Finanzwissenschaftler: Ratingagenturen "sind Machtinstrumente"

Max Otte im Gespräch mit Ute Welty · 12.07.2011
Der Finanzwissenschaftler Max Otte sieht die wirtschaftsstärksten Nationen der EU, Deutschland und Frankreich, in der Pflicht, die Macht der Ratingagenturen mit Sitz in den USA einzudämmen. Gleichwohl würde ein Antasten dieser Macht zu einem offenen wirtschaftspolitischen Konflikt mit den USA führen.
Ute Welty: Es sind ungeheure Summen, über die da spekuliert wird. Angeblich soll eine Verdopplung des Eurorettungsfonds notwendig sein, auf dann 1,5 Billionen Euro, was 1500 Milliarden wären. Und nach Griechenland, Irland und Portugal könnte jetzt auch Italien Hilfe aus dem Fonds benötigen, denn Italien ist ganz allein für ein Viertel der Schulden aller 17 Euroländer verantwortlich. Das weiß auch Max Otte, Professor für allgemeine und internationale Betriebswirtschaftslehre an der Fachhochschule in Worms, der eine Streitschrift verfasst hat mit dem Titel "Stoppt das Euro-Desaster". Guten Morgen, Herr Otte!

Max Otte: Guten Morgen, Frau Welty!

Welty: Bereits im April haben Sie ja vor einer Verschärfung der italienischen Krise gewarnt, ist das jetzt der befürchtete Worst Case?

Otte: Es geht tatsächlich weiter, wie Sie eben in der Anmoderation gesagt haben, und es stecken ja Interessen dahinter. Es steckt System dahinter, denn Italien geht es eigentlich so schlecht nicht. Das Land ist zwar relativ hoch verschuldet, aber auch nicht so hoch dann wieder und vor allem bei der eigenen Bevölkerung. Es gab keine Immobilienblase, die Staatsfinanzen sind einigermaßen in Ordnung, eigentlich geht es Italien viel besser als zum Beispiel den USA, und die USA ist mit Triple'A Plus™ geratet, und Italien wird jetzt vielleicht heruntergeratet. Das ist schon komisch.

Welty: Sie sprechen jetzt von der Bewertung durch die Ratingagenturen, die ausschlaggebend sind auch für das, was die Staaten für das geliehene Geld bezahlen müssen?

Otte: Richtig, und das ist das Nächste an dem Spiel: Die Ratingagenturen sind ja letztlich drei Agenturen – es ist ein angelsächsisches Kartell und es hat eigentlich immer versagt, denn eigentlich müsste es ja diese Staaten vorher runterraten. Zwei, drei Jahre vor den Krisen oder auch vor der Finanzkrise hätten die ihre warnende Stimme erheben müssen, dann hätten sie etwas Gutes bewirkt. So kommen sie hinterher und setzen auf das Leid noch einen drauf, und das kann nicht hilfreich sein, und trotzdem lässt es die Politik bis jetzt gewähren.

Welty: Die EU-Kommissarin Viviane Reding schlägt einen anderen Ton an, sie spricht davon, die Ratingagenturen zerschlagen zu wollen – halten Sie das für hilfreich?

Otte: Sie hat absolut recht, denn letztlich sind diese Agenturen ja Behörden oder planwirtschaftliche Instrumente. Wenn Sie sich vorstellen, dass ein solches Rating notwendig ist dafür, dass Banken und Investoren die Anleihen in ihre Bücher nehmen, dann ist das schon bedenklich, dann hat das mit Marktwirtschaft relativ wenig zu tun. Es sind also Machtinstrumente mittlerweile de facto, das Problem ist aber, dass so etwas nicht von Frau Reding kommen darf, die ist in Luxemburg, das ist zwar sicherlich ein gutes Land und ein wirtschaftlich solides Land, aber es müsste natürlich ein Land mit Machtpotenzial dahinter, also am besten Deutschland oder vielleicht auch Frankreich.

Welty: Warum schreckt Deutschland bisher vor diesem Schritt zurück?

Otte: Ja, das ist dann hohe Politik. Wenn Sie überlegen, dass die Ratingagenturen schon ihren Sitz in Amerika haben und natürlich irgendwo auch dann schon in einer gewissen Politik mitschwimmen, dann wäre das natürlich der offene wirtschaftspolitische Konflikt mit den USA, und da hat Kontinentaleuropa und insbesondere Deutschland kein großes Interesse daran, obwohl es sicherlich besser wäre, diese Strukturen umzugestalten und zum Beispiel eine europäische staatliche Ratingagentur für Staatskredite zu schaffen. Da braucht man 20 Ökonomen zu, die gibt's bei der EZB.

