Finanzwissenschaftler: Gesellschaft hat nicht aus Krise gelernt

Sven Remer im Gespräch mit Marietta Schwarz · 15.09.2009
Die Weltwirtschaftskrise hat nach Ansicht des Finanzwissenschaftlers Sven Remer nicht zu einem Umdenken in der Gesellschaft geführt.
Marietta Schwarz: Anke Petermann über Geschädigte der Lehman-Pleite, die genau heute vor einem Jahr zum Zusammenbruch des Weltfinanzsystems führte. Seither haben die Regierungen weltweit Milliardenbeträge in das kranke System gepumpt. Politiker rühmen sich damit, das Schlimmste verhindert zu haben. Doch die Krise ist noch längst nicht überstanden, auch wenn es so aussieht, als erhole sich die Wirtschaft bereits. Viele Experten warnen vor einer zweiten Welle von Kreditausfällen. Trotzdem wird an den Börsen wieder fröhlich gezockt, denn die Regierungen – so die Erfahrung – birgt ja, wenn es ganz dicke kommt. Dass sich an diesem Finanzsystem etwas ändern muss, darüber sind sich fast alle einig – nur wie, darüber gehen die Ansichten weltweit auseinander. Sven Remer ist Finanzwissenschaftler und bildet am Bochumer Institut für Social Banking angehende Banker aus. Guten Morgen Herr Remer!

Sven Remer: Schönen guten Morgen!

Schwarz: Herr Remer, haben wir etwas gelernt aus der Finanzkrise?

Remer: Ich würde sagen, wir als Gesellschaft, als große Öffentlichkeit wahrscheinlich nicht. Ich nehme an, dass einzelne Menschen was gelernt haben, ich nehme an, dass wir uns anfangen, Gedanken zu machen, aber ich glaube noch nicht, feststellen zu können, dass wir als Gesellschaft wirklich was gelernt haben. Ganz im Gegenteil, ich hab das Gefühl, es geht eigentlich erschreckend schnell wieder so weiter oder dort weiter, wo wir vor einem guten Jahr aufgehört hatten.

Schwarz: Wie erklären Sie sich das? Es gibt viele Banker, die jetzt, nach einem Jahr, sagen, let’s go, lasst es wieder krachen, wir holen raus an der Börse, was rauszuholen ist. Wie kommt es dazu?

Remer: Ich denke, es ist ganz klar gewesen, dass der Schaden für den Einzelnen verhältnismäßig gering ist, zumindest für den einzelnen Banker. Es gab im "Spiegel Online" beispielsweise neulich auch eine Meldung, dass die Krise zu einem Vermögensverlust von ungefähr 3000 Euro pro Bundesbürger geführt hat. Das sind überschaubare Summen noch, für den Banker bedeutet das gar nichts, und die alten Banker – beispielsweise auch die Lehman-Banker – werden übernommen von anderen Banken, die mittlerweile noch größer werden, noch systemgefährdender werden. Die spüren den Schaden nicht. Die Wirtschaft geht weiter und die Gehälter werden weiter gezahlt, die Boni werden weiter gezahlt. Das ist einfach nicht eingezogen in die Köpfe. Das ist natürlich was ganz anderes bei denjenigen, die davon wirklich betroffen sind, die ihre Häuser verloren haben, die ihre Jobs größtenteils verloren haben und insbesondere auch in anderen Ländern verloren haben als bei uns in den reichen Ländern.

Schwarz: Denken Sie, die Banker haben so etwas wie Realitätsverlust?

Remer: Wenn Sie es so überspitzt ausdrücken wollen, auf jeden Fall. Ich denke, das ist eins der ganz großen Probleme, das sich schon ganz lange Zeit abzeichnet, dass der Bezug zur Realität im wahrsten Sinne des Wortes wirklich fehlt. Die Finanzwirtschaft – und die Volkswirtschaft auch – sind mittlerweile Wissenschaften geworden, die sich in einer virtuellen Welt abspielen und mit der Realwirtschaft und mit den realen Bedürfnissen der Gesellschaft überhaupt nichts mehr zu tun haben oder nur noch in bedingtem Maße was zu tun haben.

Schwarz: Was kann man dagegen tun? Sie selbst lehren ja auch an der Uni, Sie lehren Social Banking. Was genau versteht man darunter?

Remer: Also in der Tat, Social Banking ist natürlich auch ein Kunstbegriff, an dem sich viele Leute, inklusive mir, meine Kollegen, immer wieder mal stören, weil er nicht flüssig zu erklären ist. Im Gegenteil, er ruft eher dazu auf, sich Gedanken zu machen: Wie passen diese beiden Begriffe "social" und "banking" zusammen? Die meisten denken, es passt nicht, wir gehen davon aus, dass es doch passt und wir würden, vereinfacht ausgedrückt, sagen: Social Banking ist ein Bankwesen, das den Menschen mit seinen Bedürfnissen in den Mittelpunkt stellt und sich als Bankwesen wiederum wirklich als Dienstleister versteht.

