Filmfest München

"Wir gehen dem Algerienkrieg aus dem Weg"

Hauptdarsteller Viggo Mortensen und Regisseur David Oelhoffen (von links) präsentieren ihren Film "Den Menschen so fern".
Hauptdarsteller Viggo Mortensen und Regisseur David Oelhoffen (von links) präsentieren ihren Film "Den Menschen so fern". © dpa / picture alliance / Felix Hörhager
Moderation: Susanne Burg und Patrick Wellinski · 27.06.2015
In der Camus-Adaption "Den Menschen so fern" erzählt der französische Regisseur David Oelhoffen die Geschichte zweier gegensätzlicher Männer, die sich im Algerienkrieg begegnen. Das Thema sei noch heute ein Tabu in Frankreich, meint Oelhoffen.
Patrick Wellinski: Ihr Film basiert auf Albert Camus Kurzgeschichte "Der Gast". Wieso hatten Sie das Gefühl, dass diese wirklich sehr kurze Geschichte einen ganzen Spielfilm wert ist?
David Oelhoffen: Nun, zu allererst war ich von dem Text sehr beeindruckt und ergriffen. Da dachte ich noch gar nicht an das Skript oder an den Film. Diese Kurzgeschichte erlaubte mir, sehr tief in diese ferne Welt einzutauchen. Na ja, und dann begann die Arbeit am Drehbuch. Da war es klar: Ich brauche mehr Material. Und auch das kam von Camus. Seine Reportagen, seine dokumentarischen Texte, die "Algerischen Chroniken" zum Beispiel, das waren die Quellen, die ich um die Kurzgeschichte herumgruppiert habe. Erst durch dieses Material erwuchs dann das Drehbuch zu meinem Film "Den Menschen so fern" und machte ihn überhaupt möglich.
Burg: In ihrem Film geht es um Daru, einen algerischen Franzosen, einen sogenannten Pied Noir, der im Atlasgebirge einen Gefangenen an die Seite bekommt, den er in eine Stadt bringen soll, damit dieser seine gerechte Strafe erhält. Darin sind Sie sehr nahe an Camus, doch schon sehr bald beginnt sich Ihr Drehbuch sich von der Kurzgeschichte zu distanzieren. Wie haben Sie diese Erweiterung erarbeitet? Wo mussten Sie sich von der Vorlage entfernen und warum?
Die Geschichte zweier Männer im Mittelpunkt
Oelhoffen: Der wesentliche Unterschied zwischen meinem Film und Camus' Text ist die Tatsache, dass Camus sich vor allem auf Daru und sein Schicksal konzentriert. Und ich wollte die Geschichte zweier Männer erzählen, die Geschichte eines Europäers und eines Arabers. Ich wollte sehen, welche Spannung sich zwischen diesen Figuren bilden kann. Das war mein Hauptziel. Dazu musste ich zuerst dem Gefangenen einen Namen geben, eine Familie, einen erzählerischen Hintergrund. Und natürlich musste ich auch Daru etwas anders anlegen. Ich habe ihm eine komplexere Identität gegeben. Er ist kein französischer Araber, sondern ein Spanier, also anders als bei Camus. All diese Änderungen waren notwendig, damit die Figuren gleichberechtigt nebeneinander durch den Film gehen können.
Und dann noch was: Bei Camus schweigen die Männer. Camus erzeugt da so eine stille Bruderschaft. Und das wollte ich nicht. In meinem Film sollten die beiden in Kontakt treten. Miteinander reden, sich so besser verstehen lernen. Diese beiden Änderungen prägen den Film und führten natürlich auch dazu, dass mein Ende sich von Camus' unterscheidet: Ich zeige am Ende von "Den Menschen so fern", dass trotz des Dialogs und des Verständnisses kein Ausweg aus dem Konflikt existiert. Das ist ein sehr pessimistischer Blick auf die Welt und steht, ehrlich gesagt, schon im Gegensatz zu Camus' Philosophie.
Burg: Sie haben ja schon gesagt, dass Sie die Figur des Häftlings Mohamed ausarbeiten wollten. Daru versucht ja auch, Mohamed zu überzeugen, dass er flieht. Aber der Häftling will nicht. Irgendwann kommt raus, dass es auch um die Ehre der Familie geht. Das haben Sie ausgearbeitet. Wollten Sie damit auch an aktuelle Konflikte in der Welt anknüpfen, bei denen immer wieder von Ehre die Rede ist?
