Film über russischen Aktionskünstler Pawlenski

"Unglaublich ausdrucksstarke Protestkunst"

Der russische Aktionskünstler Pjotr Pawlenski sitzt bei der Aktion "Fixierung" nackt auf dem Roten Platz, wo er seinen Hodensack festgenagelt hat. Im Hintergrund die Kremlmauer, die Basilius-Kathedrale, ein Polizist und Touristen.
Der russische Aktionskünstler Pjotr Pawlenski bei der Aktion "Fixierung" auf dem Roten Platz. © Lichtfilm/SWR
Irene Langemann im Gespräch mit Nicole Dittmer und Julius Stucke · 14.03.2017
Den Hodensack auf den Roten Platz in Moskau genagelt oder die Tür des russischen Geheimdienstes angezündet: Kunstaktionen wie diese machten den Russen Pjotr Pawlenski bekannt. In ihrem Dokumentarfilm "Pawlenski - Der Mensch und die Macht" will die Regisseurin Irene Langemann Pawlenskis Ziele zeigen.
Julius Stucke: Ist es noch eine künstlerische Ausdrucksform, ist es noch politische Aktionskunst, oder ist es schon krankhaft? Ich denke, man kann diese Frage durchaus stellen bei einem Mann, der seinen Hoden auf den roten Platz tackert, der sich in der Öffentlichkeit ein Ohrläppchen abschneidet oder sich nackt in Stacheldraht hüllt. Die Rede ist von Pjotr Pawlenski, russischer Künstler.
Nicole Dittmer: Vielleicht ist es ja auch beides. Auf jeden Fall ist es seine Ausdrucksform, um gegen die russische Staatsmacht zu protestieren, und darüber gibt es jetzt einen Dokumentarfilm, ab Donnerstag im Kino. "Pawlenski. Der Mensch und die Macht" heißt er, die Regisseurin ist Irene Langemann. Schönen guten Tag!
Irene Langemann: Schönen guten Tag!
Dittmer: Wie beantworten Sie diese Frage? Kunst oder doch ein bisschen krankhaft, oder beides?
Langemann: Ich sehe es als eine unglaublich starke, bildstarke, bildmächtige Protestkunst, die Pjotr Pawlenski entwickelt hat, indem er die Figur des Schweigens, die Figur des Opfers entwickelt hat. Indem er sich den Mund zunäht, zum Beispiel, das ist seine allererste Aktion, um gegen die Verhaftung von Pussy Riot zu protestieren. Er will damit sagen, dass die Masse schweigt. Die Masse ist zum Schweigen gebracht worden durch den Staat. Und er versucht, durch diese drastische, radikale Aktion, die Menschen auf sich aufmerksam zu machen. Seine Symbole sind sehr metaphorisch. Sie sind sehr ausdrucksstark. Er versucht mit seinen Aktionen, das Machtgefüge zu verändern, indem er die Vertreter der Staatsmacht in seine Aktionen mit einbezieht und sie dadurch zu handelnden Personen macht. Denn sie setzen ja seine Aktion fort. Sie verhaften ihn, und zum Beispiel bei der ersten Aktion mit dem zugenähten Mund: Sie können ihn nicht verhören. Also muss ein Arzt bestellt, gerufen werden.
Der russische Aktionskünstler Pjotr Pawlenski protestiert mit zugenähtem Mund im Juli 2012 vor der St. Petersburger Kazan Kathedrale gegen die Verhaftung von Pussy Riot.
Der russische Aktionskünstler Pjotr Pawlenski protestiert mit zugenähtem Mund im Juli 2012 vor der St. Petersburger Kazan Kathedrale gegen die Verhaftung von Pussy Riot.© Imago/Eastnews
Und so geht es weiter. Oder zum Beispiel in der Aktion auf dem Roten Platz, wo er sich den Hodensack festnagelt. Da stehen ratlose Polizisten um ihn herum - das sieht man in einem Video - und wissen nicht, was sie mit ihm machen sollen. Sie können ihn nicht verhaften, weil er festgenagelt ist. Und diese Metaphern zu finden, diese Symbolik zu finden, das ist für mich Kunst.
Stucke: Ist das auch der Reiz, den es ausgemacht hat für Sie, darüber einen Dokumentarfilm zu machen, die Stärke dieser metaphorischen Bilder?
Langemann: Genau. Das Primäre war das Visuelle, das hat mich sehr beeindruckt. Ich habe seine Aktionen sehr aufmerksam verfolgt in den Medien. Das war das eine, und als ich ihn dann kontaktiert habe - das war im August 2015 -, und in unserem Skype-Gespräch kamen wir dann auf die Kernaussage seiner Kunst und eigentlich auch das, was mich besonders interessiert, nämlich das Verhältnis zwischen der Staatsmacht und dem Individuum zu reflektieren. Und da haben wir uns sehr gut verstanden, und dadurch ist auch sofort eine unglaublich offene und kollegiale Zusammenarbeit entstanden.
Dittmer: Als Sie angefangen haben, Ihr Material zu sammeln, war er ja noch in Freiheit, wurde dann aber verhaftet, nachdem er die Tür des Geheimdienstes angezündet hat. Wie schwer war es damals, zu drehen, Material zu sammeln, Kontakt zu ihm zu halten?
