Filmfest München

"Ich bin immer noch ein Kind"

09:31 Minuten
Jean-Pierre Jeunet
Der Regisseur Jean-Pierre Jeunet beim Filmfest München © dpa / picture alliance / Felix Hörhager
Moderation: Susanne Burg und Patrick Wellinski · 28.06.2014
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Regisseur von "Die fabelhafte Welt der Amélie", war Einzelkind, die Fantasie habe ihm sein Leben gerettet. Bis heute denkt er sich am liebsten gute Geschichten aus, will seinen jugendlichen Geist bewahren.
Patrick Wellinski: "Die Karte meiner Träume" – damit wurde das Filmfest München also eröffnet. Vorlage war der Roman des US-amerikanischen Schriftstellers Reif Larsen. Und es geht um einen zehnjährigen Jungen, T.S. Spivet, der auf einer Ranch in Montana aufwächst, mit seinen Geschwistern und seinen Eltern. Die Mutter, gespielt von Helena Bonham Carter, ist Biologin, der Vater ein schweigsamer Cowboy. Alles etwas neurotische, schräge, comichafte Figuren. Das gilt auch für T.S., der den ganzen Tag forscht, bastelt und erfindet. Für eine seiner Erfindungen wird er mit einem Preis ausgezeichnet – und reist daraufhin, ohne seinen Eltern Bescheid zu geben, mit dem Zug nach Washington D.C., um den Preis entgegenzunehmen.
(Start Audio) Wir haben Jean-Pierre Jeunet, Regisseur von Filmen wie "Die Stadt der Verlorenen Kinder" und "Die Fabelhafte Welt der Amélie" gestern im Hotel getroffen und ihn zunächst gefragt: Ein Junge, der gerne zeichnet, Dinge bastelt, erfindet, dem die Fantasie näher ist als die Realität – wie viel Jeunet steckt in der Figur von T.S. Spivet?
Jean-Pierre Jeunet: 99 Prozent. Ich bin kein Lügner – ich lüge nie, außer, wenn ich mit Journalisten spreche, natürlich. Ich bin T.S. Spivet. Ich mache meine Zeichnungen in meinem Haus in der Provence. Ich liebe das. Und manchmal, genau wie T.S. Spivet, gewinne ich einen Preis. Und ich rede mit Journalisten wie Ihnen, aber am liebsten bin ich in meinem Haus und zeichne.
Susanne Burg: Der Junge ist im ländlichen Montana – wächst er ja auf, eher als ein Außenseiter. Sein Vater, so ist T.S. Spivet überzeugt, der bevorzugt eher seinen Bruder, der auch Cowboy sein möchte, wie sein Vater. T.S. Spivet leidet darunter, er thematisiert es auch, aber häufig enden diese Szenen dann mit einer komischen Wendung. Wie wichtig war Ihnen der Humor im Film?
"Die wichtigste Qualität: Etwas Gutes herstellen"
Jeunet Humor und die Freude am Basteln, am Kreieren, das sind die einzigen Qualitäten, die ich an Menschen schätze. Und mit meiner Crew verteidigen wir diese Werte, etwas Gutes herzustellen. Als ich "Alien, die Wiedergeburt" gedreht habe, sollte der Film nicht lustig sein. Es sollte gruselig sein, mehr nicht. Ich habe trotzdem Humor hineingeschmuggelt. Ich habe Ärger von den Fans in den USA dafür bekommen, weil es nicht lustig sein sollte.
Wellinski Und trotzdem sind ja die Kindheiten, die Sie zeigen in Ihren Filmen, ja nicht immer nur fröhlich. Es ist viel Einsamkeit dabei, es ist viel Traurigkeit dabei, sowohl in "Amélie" als auch jetzt in "T.S. Spivet". Ist das der einzige Weg zu fliehen für ein Kind aus einer traurigen Kindheit – die Fantasie?
Jeunet Es ist vielleicht auch meine Geschichte. Ich hatte keine traurige Kindheit, aber ich war ein Einzelkind, und die Fantasie hat mir das Leben gerettet. Ich habe mir Geschichten mit Stofftieren ausgedacht, und jetzt mache ich damit weiter. Ich hoffe, ich kann diesen jugendlichen Geist bewahren. Das ist aber schwer, und nur wenigen gelingt das.
