Filmerpaar: Am schönsten waren die Drehs mit den Kindern

Barbara und Winfried Junge im Gespräch mit Britta Bürger · 25.08.2011
Das Langzeit-Projekt begann 1961 zu DDR-Zeiten. Der Dokfilmer Winfried Junge sollte in einem Ort im Oderbruch mit der Kamera festhalten, wie aus kleinen Menschen große Sozialisten werden würden. Irgendwann kam die Wende, und Junge drehte weiter. Seine Frau besorgte den Schnitt. Mittlerweile haben die beiden das komplette Filmmaterial aus Golzow dem Bundesarchiv übergeben.
Britta Bürger: Vor 50 Jahren also hat Winfried Junge zum ersten Mal seine 35-Millimeter-Kamera in Golzow aufgebaut, 1978 kam seine Frau Barbara dazu als Cutterin. Das komplette Material der 19 Filme haben die beiden mittlerweile dem Bundesarchiv übergeben, denn ihre Langzeitdokumentation gilt heute als wichtiger Beitrag zur Sozialgeschichte der DDR. Ich habe die beiden kurz vor der Sendung gefragt, ob das von Anfang an ihr Anliegen war, eine Sozialgeschichte der DDR zu schaffen.

Winfried Junge: Ja, ich wollte nur einen ersten eigenen Film machen. Ich sah nicht weiter, bewusst nicht weiter, ich wollte das erst mal geschafft haben, weil ich nach meinem Diplom als Filmdramaturg ja erst mal den Schritt in die Praxis machen musste, ob das überhaupt wird, und dann kann man darüber weiter nachdenken.

Karl Gass hatte die Vision, dass man das fortsetzen sollte. Die gingen jetzt seit 61, 14 Tage nach diesem 13. August in die Schule und werden also hoffentlich zehn Klassen gehen können und wollen. Und dann wird es vielleicht weitergehen können, wenn wir selber mal Kinder haben und zur Schule bringen, dann schließt sich ein Zyklus, und den kann man mal weiterdenken in Richtung Jahr 2000, dann wird das ja geschafft worden sein mit dem Aufbau des Sozialismus, der da Plan war, und dann hätten wir eine Dokumentation, eine ganz auf Menschen bezogene, individuelle, wie das da so gelaufen ist mit dem Leben in dieser Gesellschaft. Sie sind durch diese Gesellschaft geprägt worden und haben sie dann am Ende auch mitgeprägt.

Bürger: Die Dinge liefen dann aber eben doch anders. Welche Ausschnitte aus dem Leben der Golzower finden Sie selbst denn im Rückblick besonders wichtig und besonders interessant?

Winfried Junge: Na ja, schön war natürlich vieles, was man mit den Kindern erlebt hat. Da sind die dann natürlich noch ganz ursprünglich, später die Erwachsenen sind schon etwas reservierter und passen schon auf, dass ihr Bild stimmt, was sie da produzieren lassen. Aber wir haben wunderbare Situationen gehabt mit den Kindern, als sie elf Jahre alt waren, da ist jetzt mal ein Beispiel, die Ilona hat uns dann, als wir sie fragten, was machst du eigentlich nach der Schule, gesagt, na, da spiele ich Schule, dann bin ich die Lehrerin. Und da hat sie praktisch ihre Lehrerin kopiert. Und der Kameramann musste sich ein Taschentuch in den Mund stopfen einfach, weil er laut los gelacht hätte über den Einfallsreichtum und die Genauigkeit der Beobachtung des Kindes.

Bürger: Wie haben Sie sich zu DDR-Zeiten davor geschützt, einen Propagandafilm über – ich sage jetzt mal – das schöne Leben in der DDR zu produzieren?

Winfried Junge: Na ja, das war nicht so schwer, denn das war ja eine Chronik, und man konnte ja nur das drehen, was da war. Man konnte nicht sagen: Wir wollen da was anderes drehen. Dann hätte man es ja inszenieren müssen. Also musst du schon den Dingen ihren Lauf lassen, es war Schulalltag – das Ministerium für Volksbildung hätte sich sicher was anderes vorgestellt, mehr so Lehrfilme, wie unterrichtet man, und all das, was eben Lehrplan ist –, nein, es ging darum, sie zu erleben in ihrem Erwachsenwerden über die Jahre, und wenn man jetzt gesagt hätte, das gefällt uns nicht, was da entsteht, im Sinne von, das sind ja gar keine Jungsozialisten, wie wir uns das so vorgestellt haben, dann hätte man ja eigentlich zugegeben, dass es nicht gelungen ist, sie zu erziehen.

Bürger: Sie haben ja vorher mit dem Golzowern Verabredungen getroffen, was möglich ist und was nicht, zu drehen. Das haben wir eben auch im Beitrag gehört, da sagte der eine Mann, ins Schlafzimmer gucken lassen wollte er sich nicht. Welche anderen Lebensbereiche waren tabu?

Barbara Junge: Na, das war in den 80er-Jahren war es eigentlich klar, dass Sie politisch nichts ändern konnten. Das war wirklich Fakt. Privat konnte man alles fragen, gerade so Mitte bis Ende der 80er-Jahre. Das hat sich dann geändert in den 90er-Jahren, weil dann die Privatsphäre dann heikel wurde, man hätte sich ja mit dem Chef anlegen können, man hätte den Arbeitsplatz verlieren können, und deswegen war dann – konnte man politisch über alles reden. Das, was man in den 80er-Jahren gar nicht machen konnte, wo sie sagten: Ach, was willst du denn über Politik reden? Politisch können wir nichts verändern, also haben wir damit abgeschlossen. Und politisch konnte man dann in den 90er-Jahren wieder reden. Es war sozusagen Themenwechsel. 80er-Jahre privat ja, Politik nein, 90er-Jahre umgekehrt.