Welty: Aber wäre das nicht dann ein anderes Machtinstrument, was genauso missbraucht werden kann wie die Ratingagenturen bisher?

Otte: Na ja, zur Macht gehört Gegenmacht, man nennt das auch Wettbewerb, und die Frage ist eben, wie bekommen wir diesen Wettbewerb, oder schaffen wir es, die Ratingagenturen komplett abzuschaffen? Das halte ich im Moment noch für unrealistisch, also muss Wettbewerb her, und zwar am besten staatlicher Wettbewerb gegen private Institute. Staatliche Ratingagenturen sind wahrscheinlich etwas langsamer, kann schon sein, aber sie haben nicht diese eklatanten Interessenkonflikte wie die privaten, die zum Beispiel auf die Subprime-Papiere, also auf den Finanzsondermüll drei A gestempelt haben und dafür sogar noch von den Produzenten des Mülls bezahlt worden sind.

Welty: Der Staat glänzt bisher ja, wie soll man sagen, durch Abwesenheit, durch Nichtentscheidung – denken Sie, dass sich das ändern würde, sind die Interessen, die hinter den Rettungspaketen und hinter den Spekulationen an den Börsen stehen, nicht zu groß?

Otte: In der Tat sind die Politiker heutzutage sehr stark im Würgegriff der Finanzoligarchie – ich gehe darauf ja ein in meiner Streitschrift. Dieser Begriff stammt übrigens nicht von mir, sondern von dem angesehenen amerikanischen Verfassungsrichter Louis Brandeis, der ihn 1911 geprägt hat. Mittlerweile ist das tatsächlich die zivile Weltmacht, die in vielen wirtschaftspolitischen Fragen dominiert – also Investmentbanken, Ratingagenturen, Wirtschaftsprüfungsgesellschaften – und es sind sehr wenige Menschen. Damit betreibe ich keine Verschwörungstheorie, sondern nüchterne Analyse von Machtstrukturen, und das ist ja immer schon Aufgabe der Sozialwissenschaft gewesen. Und an dieser Oligarchie müsste die Politik heran, aber bis jetzt traut sie sich nicht so recht.

Welty: Wenige verdienen, viele bezahlen – ist eben das auch der Grund dafür, wie Sie schon gerade angedeutet haben, dass nichts passiert?

Otte: In der Tat, ich meine, wenn man sich so eingenistet hat im Wirtschaftssystem und leistungsfreie Einkommen produziert. Die Bankerboni sind natürlich ein populäres Thema, aber irgendwas ist schon dran, wenn ich da ein paar Anleihen strukturiere oder was auch immer mache, oder Kunden zum Teil übervorteile und dafür dann Millionen Boni kassiere, dann sind das schon kranke Auswüchse, da könnte man schon juristisch und gesetzlich ran. Aber selbstverständlich verteidigt die Oligarchie ihre Interessen über Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, über Brüssel und so weiter, sodass es gar nicht so einfach ist, da ranzukommen, und angesehene Politiker oder Wirtschaftswissenschaftler werden dann als Berater eingekauft und dann steht man noch besser da.

Welty: Im Grunde genommen ist aber Geld doch nur eine Vereinbarung. Wenn die meisten Vertragspartner durch diese Vereinbarung erhebliche Nachteile haben, sollte man die Vereinbarung dann nicht aufkündigen? Wann also kommt der Schuldenerlass?

Otte: Das ist richtig. Ich denke schon, dass Griechenland irgendwann einen Schuldenerlass oder einen Schuldenschnitt machen wird und machen muss. Ich plädiere seit über einem Jahr dafür, das Land ist faktisch insolvent, und ein Schuldenschnitt bedeutet ja nicht, dass Griechenland, dass die griechische Wirtschaft zerstört wird, im Gegenteil: Ein Schuldenschnitt bedeutet eine Insolvenz, dass das Land nicht mehr alle Schulden bezahlt, dass diejenigen, die ihm Geld geliehen haben, Verluste realisieren müssen, und Griechenland kann dann weitermachen und wieder atmen. Denn auch die informierten Gläubiger mit ihren großen Analystenabteilungen, die Griechenland vor der Krise Geld geliehen haben, stehen ja in der Verantwortung, denn sie haben ein Geschäft gemacht und haben sich dabei verkalkuliert.

Welty: Der Ökonom Max Otte im Interview mit Deutschlandradio Kultur. Ich danke dafür und wünsche einen krisenfesten Tag!

Otte: Guten Tag!

Die Äußerungen unserer Gesprächspartner geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
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