Feuriger Ritt durch die Welt des Körpers

02.09.2013
Uralte Mythen, Sehnsüchte und Tabus durchwirken bis heute unser Denken vom menschlichen Körper. Das neue Buch des Briten Hugh Aldersey-Williams folgt dieser Spur. Es geht um Fleisch, Blut, Füße, Ohren, Haut und Knochen. So manche Passage eignet sich nicht als Lektüre beim Essen.
Im Jahre 1888 fotografierte die Londoner Polizei die Augen der übel zugerichteten Mary Jane Kelly, einem Opfer von "Jack the Ripper". Die ansonsten nüchtern agierenden Ermittler hofften allen Ernstes, auf diese Weise ein Konterfei des Mörders zu erhalten - denn bewahren die Augen eines Menschen nicht seinen letzten Anblick?

Wenn es um unser leibliches Selbstverständnis geht, verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart. Uralte Mythen, Sehnsüchte und Tabus durchwirken bis heute unser gesamtes Denken vom menschlichen Körper. Dieser Spur folgt das neue Buch "Anatomien" des Briten Hugh Aldersey-Williams - ein prächtig-bunter Blumenstrauß des nützlichen und des lustvoll-zweckfreien Wissens. Shakespeare-Dramen, mittelalterliche Medizinlehrbücher, Kriminalfälle der Vergangenheit und die Kinowelt von heute - bei Hugh Aldersey-Williams passt das alles satt und rund auf eine Seite Buch.

Es geht um Fleisch, um Blut, um Füße, Ohren, Haut und Knochen und so manche Passage eignet sich nicht dazu, zeitgleich mit Frühstück oder Mittagessen goutiert zu werden. Im Kapitel "Magen" etwa ist die Rede von William Buckland, geboren 1784. Der hoch angesehene englische Kleriker hatte es sich zur Aufgabe gemacht hatte, jedwede Fleischsorte zu probieren. An Igel tat er sich gütlich, Krokodil, Panther, Nacktschnecke und Welpe. Seinen Gästen kredenzte er "Mäusetoast", und als man ihm in einer Kathedrale dunkle Flecken auf dem Fußboden zeigte, kniete er nieder, leckte die Stelle ab und entschied fachmännisch, es keineswegs mit Märtyrer-Blut, sondern mit simplem Fledermaus-Urin zu tun zu haben. An anderer Stelle berichtet der Autor detailreich von den Transplantationsexperimenten frühneuzeitlicher Anatomen. Wenn reiche Leute Zahnersatz brauchten, kidnappte man die Kinder der Armen, riss ihnen die eben gewachsenen zweiten Zähne aus und pflanzte sie um. Nicht moralische Einkehr, sondern die Furcht vor Syphilis beendete solchen Kannibalismus.

Hugh Aldersey-Williams meidet ausgetretene Pfade wie der Teufel das Weihwasser und liebt die originelle Anekdote - was bei ihm nicht eine Sekunde gewollt wirkt oder angestrengt. Leichtfüßig, neugierig, vorurteilsfrei durchstreift er die endlosen Weiten naturwissenschaftlichen und kulturgeschichtlichen Wissens. Nur die erstaunlichsten und beeindruckendsten Recherchefrüchte trägt er seinem Publikum herbei. Obgleich lexikalisches Standardwissen den Autor offensichtlich nicht interessiert, schäumt er unter seine luftig-frischen Texte doch auch eine Menge höherer Bildung, erklärt die physiologischen Grundlagen der Organfunktionen, die Etymologie medizinischer Begriffe und die Geschichte der Anatomie.

Erstaunlich leise und offen lässt der Autor seinen feurigen Ritt durch die Welt des Körpers verklingen. Erbgut-Manipulation, denkende Maschinen, ehrgeizige Experimente, den Geist vom "Körpergefängnis" zu lösen, sind das Träume, die das Leben verbessern? Oder verneinen sie es?

Besprochen von Susanne Billig

Hugh Aldersey-Williams: Anatomien - Kulturgeschichten vom menschlichen Körper
Aus dem Englischen von Christophe Fricker
Hanser Verlag, München 2013
358 Seiten, gebunden, 24,90 Euro