Oelhoffen: Um ehrlich zu sein: nein. Sehen Sie, am Anfang des Films sind die beiden Figuren völlig unterschiedlich. Mohamed ist ein Algerier, der einen Ehrenmord begangen hat, und Daru ist ein Europäer, ein Lehrer, der nun gezwungen wird, Mohamed, einen für ihn völlig Fremden, in den Tod zu führen. Und plötzlich sind sich die beiden Männer dann doch nicht mehr so unähnlich, weil sie ja beide unter dem Gesetz leiden. Mohamed unter dem Stammesrecht, das seinen Tod fordert. Es ist zwar klar, dass er gegen Gesetze verstoßen hat, doch er versucht, seine Brüder zu schützen. Und damit lehnt er sich gegen die bestehende Gesellschaftsordnung auf. Gleiches gilt für Daru, der sich gegen die Kolonialgesetze auflehnt. Und genau in diesem Widerstand sind sich die beiden Männer gleich - und das war mein Ziel.
Filmische Form eines minimalistischen Westerns
Wellinski: Obwohl Ihr Film 1954 in Algerien angesiedelt ist, haben Sie ihm die Form eines Westerns gegeben. Warum?
Oelhoffen: Wissen Sie, Albert Camus hat seine Kurzgeschichte schon 1952 verfasst, also vor dem Algerienkrieg. Sie kam durch unterschiedliche Umstände aber erst 1957 auf den Markt. Man könnte also sagen, dass Camus den ausweglosen Konflikt schon vorwegnahm. Und das machte er natürlich auch durch seine Form. Der Text ist ja angelegt als minimalistischer Western. So habe ich ihn jedenfalls gelesen. Es gibt da so klassische Genre-Elemente: Ein Gefangener muss in das nächste Dorf gebracht werden; es gibt eine isolierte Schule und alles spielt in diesen großen, übermächtigen Landschaften. All das habe ich mir ja nicht ausgedacht. Das ist ja schon in Camus Text. Und da war es für mich nur natürlich, in Westernbildern zu denken.
Ich hatte da gar keine Berührungsängste. Und ich dachte auch gar nicht an den klassischen Western, sondern an den amerikanischen New Western aus den 1960er-Jahren. Also an die Filme von Arthur Penn oder Anthony Mann, wo es ja immer um einen grimmen Blick auf die Gesellschaft geht. Diese Filme setzen sich auch mit unterschiedlichen Rechtssystemen auseinander, dem der Weißen und den der indigenen Indianerstämme. So verkaufen diese Filme nicht den Western-Mythos, sondern sie hinterfragen ihn und greifen ihn an. Das sind ja letztlich politische Filme. Und das wollte ich mit "Den Menschen so fern" auch erreichen. Ich wollte den Mythos des europäischen Universalismus hinterfragen, vor allem dessen perverseste Ausformung: den Kolonialismus. Und ich war mir sicher, dass ich das mit den Genreelementen des Westerns am besten fassen kann.
Sehen Sie, im Western bringt der Sheriff ein neues, weißes Rechtssystem in die Welt. Bei mir ist es ein Lehrer. Das ist zwar ein anderer Weg, aber unter dem gleichen Vorzeichen. Das war mein Ziel: keine Western-Kopie zu machen, sondern mit den Mitteln dieses Genres, den Kern der Geschichte transportieren.
Burg: Sie arbeiten ja mit sehr großen Kinobildern, die geprägt sind von einer mächtigen aber auch bedrohlichen Landschaft. Die Konflikte, die Sie aber beschreiben, sind die von zwei Männern, die sich gegen die Gesetze auflehnen. Das sind ja vor allem innere Konflikte. Welche Herausforderungen hatte Sie das auf die Leinwand zu bringen?
Oelhoffen: Ja, das waren vor allem zwei Herausforderungen. Mir war es wichtig, dass wir das Atlasgebirge und die Landschaften so zeigen, wie sie sind. Ich wollte vor allem keine schönen Postkartenaufnahmen machen. Um die Schönheit ging es mir nicht. Ich wollte viel mehr vermitteln, dass diese Natur sich auch zu dem Konflikt zwischen den Menschen irgendwie verhält. Wie absurd das Ganze ist. Da wird Krieg geführt und zwei Männer sind unterwegs, um den einen zu töten – und dem gegenüber sind da diese kargen Berge, denen das alles egal ist. Diese Natur ist ewig und so viel Mächtiger als unsere nichtigen Konflikte. Das ist die Rolle, die ich der Landschaft in meinem Film zuordnen wollte.