Bürger: Würden Sie von der Bewertung her sagen, die Wiedervereinigung hat ihnen Inhaltlich neue Freiräume eröffnet?

Winfried Junge: Also, das kann man wirklich sagen, muss ich sagen. Es war einfach viel mehr in Bewegung gekommen. Jetzt musste sich natürlich jeder mehr um sich selbst kümmern. Bis dahin war das ja fast eine Rolltreppe in der DDR: Kindergarten, Schule, Lehre, Arbeitsplatz. Der wurde einem noch zugewiesen. Da war man ja asozial, wenn man nicht arbeiten wollte oder keinen Platz hatte. Nein, und jetzt war es natürlich eine ziemliche Umorientierung. Die Betriebe existierten zum Teil gar nicht mehr. Die sind ja nicht alle in Golzow geblieben, sondern sind in die Städte gegangen, das war ja möglich.

Aber nun war das Halbleiterwerk zuende - nur als Beispiel - in Frankfurt/Oder und anderes mehr, und da ist dann die Frage, schaffe ich es noch mal, mit meinem gelernten Beruf weiterzukommen, oder fahre ich Taxi oder mache ich irgendwas anderes? Und das waren Dinge mit großen Konflikten natürlich, und man hat darüber gesprochen miteinander, und wir haben es dokumentiert, was dann geworden ist. Also, da war schon ein Aufbruch da im Guten wie im Bösen.

Bürger: Sie hatten ja ein sehr enges Verhältnis zu den Golzowern über die Jahre entwickelt – fast familiär wahrscheinlich zum Teil. Freundschaften sind entstanden, aber sicher auch Konflikte. Was war im Rückblick der größte Konflikt, Frau Junge, den Sie mit Golzowern austragen mussten?

Barbara Junge: Na ja, dass uns einige der Golzower dann eben auch die Freundschaft gekündigt hatten. Sagen wir mal so, Ilona hat 83 gesagt, sie will nicht mehr bis zur Bahre mit der Kamera gefilmt werden. Ich meine, das ist etwas, was man akzeptieren muss, bitte schön. Man kann keinen vor die Kamera zwingen. Der andere Konflikt war eben der Mann von Marie-Luise, der in der Regierungsstaffel war und dann von der Staatssicherheit – ihm wurde untersagt, dass er sich weiter filmen lässt. Ihm wurde ganz knallhart gesagt: Entweder du lässt dich weiter filmen, dann bist du aus der Regierungsstaffel raus, du wirst versetzt, oder du verzichtest auf die Filmarbeit.

Bürger: Vor 50 Jahren hat Winfried Junge mit dem Dreh seiner Langzeitdokumentation "Die Kinder von Golzow" begonnen. Später kam seine Frau Barbara Junge dazu als Cutterin. Und heute schauen wir mit beiden darauf zurück hier im Deutschlandradio Kultur. Klare Arbeitsteilung also, der Mann am Set, die Frau im Schneideraum. Was schätzen Sie, Herr Junge, besonders an der Cutterin Barbara Junge?

Winfried Junge: Ja, na ja, sie hat ja fortgesetzt, was eine Schnittmeisterin gemacht hat, die 18 Jahre mit mir zusammen war, Charlotte Beck. Und das war ja für sie erst mal nicht einfach. Sie ist ja auch Hochschulabsolventin, aber nicht gerade in diesem Metier, und da meine ich, war es schon mal ein Lernprozess. Aber ich meine, wir haben unsere Dinge bewältigt!

Es ist lernbar, und sie hat aus diesem Material das Beste gemacht, einfach, weil sie immer Übersicht gehabt hat, weil sie Ideen hatte, wie man das komprimiert, weil sie erkannt hat, wie man das dramaturgisch auch erst mal klären muss, was man machen will, und mein Metier war ja dann – also, nachdem wir gemeinsam recherchiert haben und das vorbereitet haben, war es ja dann das Drehen, und vor allem all die Arbeit mit dem Kameramann ist es dann. Und dann wieder das Schneiden, oder besser: Das Konzipieren eines Schnitts, sagen wir es mal so, und vor allem der Kommentar. Der Kommentar ist was ganz Wichtiges, was am Ende dazukommt. Und da muss man sich schon die Worte überlegen, und es muss stimmen zum Bild, und da gab es dann auch mal Auseinandersetzungen, weil sie eine ist, die natürlich dem Bild das beigibt, und wenn da drüber was noch gesagt wird, dann ist das schon mal ein Diskussionsgegenstand.

Barbara Junge: Die Streitlust hat er ganz bestimmt nicht so sehr an mir geschätzt!

Bürger: Erinnern Sie sich an einen konkreten heftigen?

Barbara Junge: Nein, also über den Kommentar haben wir ständig gestritten, und das, weil ich immer der Meinung war, ist zu üppig, und es musste etwas reduziert werden. Aber ich denke, die Gewaltenteilung beziehungsweise die Trennung der Arbeit war schon ganz wichtig. Wenn ich nicht ab Set dabei bin, dann kann ich das sehen, unbefangen sehen, objektiv, objektiver sehen, als wenn man die Drehumstände kennt und dann es unter Umständen auch denkt: Na das, so ist es entstanden.

Bürger: Vor 50 Jahren haben die Dreharbeiten zu der Langzeitdokumentation "die Kinder von Golzow" begonnen und ich danke Winfried und Barbara Junge sehr für den Besuch bei uns im Studio.

Winfried Junge: Wir danken auch!

Bürger: Und morgen stehen die Beiden und ihre Filme dann im Mittelpunkt eines großen Film- und Diskussionsprogramms im Filmmuseum Potsdam. Am 3. September wird das Jubiläum im Golzow gefeiert.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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