Festival "Pop-Kultur" im Netz

Pralles Musikfernsehen statt Streaming-Wüste

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Der geschminkte und stark tätowierte Bassist von "Eat Lipstick" performt neben der Sängerin auf einer blau angestrahlten Bühne.
Auch auf dem "Pop-Kultur"-Festival zu sehen: Der Disco-Punk von "Eat Lipstick". © Camille Blake
Von Tobi Müller · 26.08.2020
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Seit fünf Jahren gibt es das Musikfestival "Pop-Kultur" in Berlin. In diesem Jahr findet es wegen Corona online statt. Das machen zwar alle, aber niemand so gut wie "Pop-Kultur", sagt Musikkritiker Tobi Müller.
Die Leitung des Berliner Musikfestivals "Pop-Kultur" hat sich früh für eine radikal distanzierte Variante entschieden. "Wir wollten nicht auch noch in eine leere Halle streamen. Das ist immer so traurig", sagt Festivaldirektorin Katja Lucker, die zudem die Berliner Popbehörde "Musicboard" leitet.
"Wir wollten eine Variante, die safe ist, und haben uns dann entschieden, alles zu drehen und zu produzieren", so Lucker.
Statt Konzerte in Livestreams vor einem Schwundpublikum sehen wir nun auf der Internetseite an jedem Festivaltag neue audiovisuelle Produktionen aufgeschaltet, die danach kostenfrei abrufbar bleiben. Es sind 36 Beiträge, die zum Teil in einstündigen Tagesshows zusammengefasst sind.

Von Sessions bis Gesprächsrunden

Es gibt die "Sessions", in denen Bands zwei oder drei Stücke in den Räumen der Kulturbrauerei in Berlin unter Live-Bedinungen aufführen, aber ohne Publikum. Es gibt die "Digital Works", in denen internationale Künstlerinnen und Künstler sich eigene Formate überlegen, zum Teil als Kollaborationen über Kontinente hinweg.
Und es gibt die "Commissioned Works", regelrechte Auftragsarbeiten, die Erzählformen finden, die über Konzerte und Musikvideos hinausgehen. Wie immer finden auch Gesprächsrunden statt, die nun eben schon stattgefunden haben.
Und: Die Website, das ist nicht selbstverständlich im Popbereich, informiert umfassend, ist gut getextet und bietet auch zusätzlichen Content zu einzelnen Künstlerinnen und Künstlern.
Man traut seinen Augen und Ohren nicht: Das ist Musikfernsehen, wie es so noch nie gab und erst recht nicht mehr gibt, auf keinem Sender. Es sind zum Teil aufwendig produzierte, schicke und knallende Videos, etwa von der südafrikanischen Rapperin Yugen Blakrok, der deutschen Musikerin Preach oder der Israelin Noga Erez, die sogar einen narrativen Kurzfilm produziert hat.

Keine simulierten Konzerte

Aber man sieht auch klassischere Bandaufnahmen wie von The Notwist, The Düsseldorf Düsterboys oder Isolation Berlin, alle aus Deutschland – das sind konzertante Miniaturen, die sich aber ganz auf die Musik richten und gar nicht erst versuchen, ein Konzert zu simulieren, das wir dann umso mehr vermissen, weil wir es ja doch nicht erleben können.
Sehr hübsch sind auch ungewöhnliche Häppchen, etwa von der kanadischen Musikerin Jessy Lanza, die zu Hause am Keyboard sitzt, singt und dabei zwei ihrer Lieblingscovers vorstellt und musikalisch erklärt, was in den Akkorden da so los ist - hinreißend!
Und der reine Spaß kommt nicht zu kurz, etwa bei der reifen Transvestitenband Eat Lipstick, die von Peaches produziert wurde: Wir sehen die Band kurz Backstage herumalbern, dann rocken sie los auf der Bühne, als wäre es 1972 und der Glamrock stünde in den Charts – herrlich!

Jung und trotzdem erwachsen

Zu guter Letzt: Die drei zusammenfassenden Shows, die lokalen Sessions und vieles andere sind toll produziert. Sie klingen gut, und sie sind angenehm geschnitten, also nicht zwingend dem ADHS-Prinzip folgend, das selbst öffentlich-rechtliche Anstalten gerne bemühen, wenn sie denken, dass ihr Publikum nicht länger als 8 Sekunden folgen kann.
Hier sieht es aus wie Musik für Erwachsene, nur dass in diesem Programm auch viele junge Künstlerinnen und Künstler zu sehen sind und sogar zu Wort kommen.
Das alles muss dem Festival jetzt jemand nachmachen, das ist eine Benchmark dafür, wie man im Krisenjahr ein Festival durchführt, wenn man die Mittel dazu hat und gewillt ist, sie unter pandemischen Bedingungen anders einzusetzen.
Wir freuen uns alle auf reguläre Festivals. Bis dahin ist das eine Zwischenlösung allererster Güte: nicht halbdigital in halb leeren Räumen mit traurigen Gesichtern, sondern voll und kräftig in jenem Format, mit dem wir vorerst leben müssen.

Pop-Kultur 2020
26.8.-28.8.2020

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