Festnahmen in Russland

Der Kreml macht gewaltige Fehler

Polizisten führen jugendliche Demonstranten bei einer uangemeldeten Demonstration in der Tverskaya Straße in Moskau ab (12.06.2017)
Moskau, 12. Juni 2017: Die Polizei führt jugendliche Demonstranten ab. © picture alliance / Sergei Savostyanov/TASS/dpa
Von Thielko Grieß · 17.06.2017
Mit zahlreichen Verhaftungen hat der russische Staat auf die Proteste reagiert, die am vergangenen Montag überall im Land stattfanden. Die russische Machtelite übt sich in demonstrativer Kraft-Rhetorik - doch dem Kreml unterlaufen gewaltige Fehler.
Nach einem landesweiten Protesttag im März und jetzt im Juni geht Russland nun mit einem Unentschieden in die Sommerpause. Die Sicherheitskräfte waren diesmal vorbereitet, als viele Junge auf eine der zentralen Straßen in Moskau und einen großen Platz in Sankt Petersburg strömten, als mal hunderte, mal tausende Menschen in fast 190 Städten des ganzen Landes in Sprechchören und auf Plakaten lautstark Antworten verlangten: Antworten auf ihre Korruptionsvorwürfe, hinter denen ein tiefsitzender Frust über grundsätzliche Dysfunktionalitäten des Landes steht.
Denn die Schüler wissen nur zu genau, worauf sie ihr Schul- und Universitätssystem kaum vorbereitet: Auf die Teilnahme an einem internationalen Arbeitsmarkt, an einer internationalen, mobilen, mehrsprachigen Gesellschaft. Die kennen sie aus dem Netz – doch Lehrpläne, viele angepasste Lehrer und die Bildungsministerin halten es nicht für nötig, das Land geistig zu öffnen. Hoch lebe Russland. Und nur Russland.

Teile der Machtelite werden nervös

Und doch: Teile der Machtelite sind nervös geworden, was an der Wortwahl einiger wichtiger Köpfe abzulesen ist. Ein bekannter Fernsehmoderator, der seit Jahren das Lied des Kremls in treuer Ergebenheit singt, spricht im staatlichen Radio von "Abschaum" und "Wanzen", die zerdrückt werden müssten. Sie seien eine Schande für Russland.
Der Pressesprecher einer großen Kommunikationsgesellschaft nennt die jungen Leute in einem Tweet "Degenerierte". Die Adressaten dieses lupenrein totalitären Sprechs waren bislang meistens sogenannte Nationalisten in der Ukraine oder die ewigen Feinde in den USA. Seit Anfang dieser Woche aber beziehen sie sich auf die demonstrierenden Jugendlichen und Studierenden des eigenen Landes. Das Überraschende ist: Die russische Gesellschaft hat sich an derlei Scharfmacherei schon so gewöhnt, dass eine große Mehrheit nur noch mit den Schultern zuckt.

Der Kreml macht sich zum Gespött

Doch in ihrer Stimmung, die zwischen Selbstgerechtigkeit und sich überschlagenden Angriffen auf die Jugendlichen wechselt, machen die Sprachrohre des Kremls gewaltige Fehler: Sie unterschätzen, wie sehr sie sich zum Spott der Generation machen, deren demonstrierenden Teil sie baldigst gern zerdrückt sähen. Das haben die Mitarbeiter des Oppositionellen Alexej Nawalny rasch erkannt und reagieren darauf so schnell, wie es das Netz erlaubt.
Sie ironisieren die Selbstherrlichkeit der Herrschenden und bündeln so mit klugem Widerspruch die Wut der Jungen. Das Antwort-Video auf den Wanzenvergleich hat am ersten Tag mehr als eine Million Klicks generiert. Darauf, auf Ironisierung und Demaskierung der Macht im Netz, haben die Machthaber keine Antwort gefunden. Dabei haben sie es ja leidlich versucht:

Einfältige Pop-Songs statt Dialog mit der Jugend

Mit musikalisch einfältigen Pop-Songs, die davon singen, Schüler gehörten in die Schule und nicht auf die Straße. Mit Videos, die Nawalny als Nazi-Führer verunglimpfen. Abstimmungen per Klick sind so nicht zu gewinnen. Vermutlich wird sich der Apparat unter Führung des früheren KGB-Agenten Putin anderer Methoden bedienen, die er beherrscht: Gerichtsurteile, Infiltration der Protestgruppen und Verunglimpfung. Für all das gibt es reichliche Vorbilder aus der Sowjetunion. Es ist möglich, dass Köpfe wie Nawalny auf diese Weise aus dem Weg geschafft werden. Aber dass sich diese Generation damit wieder einfangen lässt, ist unwahrscheinlich.

Die Angst des Kremls vor schlechter Presse

Dann blieben den kontrollversessenen Regierenden noch zwei Register, die zu ziehen sie die Macht besitzen. Sie können die Gewalt auf der Straße eskalieren und die jungen Leute blutig einschüchtern, und sie können den Raum schließen, in dem sie in diesen Wochen alt, technokratisch und als von vorgestern aussehen: die sozialen Netzwerke. Dann gäbe es kein Unentschieden mehr zwischen Staatsmacht und außerparlamentarischer Opposition.
Es könnte sich als ein Glück für die Protestierenden herausstellen, dass solche Schritte viel schlechte Presse und vielleicht sogar schreckliche Bilder produzieren würden. Denn das käme der russischen Führung ungelegen, ist sie doch auf ihr weltweites Image bedacht und will erst einmal niemanden provozieren. Schon gar nicht, solange der "Confed Cup" und die Fußballweltmeisterschaft bevorstehen. Putin wollte diese Turniere haben und hat sie bekommen – nun bekommt so das politische Spiel in Russland reichlich Nachspielzeit. Mindestens bis zum nächsten Sommer. Irgendwann aber muss einer gewinnen.
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