Mutter-Sohn-Drama "Lara"

"Ich habe als Filmemacher die Sehnsucht nach Purismus"

13:00 Minuten
Der Regisseur Jan-Ole Gerster steht vor einem Plakat mit der Aufschrift "Lara". Er trägt einen dunklen Mantel und ein weißes T-Shirt.
Von Anfang an vom Drehbuch begeistert: Jan-Ole Gerster, Regisseur des Films "Lara", am 29. Oktober in Berlin. © Picture Alliance / dpa / Schröwig News & Images
Moderation: Patrick Wellinski · 02.11.2019
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Eine Mutter, ihr Sohn und ein Klavier spielen die Hauptrollen in dem Film "Lara". Die Mutter projiziert ihre verbissenen Lebensziele in der Musik auf den Sohn, woran deren Beziehung zerbricht. Ein Gespräch mit dem Regisseur Jan-Ole Gerster.
Patrick Wellinski: Die pensionierte Beamtin Lara wird 60 Jahre alt. Genau an ihrem Geburtstag gibt ihr Sohn, der Pianist Viktor, ein Konzert – aber Lara ist nicht eingeladen. Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn ist seit Jahren angespannt. Kurzerhand kauft Lara eine Handvoll Restkarten und verteilt sie an alte Bekannte.
Enttäuschte Erwartungen, gescheiterte Ambitionen und vor allem Kontrollwahn prägen Laras Leben. Einen Tag lang folgen wir dieser Frau, die recht rücksichtslos anderen ihren Rhythmus vorgibt und aufdrängt.
Nächste Woche kommt der großartige Film "Lara" von Jan-Ole Gerster in unsere Kinos. Die erste Frage liegt bei so einer verbissenen Hauptfigur auf der Hand. Würden Sie sich als ambitionsgetriebenen Regisseur bezeichnen?
Jan-Ole Gerster: Wenn ich ganz ehrlich bin ja. Ich weiß nicht, ob mir das immer so gelingt, aber ich habe hohe Ansprüche, um direkt eine Brücke zu schlagen zu unserer Hauptdarstellerin Lara, die auch an diesen Ansprüchen scheitert und ins Straucheln gerät - zumindest damals, als es darum ging zu entscheiden, ob sie den Weg geht oder nicht.
Das war auch ein Anknüpfungspunkt für mich, dass ich doch viel mit diesem Thema anfangen konnte und mich interessiert hat, wie diese Frau damit umgeht, dass sie sich anders entschieden hat.

Faszinierende Geschichte aus der Schublade

Wellinski: Das ist eine Geschichte, die Sie nicht genuin selbst entwickelt haben, Sie haben sie in einem Drehbuch eines slowenischen Autors, Blaž Kutin, gefunden. Was hat Sie an dieser Geschichte fasziniert, die bei ihm im Schubfach lag und jahrelang vergessen war?
Gerster: Ja, Blaž hat das Drehbuch tatsächlich vor langer Zeit begonnen, dann auch ein paar Jahre daran rumentwickelt. Es wollte niemand machen, was sich mir nicht so richtig erschlossen hat, weil ich gleich den Eindruck hatte, dass ich da einen Treffer gelandet hatte. So oft hat man das nicht, dass man ein Drehbuch liest, von dem man glaubt, das hätte ich gern selbst geschrieben. Man merkt so richtig, wie sich eine Anspannung löst – ein bisschen, wie man sich einen Lottogewinn vorstellt.
Was es dann war, was mich so richtig bewegt und auch betroffen hat, das musste ich dann beim zweiten, dritten Lesen auch ergründen. Ich glaube, es hat ganz viel damit zu tun, dass ich oft um die Frage kreise, ob ich wirklich das Leben lebe, was ich gerne leben würde. Ich tue es, aber man kommt immer mal wieder ins Zweifeln und ins Grübeln und stellt die Dinge infrage, die man so fieberhaft betreibt, denen man so intensiv nachgeht und so viel Lebenszeit widmet.
Die Geschichte von Lara erzählt das auf eine so herrlich beiläufige Weise. Es spielt wieder an einem Tag, erzählt aber eine ganz große Geschichte in Form einer ganz kleinen Geschichte. Das ist etwas, worauf ich immer ganz stark reagiere. Darüber hinaus interessieren mich Menschen mit ausgeprägten Leidenschaften und dementsprechend tragisch finde ich es auch, wenn man diese Leidenschaften nicht ausleben kann, das ist ein bisschen wie eine unerwiderte Liebe.
Wellinski: Sie sagen, der Film spielt an einem Tag. Es ist nicht irgendein Tag, es ist Laras 60. Geburtstag. Wir lernen sie an diesem Tag kennen, eine Frau, die am Fenster steht, es aufmacht, es sich dann aber doch kurzfristig anders überlegen muss, weil es an der Tür klingelt – sie möchte nämlich springen. Wie würden Sie denn den Zustand dieser Figur ganz am Beginn des Films beschreiben?
Gerster: Es gibt im Laufe der Geschichte immer wieder Indizien dafür, dass das alles eine gewisse Vorgeschichte hat, dass es nicht so wirklich gut um die Figur bestellt ist. Sie ist sehr früh im Ruhestand, ihr Sohn scheint ausgezogen zu sein, meldet sich seit geraumer Zeit nicht mehr. Sie hat Grund zur Annahme, dass dieses Konzert zu ihren Ehren gespielt wird, weil es kann gar kein Zufall sein, dass es an ihrem 60. Geburtstag stattfindet. Aber niemand meldet sich bei ihr, er geht auch nicht ans Telefon, wenn sie anruft. Da erhärtet sich, glaube ich, in ihr ein Verdacht, dem geht sie nach – und versucht, den ganzen Tag noch irgendwie die Kontrolle über ihr Leben, aber auch die Beziehung zu ihrem Kind aufrechtzuerhalten. Und die Dinge entgleiten ihr mehr und mehr.

