Film "Out 1" von Jacques Rivette

Theater anno 1970

Der französische Filmregisseur Jacques Rivette beim Festival von Venedig 2009
Der französische Filmregisseur Jacques Rivette beim Festival von Venedig 2009 © dpa / picture alliance / epa ansa Merola
Von Laf Überland · 08.07.2016
Es war das größte und radikalste Projekt des verstorbenen Regisseurs und Nouvelle-Vague-Begründers Jacques Rivette: "OUT1 Noli me tangere". Der zwölfstündige Film verhandelt die großen Fragen des Lebens und dokumentiert die Arbeit der Theatermenschen nach '68.
Zwei junge Theatergruppen proben Stücke von Aischylos in Jacques Rivettes "OUT1": die eine streng nach den aufrüttelnden Vorgaben des Living Theatre, die andere jeweils nach Yoga-Übungen zum Einstieg etwas mehr aus dem Bauch raus.
"Der erste Schrei ist nicht gut, ihr müsst länger warten"... Zwanzig Minuten lang kann man der esoterisch-bekifften Truppe von Lilli beim Schreien üben zuschauen, während in kurzen Einstellungen die beiden äußeren Handlungsstränge vorgestellt werden: den der jungen Betrügerin, die durch die Kneipen zieht und zufälligen Opfern Geld abzockt, und den von Jean-Pierre Léaud als Colin, der in den Cafés den Taubstummen mimt und den anständigen Bürgern selbstfabrizierte Schicksalsbotschaften verkauft und zur Belohnung auf der Mundharmonika kreischt.

Versuche, mit dem Leben klarzukommen

"Spiel, in jedem Sinne des Wortes, war die einzige Idee hinter OUT 1", sagte Jacques Rivette über diesen Film, "das Spiel der Akteure, das Spiel zwischen den Charakteren, spielen wie Kinder spielen, und ein soziales Spiel, so wie Gruppen bei einer Zusammenkunft interagieren..."

Und so sieht der Zuschauer in der zwölfstündigen Langfassung von "OUT1 Noli me tangere" jungen Menschen zu, wie sie trinken, reden, flirten, ans Meer fahren und versuchen, mit ihren Leben klarzukommen – und immer wieder, in ewig langen Szenen, wie sie experimentelles Theater proben und analysieren, wie es damals aufkam, um den trägen Bourgeouis aus seiner dickbäuchigen Lethargie herauszureißen.
Alles wird mit tiefem Ernst gespielt, der meistens urkomisch ist, aber darin war Rivette ein Meister: die anstrengendsten Nicht-Handlungen zu Erlebnissen voller Leichtigkeit zu machen.

Eine ergötzliche Tortur

Natürlich muss man sich – es geht nicht anders! – vollständig einlassen auf dieses, von gelegentlichen abrupten Wendungen irritierte, Delirium der inhaltlichen Ebenen: Es geht um die Frage der Verschwörung bei Balzac, um Literaturwissenschaft und Realität; um Psychologie der politischen Aktion und Kollektiv und Einsamkeit; es geht um Fremdgehen und um Rache; um Betrug und Täuschung, Liebe und Selbstmord; Croissants und Objekte im Raum, um Reisen und die Geometrie des Zufalls bis hin zu einer Schießerei...
Und es ist durchaus eine Tortur, aber eine ergötzliche, der Regisseur verglich es mit dem japanischen Noh-Theater, dessen Aufführungen auch zwölf bis 15 Stunden dauern können. "O ja, die Leute schlafen zwischendurch, gehen essen und kommen wieder. Ganz wunderbar!" fand Rivette.
Gedreht wurde dieses monströse Werk OUT1 tatsächlich ohne Drehbuch: Rivette redete mit den Schauspielern darüber, welche Rollen sie für sich erfunden hatten und was sie gerne tun würden, daraus wurde ein halbwegs sinnvoller Drehplan verfasst, und sechs Wochen lang improvisierten Nouvelle-Vague-Stars wie Juliet Berto, Bernadette Lafont, Jean-Pierre Léaud, Michael Lonsdale and Bulle Ogier dann munter drauflos. "Es war sehr lustig", meinte Rivette später mal.

Ein Film über die Zeit, in der alles neu sein sollte

Während des Drehs ergaben sich neue Konstellationen zwischen den Figuren und Verschwörungstheorien, und die Bilder fingen Unmengen für sich spechender Nebensächlichkeiten ein und witzige Inszenierungsideen und allerhand Nebenpersonal – verlassene Liebhaber, ungehaltene Vermieterinnen oder merkwürdige Spinner, die als Gesten-genaue Kopien von Marlon Brando oder Belmondo rumlaufen...
Und so abstrus das alles klingt, ist Noli Me Tangere eigentlich ein ethnologischer Film: intellektuell und nebulös zugleich, wie jene Zeit, in der alles neu sein sollte – oder wie Rivette "OUT1" festmachte:
"1970 – zwei Jahre nach 68. Da sind wir und warten ab."
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