Film von 1968: "Das Wunder der Liebe"

Als Sex noch Verheißung war

Foto einer Szene aus dem Film "Das Wunder der Liebe" (2. Teil) von Oswalt Kolle
Foto einer Szene aus dem zweiten Teil der Reihe "Das Wunder Liebe". Insgesamt umfasste die Reihe acht Filme. © imago stock&people
Von Christian Berndt · 28.01.2018
Der Kinofilm "Das Wunder der Liebe" war 1968 eine Revolution. Die Theoretiker der Studentenbewegung reagierten verächtlich darauf. Dabei hat der Autor des Films, Oswalt Kolle, in Sachen Sexualität viel in Bewegung gebracht.
"Ich halte Sexualität überhaupt nicht für ein Laster."

"Sehr richtig. Sexualität ist eine besondere Quelle von Freude und Lust für den Menschen. Sie dient weiter dem Spannungsausgleich und ist damit psychohygienisch sogar notwendig."
So Prof. Hochheimer. "Das Wunder der Liebe" beginnt wie Werner Höfers "Internationaler Frühschoppen". Der Autor des Films, Oswalt Kolle, diskutiert mit zwei rauchenden, älteren Herren über die Notwendigkeit der sexuellen Aufklärung. Die Anfangsszene strahlt Seriosität aus, der Untertitel "Sexualität in der Ehe" macht klar, dass es keinesfalls um freie Liebe geht, und die Sexszenen sind diskret. Trotzdem revolutionierte "Das Wunder der Liebe" 1968 die Vorstellung davon, was im Kino als zulässig galt. Etwa, wenn ein nacktes Ehepaar im Bett über seine Orgasmus-Probleme spricht:
"Ich konnte mich eben nicht mehr beherrschen, du hast mich zu wild gemacht."

"Ich habe gelesen, dass Frauen länger brauchen und dass Männer lernen können, sich zu beherrschen."

Kolles Aufklärung als "systemstabilisierend" kritisiert

In den 60er-Jahren hat Oswalt Kolle mit Zeitschriftenserien zur Aufklärung das öffentliche Reden über Sexualität entscheidend vorangetrieben. Aber ausgelöst hat er die Sexwelle nicht. Das Sexualverhalten hatte sich schon mit der in den Fünfzigerjahren entstehenden Konsumgesellschaft revolutioniert – lange vor der 68er-Revolte. In der Studentenbewegung war Kolle verhasst, denn seine Aufklärung, die sich an Ehepaare mit traditionellen Rollenverteilungen richtete - galt als systemstabilisierend. Die Vordenker der Studentenbewegung – die Philosophen der Frankfurter Schule – sahen die sexuelle Liberalisierung ihrer Zeit kritisch. Adorno meinte, sexuelle Freiheit könne nicht ohne gesellschaftliche Befreiung gedacht werden, und Herbert Marcuse erklärte 1964:
"Durch die Erweiterung dessen, was erlaubt ist, wird Sexualität gesellschaftsfähig gemacht. Sexualität wird zum Element der Karriere, wird systematisch benutzt und belohnt in der Werbeindustrie und den gesellschaftlichen Bedürfnissen angepasst."
Die Liberalisierung ziele auf die Integration des Individuums in den Kapitalismus. Dagegen müsse die Sexualität von der, wie Marcuse es nannte, repressiven Sublimierung gelöst werden – nur dann entfalte sie eine gesellschaftlich befreiende Kraft. Neben Marcuse war Wilhelm Reich der zweite Säulenheilige der Studentenbewegung. Der Sexualforscher hatte schon in den Dreißigerjahren den Begriff "sexuelle Revolution" geprägt. Er ging davon aus, dass Triebunterdrückung zu Gewalt und Faschismus führe, eine befreite Sexualität dagegen friedfertig mache – das fiel bei den Studenten auf fruchtbaren Boden. Aber diese fast religiöse Überhöhung des Sex' stieß auf Kritik in der Frauenbewegung, die eine Hinterfragung der Geschlechterhierarchien vermisste.
In Hinsicht auf die Machtstrukturen wurde in den Achtzigerjahren Michel Foucault zum Gewährsmann. Foucault sah anders als Reich nicht in einer Unterdrückung der Sexualität das Problem, sondern in ihrer engen Verbindung zur Macht. Die zeige sich im System der christlichen Beichte besonders deutlich:
"Spätestens seit dem Mittelalter haben die abendländischen Gesellschaften das Geständnis unter die Hauptrituale eingereiht. Man gesteht – oder man wird zum Geständnis gezwungen. Im Abendland ist der Mensch ein Geständnistier geworden."

Mediale Hyper-Inszenierung von Sex hat Begehren zerstört

Seit dem Mittelalter sei der abendländische Mensch zum Reden über Sex genötigt worden. In der Neuzeit, als der Staat die Bevölkerung als Ressource entdeckt, sei aus der Sex-Beichte das Kontrollinstrument einer – wie Foucault sagt – Biopolitik geworden: Geburten werden gesteuert, das Individuum auf ein nützliches Begehren verpflichtet und Sex als Weg zur Selbsterkenntnis verklärt. Vermarktet und gesteuert hat die Sexualität als Quelle des utopischen Denkens inzwischen ausgedient. Die mediale Hyper-Inszenierung von Sex, so der Sexualforscher Volkmar Sigusch, habe das Begehren wirksamer zerstört als alle Verbote:
"Man muss dazu generell sagen, dass heutzutage die Sexualität nicht mehr die Metapher des Glücks und des großen Rausches ist, und der Ekstase, sondern ziemlich banalisiert worden ist in den letzten Jahrzehnten."
Als Ausweg entdecken Philosophen den sadomasochistischen Sex. Slavoj Žižek empfiehlt angesichts der sexuellen Möglichkeitsüberflutung den Fetisch, um die unterschiedlichen Fantasien der Sexpartner zusammenzubringen – sonst bleibe Sex Masturbation zu zweit. Und Foucault sah im SM-Sex eine schöpferische Erotik, die sich dem Zugriff der Macht entziehe, indem sie zum Kunstwerk werde. So sah auch Oswalt Kolle den Sex – in einer Zeit, als er noch Verheißung war:
"Wie jede andere Kunst ist auch die Kunst der Liebe produktiv und positiv. Nur wenige Menschen werden als vollkommene Künstler geboren. Die meisten müssen lernen und üben, um ihre Kunst zu beherrschen."
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