Ein übergriffiger Mensch

Wellinski: Dieses Verhältnis zu Viktor, ihrem Sohn, der ein Konzertpianist geworden ist mit großen Ambitionen, er komponiert selbst, er möchte dieses selbstkomponierte Stück zum ersten Mal aufführen. Das versucht der Film, in einer Art Reihe von Begegnungen zu ergründen. Aber Sie, so hatte ich jedenfalls das Gefühl, versuchen nicht, groß zu psychologisieren, wie Lara das geworden ist, was sie ist.
Ich würde gerne über eine Szene sprechen, die das schön gefasst hat. Das ist der Moment als Lara in ihre alte Musikschule geht. Da sitzt ein kleiner Junge am Klavier, der Lehrer ist gerade rauchen, eigentlich will sie ihn treffen. Dann sagt sie: Ja, wenn du schon hier sitzt, dann spiel mal etwas, Dann spielt er, und sie fängt an zu klatschen und ihm den Rhythmus vorzugeben. Ohne dass Viktor da ist, weil das ist gar nicht ihr Sohn, sehen wir trotzdem die Mutter und den Sohn, wie das einmal war. Ist das Laras Problem, dass sie anderen Menschen einen Rhythmus aufdrängen wollte, den sie selbst irgendwie nicht spielen konnte?
Gerster: Die Szene zeigt Blasž‘ Talent als Autor, weil sie hat die Qualität einer Rückblende, aber ist in Wahrheit keine. Es fällt einem auch nicht schwer, sich vorzustellen, wie das womöglich mit ihrem eigenen Sohn ausgesehen hat damals. Ich glaube, Lara ist, wenn die Pferde so mit ihr durchgehen, schon ein recht übergriffiger Mensch, wie man in dieser Szene auch erfährt.
Ich weiß nicht, wie es mit anderen Menschen ist, man erfährt auch ein bisschen was über ihr Berufsleben in der Behörde. Ich habe tatsächlich mit Corinna Harfouch nicht versucht, zu psychologisieren. Corinna kommt vom Theater, ihr reicht, was der Text vorgibt, und vertraut darauf, dass alles, was gesagt werden muss, auch in diesem Text steht. Das ist eine Herangehensweise, die mir auch liegt und die mir gefällt. Wir haben uns dann mit dem beschäftigt, was das Drehbuch hergibt - das war zum Glück viel. Dass sie anderen einen Rhythmus vorgibt, sie ist übergriffig, so würde ich sie beschreiben: Als eine Frau, die, wenn das Temperament mit ihr durchgeht, doch irgendwie sehr zwanghaft und übergriffig sein kann.
Wellinski: Sie ist auch als Kinofigur, vor allem für das deutsche Kino, ein bisschen eine Ausnahme, weil sie auch unsympathisch ist. Man legt im deutschen Kino schon sehr viel Wert drauf, dass die Hauptfigur zumindest sehr sympathisch ist. Wie faszinierend ist das für einen Regisseur, so eine Figur, die in jeder Szene präsent ist, über einen Film zu verfolgen. Und wie sehr muss man widerstehen, zu sagen, ein bisschen Sympathie muss ich doch noch überhelfen?
Gerster: Das ist natürlich der eigentliche Reiz an dieser Figur, dass sie widersprüchlich ist, dass sie hin und wieder manipulativ und niederträchtig ist, dass sie nicht sehr zugänglich ist. Trotzdem war die große Herausforderung, den Schmerz, die Verletztheit und auch die Enttäuschung dieses Menschen sichtbar zu machen. Ich fasse das Kino so auf, dass es immer wieder darum geht, das zu ergründen, was uns als Menschen ausmacht – und das kann nicht nur bedeuten, dass es immer nur um sympathische Figuren gehen kann. Ich glaube aber auch, dass man diese Zugänge schaffen und erzählen muss, um einer Figur nahezukommen. Das war der Anspruch, den wir an die Geschichte hatten.