Burg Was interessiert Sie an solchen Kindheiten?
Jeunet Ich denke, ich bin immer noch ein Kind. Mein Name ist ja Programm, ich heiße halt Jeunet, und das heißt jung auf Französisch, und nicht alter Mann. Wenn Sie den Originaltitel des Films und des Buches nehmen, der lautet: "Der junge und außergewöhnliche T.S. Spivet" – das bin ich.
Burg Die Familie lebt ja, sagte ich schon, in Montana auf dem Land, um nach Washington D.C. zu kommen, muss T.S. Spivet einmal vom Nordwesten der USA in den Osten der USA durch solche Bundesstaaten wie Wyoming, Nebraska, Illinois – sehr, sehr große Bundesstaaten. Man sieht im Film viel Natur, man sieht auch einige Waffen, man sieht im vorbeifahrenden Zug kleine Vorgärten mit Schaukeln. Was ist das für ein Amerikabild, das Sie hier zeigen wollten?
"So wichtig, demütig gegenüber der Natur zu sein"
Jeunet Ich kenne die USA, weil meine Frau Amerikanerin ist. Deshalb habe ich eine lange Reise durch Kalifornien gemacht. Und was mich dabei besonders inspiriert hat, ist die Landschaft. Deshalb war es mir besonders wichtig, die Natur gut zu filmen. Wissen Sie, ich habe ja nie wirklich Landschaften gefilmt. Meine anderen Filme spielen eher in Städten. Und das liegt daran, dass man hier mehr inszenieren kann und ich die Geschicke lenke. Bei Landschaftsaufnahmen ist das nicht der Fall. Da hängt alles vom richtigen Ort ab, und selbst dann muss man Glück haben. Wenn Sie die Kamera falsch positionieren, dann treffen Sie nie die Schönheit der Natur. Und deshalb ist es so wichtig, demütig gegenüber der Natur zu sein – sie ist stärker als du.
Wellinski Martin Scorsese hat mit "Hugo Cabret" einen Liebesbrief eines Amerikaners an das französische Kino, an Georges Méliès gedreht. Ist Ihr Film jetzt ein Liebesbrief eines Franzosen an das amerikanische Kino, an den Western vor allem?
Jeunet Natürlich ist der Western längst auch ein Teil auch unserer Kultur. Aber ich habe mich immer eher zum Spaghetti-Western hingezogen gefühlt. Um ehrlich zu sein, die klassischen Western von John Ford zum Beispiel, die kenne ich gar nicht gut. Aber ich bin ein so großer Fan von Sergio Leone. Ich kann mich gut erinnern, als ich zum ersten Mal "Es war einmal in Amerika" sah. Es war eine Erleuchtung. Ich konnte danach für sieben Tage nicht sprechen, und meine Eltern fragten besorgt, Junge, bist du krank? Und ich sagte nur, ihr versteht das nicht. Und es ist ja heute keine Magie dabei. Sie stellen ein Pickup-Auto neben eine Windmühle mit einem Schuppen und zwei Pferden – fertig ist der Western.
Wellinski Was die Filme auch noch zusammenhält, ist 3D. Es ist zum ersten Mal, dass Sie in 3D arbeiten. Warum haben Sie diesen Film in 3D gedreht?
"Hollywood macht 3D-Kino kaputt"
Jeunet Ich bin davon überzeugt, dass alle meine Filme hätten in 3D gedreht werden können. "Amélie", "Delikatessen" oder "Alien IV". Stellen Sie sich das schleimige Monster in 3D vor. Als ich Kind war, hatte ich einen Viewmaster, dieses 3D-Spielzeug. Wenn Sie so wollen, dann habe ich meine ersten Filme in 3D bereits gemacht. Und aus der ästhetischen Perspektive liebe ich 3D. Produktionstechnisch ist es eine Qual, es dauert lang und ist sehr frustrierend.
