„Capernaum“ von Nadine Labaki

Oscar-Chancen für libanesische Regisseurin

06:27 Minuten
Das Bild zeigt die  libanesische Regisseurin Nadine Labaki.
Die libanesische Regisseurin Nadine Labaki. © imago/ZUMA Press
Von Cornelia Wegerhoff · 23.02.2019
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Für ihre Geschichte über Straßenkinder im Libanon erhielt die Regisseurin Nadine Labaki in Cannes 15 Minuten Standing Ovations. Nun geht ihr Film „Capernaum“ für den Oscar als bester ausländischer Film ins Rennen.
"Ich bin im Krieg aufgewachsen, im Libanon", sagt die Filmemacherin Nadine Labaki. "Wir verbrachten als Kinder eine Menge Zeit in Schutzräumen und hinter Sandsäcken. Fernsehen und Film haben es mir damals möglich gemacht, vor der Trostlosigkeit und der Langeweile meiner eigenen Realität zu fliehen."
Inzwischen bringt Nadine Labaki die Realität schonungslos auf die Leinwand. Vier Jahre lang recherchierte die Regisseurin in den Elendsvierteln ihrer Heimatstadt Beirut, sprach dort mit unzähligen Straßenkindern. Viele von ihnen stammen aus Syrien.

Wut auf die Ungerechtigkeit

"Es fing mit dieser Wut an, dem Frust über diese Ungerechtigkeit, die man Kindern antut. Die haben nicht danach gefragt, da zu leben", sagt die 45-Jährige. "Sie zahlen einen hohen Preis für unsere Konflikte, unsere Kriege, für dumme Entscheidungen und dumme Regierungen."
"Capernaum – Stadt der Hoffnung" zeigt in berührenden Bildern das Elend dieser Kinder. Der deutsche Editor Konstantin Bock hat das Drama aus über 500 Stunden Rohmaterial geschnitten.
"Kafr Nahuum", wie es im Original heißt, war der biblischen Überlieferung nach der Wirkungsort Jesu, ist aber im Arabischen wie im Französischen der Begriff für "Chaos". Und in dieses Chaos stürzt im Film die Hauptfigur Zain, vermutlich zwölf. Er kennt sein Alter nicht mal.
Im Film steht der Junge in Beirut vor einem Richter. Dieser sagt: Zain El Hath… Nehmen Sie ihm die Handschellen ab. Weißt Du, warum Du hier bist? Zain entgegnet: Ja klar. Ich will meine Eltern verklagen! Sie haben mich auf die Welt gebracht.

Standing Ovations in Cannes

Bei der Filmpremiere von "Capernaum" gab es in Cannes 15 Minuten Standing Ovations und den Preis der Jury. Jetzt ist Nadine Labaki mit dieser Arbeit die erste arabische Frau, die für den Oscar nominiert wurde.
"Erst mal muss ich dazu sagen, dass strukturell gesehen auf der ganzen Welt ein verschwindend kleiner Anteil von weiblichen Regisseurinnen es in den Mainstream schafft", sagt Maxa Zoller, Leiterin des Internationalen Frauenfilmfestivals Dortmund/Köln.
"Das heißt, weibliche Filmschaffende. Regisseurinnen sind allgemein die Ausnahme. Und was die Frauen, die Filmregisseurinnen in der arabischen Welt geleistet haben, unter den Bedingungen, ist schon sehr, sehr erstaunlich."

Maxa Zoller war auch einige Jahre als Filmdozentin in Kairo tätig und kennt deshalb die wenigen Ausnahmefrauen in der Filmszene des Nahen Ostens:
Szene aus dem Film "Capernaum"
Szene aus dem Film "Capernaum"© imago/ZUMA Press/Sony Pictures Classics
"Nadine Labaki ist jemand, der sich auszeichnet durch zwei Dinge: Einmal ist sie Schauspielerin und Regisseurin. Nadine Labaki hat in ihrer Karriere auch sehr viele Musikvideos gemacht und sehr viel mit Musik gearbeitet, und das sieht man ihren Filmen an. Es gibt sehr viele Close Up-Shots. Es geht immer sehr um den Rhythmus, um den Körper, um etwas Sinnliches. Und in ihrem neuesten Film ist es eigentlich auch so, dass er wieder sehr nah gefasst ist."
Schon im zweiten Jahr in Folge ist eine Arbeit aus dem Libanon für den sogenannten "Auslands-Oscar" nominiert. Im Vorjahr war es Ziad Doueiri mit dem Film "Der Affront".

Libanon: Kleines Land, große Filmwirtschaft

Der Libanon, mit gut sechs Millionen Einwohnern ein kleines Land, besitzt eine große Filmwirtschaft, sagt Frank Albers von der Robert-Bosch-Stiftung. Er ist dort zuständig für die Förderung deutsch-arabischer Koproduktionen.
"Der Libanon ist, neben Ägypten, die führende Filmnation in der arabischen Welt, sowohl was Qualität, was aber auch Menge betrifft zum Teil. Natürlich ist die Ausbildung im Libanon sehr gut. Und wichtig ist, dass viele libanesische Filme, nicht nur von Nadine Labaki, sondern auch von anderen, immer auch über lokale Themen in Beirut und den Libanon hinaus spielten und somit auch diese Filme für ein nicht-arabisches Publikum sehr zugänglich und sehr verständlich machen."

"Sehr verdiente Nominierung"

Und zurecht sei mit Nadine Labaki nun erstmals auch eine arabische Frau für einen Oscar nominiert, sagt Albers. "Der Erfolg von Nadine Labaki und ihrem Film 'Capernaum' ist sicherlich kein Zufall und eine sehr verdiente Nominierung. Ein sehr universeller Stoff, der weltweit verstanden wird, ein Kinderthema, auch das ist was, was bei der Akademie sicherlich nicht ohne Ausschlag war."
Und Christopher Aoun, der libanesische Kameramann von "Capernaum", ergänzt: "Für Nadine war es sehr wichtig, alle Emotionen zu bekommen und auf der Leinwand darstellen zu können, so wie wir sie erlebt haben vor uns."

Beschäftigung mit der eigenen Identität

Aoun studierte an der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film. Er sagt: "Ich merke im Libanon, dass es eine Art Bewusstsein gibt, das es früher nicht gab. Und dass die Menschen anfangen, sich mit ihrer Identität zu beschäftigen. Seit meiner Jugend und bis ich auch nach Deutschland gezogen bin, hat sich niemand damit beschäftigt. Man ist nur geflohen vor dieser Auseinandersetzung."
Aber jetzt setzte man sich mit der Realität im Libanon auseinander, so Christopher Aoun. Auch er ist in Los Angeles, um Regisseurin Nadine Labaki zur Oscar-Nacht zu begleiten. "Das ist das Besondere an diesen ganzen Auszeichnungen, dass der Film um die Welt fliegt, und dass wir die Möglichkeiten bekommen haben, diesen Menschen eine Stimme zu geben, die sie sonst nicht bekommen hätten."
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