Westberlin als Schauplatz

Wellinski: Corinna Harfouch spielt Lara, sie ist Lara, es ist ein gigantischer Auftritt. Warum ist sie die perfekte Lara?
Gerster: Sie ist die perfekte Lara für mich persönlich gewesen. So langsam kristallisiert sich heraus, dass das auch andere so sehen, weil sie bekommt ein ganz gutes Feedback für diese Rolle. Ich habe sie vor vielen Jahren im Theater gesehen in einer Inszenierung von Jürgen Gosch, "Die Möwe". Da spielt sie übrigens auch schon eine leicht narzisstisch gestörte Mutter, die sich an ihrem armen Sohn abarbeitet, der, glaube ich, Schriftsteller werden möchte oder Stückeschreiber. Da hatte ich eine regelrechte Corinna-Erleuchtung, ich saß da relativ weit vorne in der fünften Reihe und dachte, das ist der absolute Wahnsinn, was diese Frau macht. Ich kannte sie natürlich schon jahrzehntelang aus Kino und Fernsehen, aber da war ich verzaubert und es entstand der Wunsch, irgendwann mal mit Corinna Harfouch zu arbeiten.
Als mir dann dieses Drehbuch in die Hände fiel, war das schon ab Seite eins oder zwei klar, da erschien sie vor meinem geistigen Auge als Lara – dann war ich auch nicht mehr davon abzubringen. Ich habe das fast so ein bisschen von ihrer Zusage abhängig gemacht, ob ich den Film mache oder nicht.
Vielleicht war ich da auch ein bisschen zu rigoros wie so ein trotziges Kind: Ich will das nur mit Corinna machen. Aber es kam auch gar nicht zum Äußersten, weil Corinna hat das Buch dann bekommen, ich habe es ihr über die üblichen Wege zukommen lassen, habe noch einen netten Brief dazu geschrieben. Dann haben wir uns getroffen und am Ende dieses Treffens war dann klar, dass wir das zusammen machen.
Wellinski: Der Film spielt fast ausschließlich in Westberlin. Das Konzert findet auch in der City West statt. Wie wichtig war Ihnen das. Ich hatte das Gefühl, dass die Locations schon auch sehr viel über Lara und ihre Umwelt aussagen, aber nicht nur.
Gerster: Ja, der Film spielt in Charlottenburg. Es war trotzdem wichtig, dass sie da nicht so mittendrin wohnt, sondern dass das etwas ist, was sie so ansteuert und auch so eine kleine Strecke zurücklegen muss. Wir haben ihre Wohnung am Hansaplatz im Oscar-Niemeyer-Hochhaus gefunden. Ich habe die kleine Stadt in der großen gesucht. Wenn man das Buch gelesen hat, dann war schon klar, dass das kein Film für ein Graffiti-Kreuzberg ist.
Ich habe eher nach einem bildungsbürgerlichen Ambiente und einem fast bundesrepublikanischen Flair gesucht. Orte, die ein bisschen stehengeblieben sind, die eben das Zeitlose, was die Geschichte meiner Meinung nach mitgebracht hat, auch ein bisschen unterstreichen.
Naturgemäß hat sich der Osten natürlich viel stärker gewandelt als der Westen, wo es so Orte gibt wie die Paris-Bar, das Rogacki, das Theater des Westens. Orte, die einfach immer noch so aussehen wie vor 20 oder 30 Jahren – auch wenn sich da grade viel tut. Aber dennoch hat es immer noch diesen ganz besonderen, eigenen Flair.