Und ich sage Ihnen, Hollywood macht das 3D-Kino kaputt, weil sie lediglich ihre 2D-Filme in Drei-D konvertieren. Ich finde, man muss sich quälen und von Anfang an in 3D drehen, so wie wir. Alles andere ist ein Skandal. Auch beim Drehen habe ich 3D immer mitgedacht, sogar bei den Story Boards.
Wellinski Vielleicht können Sie uns ja mal mitnehmen in die Dreharbeiten. Wo mussten Sie sich umstellen, in 3D zu drehen? Was waren Schwierigkeiten, Herausforderungen?
Jeunet Ich finde, 3D funktioniert am besten, wenn man es in einem ruhigen Tempo benutzt. Wenn Sie bei mir die Landschaften sehen, können Sie sich auf alle Einzelheiten konzentrieren. Bei Actionfilmen funktioniert das nicht, die sind zu schnell. Aber die Amerikaner benutzen 3D für Actionfilme. Und dann fangen die Probleme an. Jemand läuft zu schnell durchs Bild, der Hintergrund verschwimmt, wird unscharf. Das muss man eben immer bedenken, wenn man zum Beispiel einen Regentropfen filmt oder die Reflexion der Sonne in einer Fensterscheibe. Es ist eben immer nur ein Kameraauge, das beim Zuschauer ein dreidimensionales Bild erzeugt. Das geht nicht so schnell, dafür ist unser Sehapparat ja gar nicht gebaut.
Burg Sie haben schon kurz "Alien" erwähnt. 1997 haben Sie den in den USA gedreht, den vierten Teil der Reihe, und Sie haben mal gesagt, Sie haben keine wirklich guten Erfahrungen dort gemacht. "Die Karte meiner Träume" spielt nun in den USA, ist aber eine französisch-kanadische Produktion. Gedreht haben Sie in Kanada. Wollten Sie von Produktionsseite nicht noch einmal mit US-Amerikanern zu tun haben.
"Amerikanische Agenten sind die größten Lügner"
Jeunet Zunächst einmal: Das habe ich so nie gesagt. Es war eine tolle Erfahrung, in Hollywood zu arbeiten. Und dennoch: Wenn ich in Frankreich arbeite, habe ich eben die totale Freiheit über mein Projekt. Deshalb ist "Die Karte meiner Träume" nur ein angetäuscht amerikanischer Film, ein Fake. Aber leider kommt man in dem Geschäft an den Amerikanern nicht vorbei. Auch hier mussten wir mit amerikanischen Agenten verhandeln, und das sind ja die größten Lügner auf diesem Planeten.
Wir mussten uns auch mit dem Produzenten Harvey Weinstein auseinandersetzen. Der wollte den Film natürlich wieder ändern, genauso, wie er es schon mit meinem Film "Delikatessen" vor 22 Jahren gemacht hat. Und auch bei "Amélie". Aber mit 60 lasse ich mir das nicht mehr bieten. Ich will den Film so zeigen, wie er ist. Ich will keine einzige Einstellung meines Films opfern.
Burg Sie haben einen sehr eindeutigen Stil. Gleichzeitig kann man jetzt nicht sagen, Jean-Pierre Jeunet ist ein französischer Filmemacher, eindeutig erkennbar. In Hollywood haben Sie sich auch nicht so zu Hause gefühlt. Sehen Sie sich auch, wie T.S. Spivet, ein bisschen als Außenseiter der Filmwelt.
"Fühle mich nirgendwo wirklich wohl"
Jeunet Wissen Sie, eigentlich fühle ich mich nirgendwo wirklich wohl. In der Schule war das das reinste Drama. In der Armee – darüber rede ich gar nicht erst. Auch in einem Telefonunternehmen ging es mir nicht besonders gut. Das gleiche gilt für den Animationsbetrieb und Hollywood. Nur wenn ich mit meiner Crew am Set bin, dann geht es mir gut. Wir sind dann wie eine Familie und zufrieden mit dem, was wir machen. Das ist meine Philosophie.
Burg Der Regisseur Jean-Pierre Jeunet. "Die Karte meiner Träume" heißt sein neuer Film. Er ist der Eröffnungsfilm des diesjährigen Filmfests München. Der Film läuft am Donnerstag auch in den deutschen Kinos an.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Informationen des Filmfests München zu "Die Karte meiner Träume"
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