Fernanda Melchor: "Saison der Wirbelstürme"

Von Drogenkriminalität, Alltagselend und Aberglauben

06:19 Minuten
Cover des Buches "Saison der Wirbelstürme" von Fernanda Melchor. Im Hintergrund acht Kreuze an einem Ort in Ciudad Juarez, Chihuahua, an dem 2001 acht Frauen ermordet worden waren.
Fernanda Melchors "Saison der Wirbelstürme" - eine Geschichte, wie sie in Mexiko jeder kennt. © Vordergrund: Wagenbach-Verlag / Hintergrund AFP/Jorge Uzon
Von Katharina Döbler · 13.06.2019
Audio herunterladen
Der zweite Roman von Fernanda Melchor spielt in einem lateinamerikanischen Dorf voll verlorener Seelen, in dem Niedrigkeit und Gewalt herrschen. Liebe klingt hier nach Pornografie, Hoffnung nach Werbespot - eine Geschichte von fürchterlicher Eindringlichkeit.
Das Dorf La Matosa liegt zwischen endlosen Zuckerrohrfeldern und einer großen Landstraße, die von den Erdölfeldern in Palo Gacho zum Hafen führt. Es ist eine Ansammlung von windigen Häusern, Baracken, Bordellen und Kneipen – ein Ort, an dem Arbeiter und Fahrer von Öltransportern ihren Lohn auf den Kopf hauen. Die Einwohner sind arm und abergläubisch, junge Männer versumpfen in Drogen und Alkohol, Mädchen werden mit Schlägen auf dem Weg der Tugend gehalten, mit wenig Erfolg.

Rätselhafte Hexe

Und dann ist da die Hexe, die alle kennen. Mit ihr beginnt dieses Buch, genauer gesagt mit ihrer halb verwesten Leiche. Die Vorgeschichte des Mordes an dieser rätselhaften und Furcht einflößenden Person erschließt sich nach und nach aus den Erzählungen der Leute von La Matosa: einer halbwüchsigen Nachbarstochter, einem verkrüppelten Alkoholiker, einer schwangeren 13-Jährigen und einem nicht viel älteren Kleinkriminellen.
Die Sprache dieser Leute ist so wüst wie ihr Dorf und ihre Seelen: Flüche, Anrufungen, Wutanfälle, Anklagen und verbale Entgleisungen, die Frauen oder Schwule oder Feiglinge erniedrigen – und die Sprechenden selbst am allermeisten. Es ist eine Sprache der Niedrigkeit und der Gewalt, geschrieben ohne einzigen Absatz, atemlos, wie im Affekt – und doch eine literarische Kunstsprache, die nichts dem Zufall überlässt.
Liebe klingt hier nach Pornografie, Hoffnung nach Werbespot, und die eingestreuten Fetzen sentimentaler Lieder lassen alles noch schärfer und böser klingen. Es ist eine Meisterleistung der Übersetzerin Angelica Ammar, diese eigentlich unübersetzbaren Wortkaskaden in ein Deutsch von ähnlich fürchterlicher Eindringlichkeit gebracht zu haben.

Verfremdung der Realität

"Saison der Wirbelstürme" ist der zweite Roman der Journalistin und Autorin Fernanda Melchor, geboren 1982 in Veracruz. Es ist das erste ihrer Bücher, das auf Deutsch erscheint – abgesehen von einer literarischen Reportage, die 2016 im Mittelamerikaheft von "Le Monde diplomatique" veröffentlicht wurde.
Crónicas nennt man solche Berichte aus der Wirklichkeit Lateinamerikas. Gabriel García Márquez, selbst Meister dieses Genres, hat diese Form mit seiner Stiftung für den journalistischen Nachwuchs nachhaltig gefördert. Mit ihren Crónicas wurde Fernanda Melchor bekannt. In dieser Form liegt auch der Ursprung dieses Romans: Der Stoff stammt aus einer Zeitungsmeldung, der die Autorin nachging.
Bei ihren Recherchen stieß sie auf ein explosives Geflecht aus wirtschaftlichen Interessen, Drogenkriminalität, Alltagselend, organisiertem Verbrechen und Aberglauben. Um nicht selbst in Gefahr zu geraten, machte sie einen Roman aus ihren Recherchen, so dass die realen Personen nicht zu identifizieren sind. Aber solche Geschichten kennt, zumindest in Mexico, jeder.

Fernanda Melchor: "Saison der Wirbelstürme.
Roman. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar
Wagenbach Verlag, Berlin 2019
240 Seiten, 22 Euro

Mehr zum Thema