Klarheit bei den Bildern

Wellinski: Ich hatte das Gefühl, dass die Architektur gerade dieser Orte in Berlin auch so ein bisschen die Architektur des Films vorgibt. Das Oscar-Niemeyer-Hochhaus beispielsweise. Mir kam es so vor, dass Lara selbst so eine Art Bauhausprojekt ist - sehr rational, effektiv, streng mit sich selbst, streng mit der Umwelt. Auch die Bildgestaltung ist es, das Bild ist schon da, dann kommt Lara erst rein. Das unterscheidet sehr stark die Art und Weise, wie Sie mit Bildern in "Oh Boy" gearbeitet haben.
Gerster: Ich glaube, da sind zwei Dinge zusammengekommen. Ich habe doch als Filmemacher die Sehnsucht nach Purismus, schlichter Schönheit. Ich mag es nicht, wenn sich so unmotiviert die Kamera von links nach rechts bewegt, irgendwie suche ich doch eine Klarheit in den Bildern. Vor allen Dingen in einer Zeit, wo mit der Kamera alles möglich ist und jeder Werbespot eine entfesselte, bewegte Kamera hat, ist mein Anspruch an Bildsprache etwas, was wieder in eine Reduktion geht.
Das passte sehr gut zur Figur, die, wie du schon sagtest, auch eine Strenge mit sich bringt und auch gefangen ist in ihrer Sicht auf die Dinge. Deswegen ging das ganz gut zusammen mit unserer Idee, den Film in statischen Bildern zu erzählen, die Kamera nie zu bewegen und damit so eine hermetische, fast abgeriegelte Welt zu erzählen, was dem Film ganz gut tut, aber nicht für alle immer von Vorteil war oder für Begeisterung gesorgt hat.
Das heißt zum Beispiel für die Schauspieler, dass die Kamera keinen Impulsen folgen kann, man setzt damit natürlich auch klare Grenzen, indem man sich als Schauspieler so bewegen kann. Aber auch das hat irgendwann gut funktioniert, weil Grenzen auferlegen manchmal der Kreativität ganz gut tut. Wenn man dann erst einmal die Spielregeln festgelegt hat, dann macht es auch Spaß, darin Lösungen zu finden.
Wellinski: Sie erzeugen damit auch das Bild eines Milieus: Wir haben die klassische Musik, wir haben Westberlin, Bürgertum. Macht sich "Lara", der Film, über das Bürgertum lustig und die Codes dieses Milieus oder ist er selbst Teil dieses Milieus?
Gerster: Weder noch. Ich würde sagen, es handelt von einer Frau, die gerne sich in diesem Milieu bewegen würde. Sie ist nun mal Beamtin geworden und hat sich ganz anders entschieden, aber sie würde doch, glaube ich, gern sich in dieser Welt bewegen und sucht sie immer wieder auf. Ich glaube nicht, dass wir einen denunziatorischen Blick auf diese Welt haben, das würde ich mir gar nicht anmaßen. So gut kenne ich mich in dieser Welt auch nicht aus, als dass ich da irgendwelche Kommentare machen könnte in die eine oder andere Richtung.
Seit geraumer Zeit entdecke ich die klassische Musik mehr und mehr für mich, bin aber weit davon entfernt ein Experte auf dem Gebiet zu sein. Der Film war eine gute Möglichkeit, mich ein bisschen mehr hineinzubegeben, zu recherchieren. Ich bin viel in Konzerten gewesen, habe auch die Darsteller mitgenommen, wir haben mit Musikern und Pianisten über Werdegänge und gesprochen. Wie gesagt, um einen ironischen Blick drauf zu werfen, müsste man viel mehr und viel gefestigter in dieser Welt unterwegs sein, weil diese Codes, die du ansprichst, die sind mir alle gar nicht so richtig bewusst.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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