Die andere Herausforderung war einen ethnisch-moralischen Konflikt zweier Männer in eine Kinoerzählung zu überführen. Das ist in vielerlei Hinsicht ein Gewaltakt. Aber wie zeige ich diese Gewalt? Ich wollte das nicht plump in einer Blutorgie enden lassen. Es sollte – wenn überhaupt – eine ästhetische Auseinandersetzung mit Gewalt sein. Ich bleibe deshalb immer in der Opferperspektive, also an der Seite derer, die von der Zeitgeschichte gerne als Verlierer beschrieben werden. Diese Balance in Bilder zu kleiden, war die große Schwierigkeit dieses Projekts. Ich bin ja kein Philosoph, sondern Regisseur.
Wellinski: Überhaupt funktioniert das Drama Ihres Films vielleicht ja auch deshalb so überzeugend, weil sie mit sehr starken Schauspielern arbeiten. Den amerikanischen Schauspieler Viggo Mortensen in der Rolle eines Pied Noir zu besetzen erscheint dann doch sehr ungewöhnlich. Wie kam es zu der Entscheidung?
Oelhoffen: Wie ich ja schon gesagt habe, wusste ich, dass ich an einem Western arbeite. Und schon in der Drehbuchphase dachte ich an Viggo Mortensen. Er hat ja so ein Western-Gesicht. Aber ich habe diese Rolle ihm jetzt nicht auf den Leib geschrieben. Es war eher so eine vage Vorstellung seines Gesichts, die mir beim Drehbuchschreiben half. Na, und als wir mir den Produzenten überlegten, wen wir casten könnten, habe ich ihnen das mit Viggo erzählt und die waren begeistert! Sie erzählten mir dann auch, dass er fließend Französisch spreche. Das wusste ich gar nicht. Ich wusste auch nicht, dass er zwar in Amerika geboren wurde, aber dänische Eltern hat und in zwölf Ländern aufgewachsen ist. Da war ihm die Figur des Daru auch sehr nah.
Und Viggo war dann auch sehr interessiert und hat sich unglaublich für das Projekt stark gemacht. Er hat den Film dann ja auch mitproduziert. Ähnliches gilt für Reda Kateb, der den Mohamed spielt. Ich kannte ihn von meinem Debütfilm, wo er einen Boxer spielen sollte. Doch schon damals hatte ich "Den Menschen so fern" im Hinterkopf und wollte unbedingt, dass er darin als Mohamed auftaucht.
Der Algerienkrieg - ein Tabu in Frankreich
Wellinski: Der Algerien-Krieg als Topos für Filme aber auch in der Literatur ist immer noch mit einem gewissen gesellschaftlichen Tabu belegt, vor allem in Frankreich. Haben Sie das auch so empfunden als sie an "Den Menschen so fern" gearbeitet haben?
Oelhoffen: Während der Dreharbeiten war es kein Problem. Aus Sicherheitsgründen haben wir ja nicht in Algerien, sondern in Marokko gedreht. Und während des Drehs hatten wir keine Schwierigkeiten. Aber die Probleme gab es davor und danach, denn sie haben natürlich Recht: Der Algerienkrieg bleibt ein Tabu in Frankreich. Ein großes sogar. Und deshalb ist es nicht leicht, einen Film darüber finanziert zu bekommen. Das Argument ist dann immer, dass französische Filme über den Algerienkrieg reinstes Kassengift sind. Ein finanzielles Desaster so zu sagen.
Aber das ist doch nur ein Effekt der kollektiven Verdrängung. Dieser Teil unserer Geschichte wird an französischen Schulen nicht unterrichtet. Nicht mal in den Oberstufen. Es gibt wenige Filme und wenige Bücher darüber. Wir gehen diesem Krieg aus dem Weg und ignorieren die Konsequenzen. Und die Konsequenzen sind doch offensichtlich: Es heißt zwar immer, wir hätten ein Einwanderungsproblem, eine heikle Lage in den Banlieues. Aber das ist doch Quatsch. Das sind doch keine Einwanderungsprobleme, das geht viel tiefer. Was wir da sehen, sind die Folgen unseres Kolonialismus.
Mehr zum Thema