jedenfalls bietet schon Tickets an auf der Website seiner FinEstBay Area Group: 100 Euro kostet die Hin- und Rückfahrt durch den längsten Eisenbahntunnel der Welt. Genau am 24. Dezember 2024, Heiligabend, sollen die ersten Züge rollen.
"And again: There is no reason why not!"
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