Festival d’Aix-en-Provence

Auf Nummer sicher gegangen

Touristen laufen durch die Altstadt von Aix-en-Provence, aufgenommen am 24.09.2009. Aix-en-Provence war urspr
Die Altstadt von Aix en Provence: Hier fand das Festival zum 68. Mal statt © Waltraud Grubitzsch
Von Frieder Reininghaus · 02.07.2016
In diesem Jahr gab es beim Festival d'Aix en Provence Mozart, Händel und Debussy zu sehen und zu hören. Diese Auswahl tut niemandem weh, wurde aber wenigstens sehr versiert umgesetzt.
Im vergangenen Jahr gab es beim Festival d’Aix en Provence Ärger und Zensureingriffe: Martin Kušejs aktualisierende Inszenierung der "Entführung aus dem Serail" (mit Osmins Rache-Arie "erst geköpft und dann gehangen") wollte zeigen, wie sie von religiösen Fanatikern abgeschnitten werden. Um Wiederholungsfälle zu vermeiden, schien Festivaldirektor Bernard Foccroulle in diesem Jahr auf Nummer sicher gehen zu wollen.
Er verpflichtete ausreichend dunkelhäutige Statisten und auch ein paar aus dem Orient stammende Musiker, um den Willen zu französischer Multikulturalität zu unterstreichen. Vor allem aber setzte er Stücke an, in deren Libretti es um die Liebe und nichts als das privateste Begehren geht: Zum Auftakt die aus der Rokoko-Zeit herrührende Binnenbeziehungskiste "Così fan tutte" von Lorenzo Da Ponte, dann mit "Il trionfo del Tempo e del Disinganno" von Benedetto Kardinal Pamphilj ein moralphilosophisches Lehrstück aus dem Rom des Jahres 1707 und als dritten, gewichtigsten Hauptstreich Maurice Maeterlincks in mittelalterlichen Burgmauern eingefasstes drame statique "Pelléas et Mélisande".
Wie selbstverständlich schmiegt sich die Tonspur unter die imposante Bühneninstallation. Mit leichter Hand und sicherem Gespür für den diskreten Charme der "klassisch modernen" Klang-Lineaturen und -flächen administriert Esa-Pekka Salonen das aus London angereiste Philharmonia Orchestra. Da ist alles im Fluss und im richtigen Lot. Es ist wie perfekte Filmmusik zu den Einblicken in das moderat modern verbürgerlichte Schloss des mythischen Königs Arkel. Die Choreographie der Sichtblenden sorgt dafür, dass von Lizzie Clachens Bühnengebäude fast immer nur ein einzelner Raum zu sehen ist, während anderweitig umgebaut wird.

Die Facetten der Stimme leuchten die Gemütslagen aus

Nicht am Brunnen im tiefen Wald, sondern im Brautkleid und anfangs hingestreckt aufs breite Bett schickt sich Mélisande zum Träumen an. Sie geht dann aber noch einmal rasch ins Badezimmer nebenan. Indem sie zurückkehrt, bemerkt sie (und das Auditorium) den dichten Wald, der übers Bett gewachsen ist. Auch den Brunnen, der sich vorm Fußende aufgetan hat und den auf der Jagd vom Weg abgekommenen Golaud im Sessel. Der Macht- und Triebmensch, stimmlich wie darstellerisch von Laurent Naouri bestens beglaubigt, annektiert die wortkarge und hinsichtlich ihrer Wünsche schwankende Mélisande. Er macht sie kurz entschlossen zu seiner nächsten Frau.
Barbara Hannigan nutzt die Partie des Weibchens, das immer nicht weiß, wie ihm wird, für sensationelle Auftritte mit faszinierender Bühnenpräsenz. Die Facetten der Stimme leuchten die Gemütslagen aus und die von der Regie auferlegten Bodenturnübungen unterstreichen, was der empfindsamen Seele angetan wird. Mehr noch die Doubles, die für sie, den gewalttätigen Ehemann und dessen verklemmt-sensiblen Halbbruder und Haupthelden aufgeboten werden. Die Rolle des Träumers und Frauenverstehers Pélleas ist mit dem in Tenor- und Bariton-Partien gleichermaßen versierten Stéphane Degout optimal besetzt.
Katie Mitchells Absicht war es, das Publikum an der Sichtweise teilhaben zu lassen, auf die die anderen singenden Personen der geschlossenen Versuchsanordnung ihre Projektionen richten – und Mélisande träumt, traumwandelt, durchsingt, erklettert und durchturnt diese Kopfgeburt. In den größeren und kleineren Schlaf-, Ess- und Wohnzimmern, den Ankleidekammern und Treppenhäusern, am leergepumpten Swimmingpool und im tiefen Keller. Die Dreiecksgeschichte, in der sich Gut und Böse in schlichter Familiarität gegenüberstehen, fragt immer wieder nach der Wahrheit. Das kommt in verlogenen Verhältnissen allemal besonders gut und hat keinen wirklichen Preis. Die provençalische Festspielproduktion ist für den Export nach Polen und Peking geeignet.

Eine zweitausend Jahre alte Fabel

Zwischen Mozart, Händel und Debussy wurde eine Kammeroper eingeschaltet: "Kalîla wa Dimna" – opéra en arabe et français. Ein neues Stück, zugeschnitten auf (menschheits)kindliches Gemüt – eine palästinensische Bearbeitung von zweitausend Jahre alten Fabeln. Der aus dem Gaza-Streifen stammende Komponist und Sänger Moneim Adwan bestritt die Partie des verräterischen Aufsteigers Dimna selbst. Er arrangierte eine gut goutierbare arabische Pop-Musik zur Geschichte vom willensschwachen, von der Mutter gelenkten König. Der freundet sich erst mit dem Intriganten Dimna an, dann mit dem Sänger Chatraba, lässt den naiven Liedermacher aber umbringen.
Eingelagert in dieses Märchen aus besseren orientalischen Zeiten findet sich die Fabel der Raubtiere, die reihum anbieten, sich angesichts einer Hungersnot zum Fraß zu opfern – bis auch das dumme Kamel dies tut. Möglicherweise ließe sich aus diesem gutgemeinten Kinderstück ein Musiktheaterabend kreieren, der so etwas wie einen heutigen "Fürstenspiegel" entwickelt. Olivier Letellier lieferte eine Produktion, die sämtlichen Zensurgeboten der Machthaber von Abu Dhabi gehorcht und eben das nicht probiert, was es auszuloten gälte. So erweist sich die vorsätzlich entpolitisierte Theaterkunst als mithin politisch instrumentalisiert – auf eine ziemlich faule Art. Wahrheitserkundung hinsichtlich der Willkür von Machthabern sieht anders aus.
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