Langemann: Es war ja so, dass ich eigentlich nur drei Drehtage mit ihm hatte in Freiheit, das war im September 2015. Dann ist er ja im November verhaftet worden nach seiner fast selbstmörderischen Aktion, als er die Tür des russischen Geheimdienstes angezündet hat. Das war die größte Herausforderung überhaupt, diesen Film zu machen: Wie macht man einen Film, wie setzt man das visuell um, wenn die Person nicht erreichbar ist, wenn man bei den Gerichtsverhandlungen nur die ersten drei Minuten, bevor es überhaupt los ging mit der Verhandlung, drehen durfte. So habe ich versucht, verschiedene Wege zu finden, und zwar, ich bin mit ihm über eine Menschenrechtsorganisation in einen Briefwechsel getreten. Wir haben – man durfte nicht drehen, aber man konnte zum Beispiel die Verhandlungen, konnte den Ton aufnehmen, sodass wir dann viele Textprotokolle hatten; sowohl von unseren eigenen Dreharbeiten als auch von den Textprotokollen, von den heimlichen Aufnahmen, die er während des Petersburger Prozesses gemacht hat. Dies war der Weg eigentlich, den Film machen zu können. Es gab die realistische Ebene, die Zeitebene, seine Verhaftung, das waren sieben Monate. Und parallel habe ich dann versucht, alle Textprotokolle, die ich hatte, in der Form des Schattentheaters mit Schauspielern umzusetzen.
Stucke: Aber Sie haben ihn auch persönlich getroffen?
Langemann: Persönlich getroffen habe ich ihn nur im Gerichtssaal. Also die drei Minuten, die erlaubt waren zu drehen, in denen er im Käfig saß oder in so einer Glasbox. Und es war ja so, dass dann immer 20, 30 waren es am Anfang, später waren es 50, 60 Teams oder andere Kollegen, reingestürmt sind in diesen Saal, und alle mussten ihre Fragen loswerden. Das waren die einzigen Momente, Minuten, wo ich mit ihm kommunizieren konnte, ja.
Stucke: Haben Sie trotzdem das Gefühl, ihn durch all das Material, was Sie gesichtet haben, auch sein Material, durch Briefwechsel, dass Sie trotzdem so eine Art persönliche Beziehung aufgebaut haben, ihn besser kennengelernt haben?
Langemann: Ja, das auf jeden Fall. Ich finde schon, dass wir sowohl am Anfang unserer Dreharbeiten als auch vor allem durch den Briefwechsel – das war ja nicht nur das, was jetzt im Film ist. Es sind ja mehrere Briefe und Aussagen von ihm, und der Austausch, der war da, und das hat natürlich diese Nähe, die man braucht, um einen Protagonisten - vor allem die Hauptfigur im Film - sichtbar und klar zu machen. Das war da, ja.
Der russische Aktionskünstler Pjotr Pawlenski am 08.06.206, dem Tag der Urteilsverkündung im Prozess um das Anzünden der Tür der Geheimdienstzenrale Lubjanka in Moskau im November 2015.
Der russische Aktionskünstler Pjotr Pawlenski am 08.06.206, dem Tag der Urteilsverkündung im Prozess um das Anzünden der Tür der Geheimdienstzentrale Lubjanka in Moskau.© imago/ITAR-TASS
Dittmer: "Der Mensch und die Macht" – wie fällt Ihr Resümee aus? Hat der Mensch etwas gegen die Macht erreicht?
Langemann: Ja, in jedem Fall hat der Mensch Pawlenski sehr viel Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, möglicherweise mehr im Westen als in Russland. Die russischen Medien haben nicht viel über ihn berichtet. Wenn überhaupt, dann die oppositionellen Medien oder die verschiedenen Netzwerke. Aber auf jeden Fall, er hat ja auch Bücher herausgegeben und er ist in die Öffentlichkeit gekommen. Natürlich ist es immer noch so, dass vor allem in Russland – ich würde ja sagen, 90 Prozent der Bevölkerung, also die Menschen, die ihn kennen, ihn für verrückt halten. Ich glaube, die Bevölkerung ist noch nicht reif genug für diese Art von Protestkunst, oder hat auch Angst vor dieser Art von Protestkunst. Und natürlich, die Entwicklung, die jetzt stattgefunden hat, ist leider gegen Pawlenski. Er musste ja Russland verlassen. Er hat jetzt Asyl in Frankreich beantragt, und wie er mir bei unserem letzten Treffen in Paris im Januar gesagt hat: Die Staatsmacht hatte jetzt das letzte Wort gesagt, sie hat ihn verdrängt. Sie wollte ihn loswerden und er musste fliehen. Aber er glaubt, dass er in Zukunft noch ein Wörtchen mitreden wird.
Stucke: Die Regisseurin Irene Langemann. Am Donnerstag kommt ihr Film "Pawlenski. Der Mensch und die Macht" ins Kino. Danke Ihnen für das Gespräch!
Langemann: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Mehr Informationen zum Dokumentarfilm "Pawlenski - Der Mensch und die Macht" auf der Homepage des Verleihs