Schwarz: Ist der soziale Banker denn wettbewerbsfähig?

Remer: Absolut. Ich denke, wenn es irgendwelchen Banken im Augenblick gut ging und wenn Banken große Kunden und auch entsprechende Geldzuläufe im Augenblick zu verzeichnen haben, dann sind das insbesondere unsere Mitgliedsbanken, also die europäischen, sozial und ökologisch orientierten Banken, weil natürlich einzelne Kunden – und es sind immer noch einzelne Kunden, betrachtet man die Gesamtheit – erkennen, dass es so nicht weitergehen kann und auch keine Lust mehr haben, ihre Gelder auf eine Bank zu tragen, bei der sie nicht wissen, was mit diesen Anlagen entsprechend passiert.

Schwarz: Aber in einem weltweiten System, in dem Nachhaltigkeit jetzt noch nicht so das große Thema ist, dürfte das doch Probleme bergen, da stoßen doch Welten aufeinander?

Remer: Ja, und ich würde auch nicht so vermessen sein, zu sagen, dass das soziale Bankwesen eine baldige Marktdominanz erfahren wird. Ich denke, es ist ein Keim, der hier wächst und der im Augenblick sehr stark und rasant wächst, aber auch Nachahmer wirklich sprichwörtlich in allen Herren Ländern mittlerweile findet. Das heißt, das sind Keimzellen, die bald aufblühen werden, davon bin ich überzeugt.

Schwarz: Herr Remer, wie haltbar ist das, wenn man einem Studenten während des Studiums etwas vermittelt, wie haltbar ist das für das reale Leben, für den Berufsalltag, der dann vielleicht ganz anders aussieht?

Remer: Ich denke, der Berufsalltag sieht für unsere Studenten nicht so viel anders aus, weil wir uns insbesondere an berufstätige Menschen, die im Bank- und Finanzbereich tätig sind, … andere Perspektiven zu eröffnen, das heißt, entweder in ihren sozial orientierten Banken bestimmte, auch dort vorhandene Probleme anzugehen, oder ihre konventionell orientierten Arbeitgeber in diesem Bereich möglicherweise konstruktiv, kritisch in eine richtige Richtung zu bewegen.

Schwarz: Was glauben Sie: Selbst, wenn alle angehenden Banker oder solche, die es schon sind, bei Ihnen etwas lernen würden, nämlich das soziale, das social banking – glauben Sie, man könnte dann auf Regulierungsmaßnahmen verzichten?

Remer: Nein. Ich denke mal, wir können bestimmt nicht ganz auf Regulierungsmaßnahmen und entsprechende Gesetze, auch, was die beispielsweise Kapitalausstattung der Banken anbetrifft, verzichten, weil das menschliche Element immer mit eine Rolle spielen wird. Und es gibt in jeder Bank – und da kann ich auch keine soziale Bank ausnehmen natürlich – menschliche Schwächen, Unkenntnisse schlicht zum Teil auch. Das heißt also, Regulierung ist sicher notwendig. Ich denke aber, wodran wirklich appelliert werden muss, ist das Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen, und das in Kombination mit einer entsprechend angemessenen Regulierung, glaube ich, wird keine zukünftigen Krisen verhindern, davon bin ich auch wiederum überzeugt, aber wird sie vielleicht etwas unwahrscheinlicher machen.

Schwarz: Was wird zukünftige Krisen verhindern? Es wird ja jetzt vor dem Weltfinanzgipfel in Pittsburgh auch viel geredet zum Beispiel vom Kappen der Boni oder auch von einer Spekulationssteuer. Sind das die wirksamen Maßnahmen?

Remer: Das sind Ansätze, über die sich sicher nachzudenken lohnt, aber sowohl die Kapitalausstattung als auch Kappung der Boni, vergleichbare Ansätze, oder die Turbinsteuer, die diskutiert wird – das sind alles nur zusätzliche Hilfsmittel. Der Mensch sollte im Mittelpunkt des Bankwesens stehen, sowohl als Banker als auch als Kunde.

Schwarz: Der Finanzwissenschaftler Sven Remer über die Ausbildung von Managern und die Lehren aus der Weltfinanzkrise ein Jahr nach der Pleite von Lehman Brothers. Herr Remer, vielen Dank für das Gespräch!

Remer: Herzlichen Dank! Tschüss!